Woher haben wir unsere Wahrheit?

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Jesus sagte zu ihm: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich. Joh 14:6

Woher nehmen wir eigentlich unsere Wahrheit?

Unsere natürliche Antwort ist sicher: aus der Bibel. Zu mindestens meine ist es.

Aber stimmt das?

4 Quellen unserer Wahrheit

Die Bibel ist mit Sicherheit eine der Quellen, aus der ich Wahrheit schöpfe. Sie ist immerhin das Wort Gottes. Sie fasst die Lehre zusammen, die Jesus, das wahre Wort Gottes, uns weitergegeben hat. Trotzdem ist im Namen der Bibel viel Schreckliches getan worden.

Die Bibel, welche ohne den Heiligen Geist gelesen wird, ist nichts anderes als ein interessantes Geschichtsbuch, gespickt von göttlichen und daher funktionierenden Prinzipien. Kann jemand von diesen Prinzipien profitieren, ohne an den Autoren der Bibel zu glauben, ohne sich von Heiligen Geist führen zu lassen bei der Interpretation des Geschriebenen? Sicher. Er kann diese Prinzipien und Aussagen aber auch aufs Schlimmste missverstehen und missbrauchen. Auch heute lassen sich viele Beispiele für solchen Missbrauch finden, aber ich möchte hier niemanden angreifen, darum ist es immer das Beste, Tote herhalten zu lassen. Denken wir mal an die Zwangsbekehrung von Juden in der spanischen Inquisition, die Hexenverbrennungen hier in der Schweiz, oder die Ersäufung von Täufern. Man könnte noch viele Beispiele anfügen.

Machen wir es persönlich. Als ich im katholischen Internat war, durfte ich in den Studienzeiten Aufgaben machen oder die Bibel lesen. Da ich meine Aufgaben schnell gemacht hatte – und, offen gestanden, oft auch darauf verzichtete, sie überhaupt zu machen –  hatte ich sehr viel Zeit, die Bibel zu lesen. Doch erst als ich mich bekehrte, wurde sie lebendig. Was vorher interessant war, wurde lebensverändernd. Was trocken war, spannend. Was verwirrend, machte Sinn.

Und trotzdem war mein Bibelverständnis nicht nur vom Heiligen Geist geprägt.

Das letzte Wort ist instrumental. Geprägt. Meine Prägung hatte und hat einen grossen Einfluss auf meine Auslegung der Schrift, mein Verhältnis zum Autoren der Schrift.

Tradition, mein Denken, Fühlen, Wollen, und meine Erfahrung fliessen in mein Verständnis, meine Auslegung der Bibel mit ein, ob ich will oder nicht.

Schubladendenken

Wir denken in Schubladen. Das heisst, wir kategorisieren, katalogisieren, systematisieren, gruppieren.

Die moderne Psychologie gibt uns Männern einen Freibrief in diesem Bereich. Unser Hirn sei so geschaffen. Wir legen unsere Informationen in Schubladen ab, und öffnen jeweils genau eine dieser Schubladen. Wenn ich fische, fische ich, und denke übers Fischen nach. Oder denke gar nicht nach. Denn alles andere ist in einer anderen Schublade. Um in eine der anderen Schubladen zu gelangen, müsste die Fischen-Schublade erst geschlossen werden, denn nichts aus verschiedenen Schubladen darf sich berühren. Darum fällt es Männern oft so schwer, ein Gespräch mit einer Frau zu führen. Frauen-Hirne verbinden alles mit allem, und sie sind Meister im assoziativen Quantensprung – von einem Thema zum anderen. Für uns Männer bedeutet das, ständig Schubladen auf- und zuzuklatschen, im Versuch, dem Gespräch zu folgen. Aber lassen wir nicht zu, dass wir daraus eine Ausrede konstruieren.

Die Griechen haben begonnen, das Detail über das Gesamte zu stellen, in Kategorien zu denken. Die Römer haben im Krieg ein Prinzip entwickelt, um besiegte Völker besser beherrschen zu können. Sie verstreuten und vermischten diese Völker untereinander.  Es war entweder Machiavelli oder Louis XVI, der dieses Prinzip divide et impera, teile und herrsche nannte. Doch kurz darauf, in der Aufklärung, begann man dieses Prinzip in der Wissensbeschaffung, der Wissenschaft, und der Problemlösung zu verwenden. Heute ist es das vorherrschende Prinzip in der Informatik: ein Problem wird in Teilprobleme unterteilt, und diese eines nach dem anderen gelöst.

Erst seit Kurzem gibt es einen Teil der Wissenschaft – ironischerweise – der sich mit einer holistischen, ganzheitlichen, systemischen Betrachtungsweise von Problemen auseinandersetzt, die Kybernetik. Schon die Hebräer betrachteten die Welt ganzheitlich. Eine biblische Betrachtungsweise also. Nicht das Kybernetik biblisch wäre – unterteilt sie doch weiterhin in mindestens zwei Kategorien: Fabel und Wissenschaft. Leider steckt sie im Allgemeinen Gott in die Schublade Fabel.

Nachschlagewerk oder Gesamtwerk

Die Bibel wurde bald nach ihrem Entstehen in Bücher, Kapitel und Verse unterteilt. Heute ist sie mehr ein Nachschlagewerk als ein fliessender Text. Schlag doch mal eine Bibel auf: mit all den Kapitel- und Versnummern, Überschriften und Anmerkungen, Querverweisen und Fussnoten mutet sie an wie ein Lexikon.

Vor allem Kapitel und Überschriften führen dazu, dass wir die Bibel oft abschnittsweise lesen. Eine griechische Vorgehensweise. Wertvoll, aber ergänzungswürdig. Themenorientiertes Lesen, aber auch das Lesen von ganzen Büchern der Bibel in einem „Schnurz“ können neue, ganzheitliche Einblicke gewähren.

Und trotzdem bleibt es dabei: unser Textverständnis wird von unserer Tradition, meiner Seele, und meiner Erfahrung gefiltert.

Und das ist nicht von Vornherein etwas Schlechtes.

Gott arbeitet mit uns und an uns

Gott hat sich entschieden, mit uns zusammenzuarbeiten. Obwohl die Bibel diesen Ausdruck nie explizit verwendet, ist das Prinzip durch die Handlungsweise Gottes klar ersichtlich. Er achtet den freien Willen eines Jeden. So sehr, dass er jemanden loslässt, gehen lässt, ja sogar ins Verderben rennen lässt, obwohl er ihn liebt. Natürlich nicht, ohne mit der Person darüber zu sprechen, und zwar auf allen Kanälen, auf denen es diese Person zulässt. Z.B. durch das Gewissen, sofern es nicht aktiv zum Verstummen gebracht wurde. Oder durch andere Menschen, sofern ein belehrbares Herz vorhanden ist. Er spricht – die Frage ist: hören wir?

Einen freien Willen zu haben, bedeutet natürlich auch, dass wir uns durch alles Mögliche prägen lassen, und andere auf alle möglichen Arten prägen. Das hat zur Folge, dass unser Hirn Filter und Assoziationen aufbaut, mit denen wir die Welt zu verstehen suchen. Und wieder sind wir bei den 3 Bereichen, die unser Textverständnis prägen: Tradition. Denken, Fühlen, Wollen. Erfahrung.

Unsere Tradition umfasst – im Bereich des Glaubens –  das Erbe unserer Väter. Dies im positiven wie im negativen Bereich. Unsere Väter haben für uns biblische Wahrheiten erkämpft und zu einem festen Bestandteil unserer Erwartungen werden lassen. Ein Beispiel gefällig? Kurz nach Azusa Street war es ein schwieriges und langwieriges Unterfangen, die Taufe des Heiligen Geistes zu empfangen. In den heutigen pfingstlichen Gemeinden ist es einfach: durch Bitten und Handauflegen. Warum? Wir glauben daran und erwarten ganz natürlich, dass Gott uns in dieser Weise beschenken möchte, während man vor hundert Jahren gegen eine Jahrhunderte lang andauernde Tradition ankämpfen musste. In den Köpfen steckte noch die alte Aussage: die Geistesgaben sind mit der Niederlegung der Schrift nicht mehr notwendig.

Unsere Tradition umfasst demnach auch Dinge, die überprüfenswert sind. Der Heilige Geist zeigt uns diese Dinge zu seiner Zeit auf – er erweist sich also auch in diesem Bereich als lebensnotwendiger Helfer. Leider antworten wir viel zu oft: das haben wir immer so gemacht. Oder unsere Brille lässt es nicht zu, etwas zu überdenken oder sogar zu verändern, da wir die Tradition als gut christlich empfinden. Hier hilft der Blick über den Tellerrand. Hier hilft es, andere Menschen um sich zu haben. Menschen des Vertrauens, welche Gottes Stimme hören, und durch ihre andere Vergangenheit, Tradition und Prägung einen anderen Blick haben können.

Mit dem Denken, Fühlen und Wollen ist es genau so. Paulus fordert uns im Römerbrief dazu auf, nicht dem Zeitgeist zu folgen, sondern unser Innerstes durch Gott verändern, neu prägen zu lassen. Unser Denken, Fühlen und Wollen seinem anzupassen. Schliesslich haben wir das Denken Jesu.

Kontaktlinsen umschleifen

Im Normalfall geschieht Folgendes:

Unsere Tradition, unsere Umwelt, und unser eigenes Handeln bestimmt unsere Erfahrungen. Diese bilden unsere Erfahrung. Zusammen prägen sie unser Schriftverständnis.

Paulus sagt uns eigentlich nichts anderes, als dass wir dies durchbrechen sollen. Umkehren sollen.

Die Schrift, die Beziehung zu Gott, der Heilige Geist sollen zur Quelle werden für unsere Erfahrungen und dadurch unsere Erfahrung. Diese sollen nun unsere Traditionen, unsere Umwelt, unser eigenes Handeln prägen.

Natürlich ist dies ein Prozess. Wir können uns das etwa so vorstellen: Wir haben eine Brille mit geschliffenen Gläsern. Diese muss umgeschliffen werden. Das geschieht Stück für Stück.

Wir lesen z.B. über ein Prinzip in der Bibel. Nehmen wir: Gott heilt, er ist unser Arzt. Unsere Erfahrung ist, dass dies nicht immer, ja kaum mehr der Fall ist. Diese wurde geprägt durch Verluste im eigenen Umfeld, aber auch durch die Tradition. Andere Menschen hatten die selben Erfahrungen gemacht, und die Lehre der Bibel entsprechend ihren Erfahrungen angepasst. Darum erwarten viele heute nicht mehr, dass Gott heilt. Und darum geschieht es auch nicht mehr, da der Kraftstoff, das Medium für Gottes Wirken in unserer Welt der Glaube ist. Wir fühlen uns bestätigt und halten an der Lehre fest, dass Gott höchstens manchmal heilt, wenn er will.

Der Heilige Geist kann und möchte uns aufzeigen, dass dies nicht stimmt. Jesus hat niemanden zurückgewiesen, der Heilung wollte – und er heilte sie alle. Halte ich nun an dieser Wahrheit fest und setze sie in meinem Leben um – das heisst, ich glaube nicht nur theoretisch daran, sondern bete für Menschen, welche Heilung benötigen – dann werde ich merken, wie sich mein Denken verändert, aber ich werde auch entsprechende Erfahrungen machen. Mein Fühlen verändert sich – die Menschenfurcht und Versagensangst nimmt ab, für andere zu beten – und mein Wollen verändert sich auch. Es wird mir ein Bedürfnis, dass andere Menschen das Geschenk der Heilung erhalten dürfen. Meine Brille wird umgeschliffen.

Eigentlich ist die bessere Analogie die der Kontaktlinse. Es braucht nämlich Nähe, eine persönliche Beziehung zu Jesus. Und es braucht den Kontakt zu Menschen, die mit Dir glauben. Mit Dir schleifen. Und zwar nicht nur an Dir, sondern die es auch zulassen, dass an ihnen geschliffen wird. Menschen also, die auch eine persönliche Beziehung zu Gott und anderen Menschen des Vertrauens haben.

Wir können es so sagen: ohne die Stimme Gottes zu hören, haben wir keine Möglichkeit, seine Prinzipien und Wahrheiten zu erkennen. Somit fehlt uns der Ausgangspunkt für eine göttliche Prägung, und wir sind gezwungen, auf andere Stimmen zu hören. Gott aber redet zu uns durch sein Wort, in der Zwiesprache – das nennen wir landläufig Gebet – und der Gemeinschaft mit anderen Menschen.

Bist Du bereit, geschliffen zu werden?

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