Schon sehr früh lernte der Mensch, dass er sich den Erwartungen anderer gemäss zu benehmen hatte. Das war entweder einfacher, verlockender, oder überlebenswichtig. Doch der Reihe nach.
Eine christliche Geschichte
Gott schuf den Menschen mit einem freien Willen. Er wollte, dass der Mensch sich dazu entscheiden konnte, ihm nachzufolgen. Dazu war es absolut unerlässlich, dass sich der Mensch eine eigene Meinung bilden konnte. Das hiess: er musste denken.
Der Gott dieser Welt sah darin seine Gelegenheit und versuchte den Menschen. Zum allerersten Mal unterwarf sich der Mensch einem Puppenspieler. Der Mensch wollte dazugehören, so sein wie Gott. Auf der anderen Seite wollte er selber entscheiden. Und so gab er das Denken auf und überliess es dem Feind. Manipuliert wie er war, hatte er sogar das Gefühl, selber entschieden zu haben. Und doch schob er die Verantwortung sofort ab.
Es war so viel einfacher, auf jemand anderen zu hören. Man musste nicht selber denken. Man musste keine Verantwortung übernehmen.
Eine frühe Geschichte
Als der Mensch noch Mammuts jagte, war es überlebenswichtig, dass jeder Mann seine Rolle spielte. Ohne die modernen Waffen war die Jagd noch ein Teamsport, ja viel mehr, Nahrungsbeschaffung durch Kooperation.
Wenn ich meine Rolle nicht brachte, hiess das im besten Fall, dass alle Hunger hatten—oder sich wieder einmal von den von den Frauen gesammelten Beeren ernähren mussten. Eines der ersten Worte, welches die Frauen lernten: gesund. Aber Fleisch war gut, nicht gesund.
Im schlimmsten Fall konnte ein Aussetzer meinerseits auch dazu führen, dass jemand verletzt wurde oder sogar starb.
Das Gleiche galt auch für Umgangsformen, Verhaltensmuster etc. Wenn ich meine Rolle nicht spielte, sah ich mich sehr schnell in der Rolle des Mammuts: gejagt. Oder mindestens ausgestossen. Ein Todesurteil.
Meine Rolle zu spielen war also überlebenswichtig. Wann immer ich aus dem Rahmen fallen wollte, erinnerte mich das Mammut daran, es nicht zu tun. Schliesslich wollte ich ja überleben.
Eine sich wiederholende Geschichte
Diese Geschichte überdauerte sowohl die Zeit im Garten als auch die Zeit in der Menschheitsgeschichte, da die Jagd im Stamm die einzige Überlebensstrategie war.
Für diese Geschichte möchte ich den Ausdruck prägen, dass wir das Mammut füttern, wenn wir gesellschaftlichen Erwartungen nachgeben.
Z.B. im Mittelalter. Der Begriff des Individuums war unbekannt. Es gab keine gesellschaftliche Entwicklung. Ich wurde als das geboren, was ich ein Leben lang sein würde: König oder Pöbel. Ich benahm mich besser meinem Stand entsprechend.
Doch ob wir nur von der mittelalterlichen Gesellschaft oder vom Kastensystem Indiens, von der Unterscheidung in Unternehmer und Arbeiter im 19. und 20. Jahrhundert oder von Klerus und Laientum in der Kirche sprechen—alles dasselbe.
Oder noch viel einfacher: der Gruppendruck in der Schule oder am Arbeitsplatz, im Freundeskreis oder in der Kirche zwingt uns genau so , Konventionen gemäss zu handeln, den Erwartungen gerecht zu werden.
Ich will dazugehören
Ich will dazugehören. Ein Grundbedürfnis des Menschen, früher überlebenswichtig, heute etwas weniger, da ich mein Essen heute durchaus allein einkaufen, zubereiten, und verzehren kann. Trotzdem ist der Mensch zur Gemeinschaft geboren.
Jede Gruppe hat ihre Regeln. Seien es ein Tattoo, welches die Zugehörigkeit belegt, oder der Mutbeweis, der am Anfang steht, die Krawatte, oder bestimmte Umgangsformen. Gewisse Dinge dürfen nicht getan oder gesagt werden, gewisse Kleider nicht getragen.
Doch nicht alle solche Verhaltensregeln gehen von der Gruppe aus. Zu oft nehme ich an, dass etwas von mir erwartet würde—bewusst oder unbewusst.
Wenn ich mich einer dieser meiner Verhaltensregeln entsprechend benehme, kann dies auch kontraproduktiv sein. Ist die Regel der Gruppe fremd, kann ich anecken. und meist verstehe ich dann die Welt nicht mehr.
Warum?
Ich befolge diese Regeln ja nicht, weil ich das möchte. Ich befolge sie, weil ich muss. Um dazuzugehören. Um keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Um zu überleben.
Und genau das erreiche ich nun nicht. Das verwirrt.
Meine Geschichte
Über Jahre hinweg wurde mir beigebracht, dass Denken und Leistung wichtig sind. Mir wurde gesagt, dass ich zur zukünftigen Elite der Schweiz gehöre. Verhaltensmuster, Strategien, Lernverfahren, gesellschaftliche Konventionen gingen damit einher.
Natürlich rebellierte ich gegen diese Erwartungen. Aber Rebellion ist nur eine andere Art, das Mammut zu füttern. Erstens erwartete man Rebellion von einem Teenager, und zweitens reagierte ich ja gerade auf die Einwände und Regeln des Mammuts. Keine sehr eigenständige Art zu denken und zu handeln, da mir die Themen immer noch vorgegeben wurden.
Später wurde ich Christ. Ich lernte, dass eigenständiges Denken das Übel aller Übel sei. Es gehörte zur alten Natur und war Auslöser der Geschichte im Garten. Das stimmte natürlich nicht, aber es machte Sinn.
Ich sah in dieser Zeit, wieviel von den Verhaltensmustern meiner Jugend falsch waren, da sie zu überheblichem Denken, Isolation, Verachtung führten. Da war ich noch so bereit, die Denkmuster dieser neuen Gruppe zu übernehmen, der ich nun angehörte. Mein Mammut wurde christlich-religiös.
Die Geschichte der Kirche
Die Kirche hat in der Vergangenheit sehr viele Spaltungen miterlebt. Diese Spaltungen haben etwas mit genau diesem Mammut zu tun.
Kurz nach der ersten Zeit der Kirche wurde es vor allem wichtig, der gleichen Meinung zu sein. War dies nicht der Fall, kam es zur Spaltung. Einige dieser Spaltungen geschahen, weil ein Teil der Menschen die wieder entdeckte Wahrheit aus traditionellen Gründen nicht annehmen wollten, andere, weil sich ein progressiver Teil von der Wahrheit des Wortes entfernen wollte. Einige auch nur, weil man sich nicht einigen konnte.
Spaltungen werden in der Kirche als etwas Schlechtes angesehen, da Jesus selbst als Ziel die Einigkeit propagierte. Vater, lass sie eins sein wie Du und ich eins sind.
Einigkeit wurde definiert als „gleicher Meinung zu sein“. Spaltungen mussten verhindert werden. Wenn Meinungsverschiedenheiten zu Spaltungen führten, musste verhindert werden, dass Menschen eigene Meinungen entwickelten.
Meinungen entstehen nur, wo gedacht wird.
Denken war also verboten. Denken war böse. Je nach Gruppe war Denken Rebellion oder einfach nur verwirrend und irreführend.
In manchen Gruppen übernahmen Traditionen und traditionelle Auslegungen der Bibel die Stelle der durch eigenständiges Denken geprägten persönlichen Beziehung.
In anderen ging es um Emotionen. Da war der gefühlte Frieden dem Reden Gottes gleichgesetzt, die Hühnerhaut entsprach Gottes Gegenwart, die Freude, die sich in Bewegung und Jubel auszudrücken hatte, dem rechten Lebenswandel.
Eine alternative Geschichte
Einigkeit kann nur geschehen, wo unterschiedliche Meinungen vorhanden sind. Ansonsten sprechen wir von Gleichheit—in diesem Fall sogar von Gleichschaltung, Manipulation, Massenhysterie im Extremfall.
Einigkeit geschieht nicht dann, wenn wir einer Meinung sind, sondern wenn unsere Beziehung überdauert, selbst wenn wir nicht immer einer Meinung sind.
Einigkeit wird aus Liebe geboren.
Und plötzlich machen die Worte Jesu Sinn: und die Welt wird erkennen, dass ihr meine Kinder seid, wenn ihr Euch liebt. Nicht, wenn ihr immer tut, was euch gesagt wird, und immer einer Meinung seid.
Plötzlich ist auch klar, dass Paulus nicht davon spricht, das Denken eines anderen zu übernehmen und nichts mehr zu hinterfragen, wenn er sagt, wir sollen unser Denken verändern.
In einer Familie vergibt man einander, wenn jemand nicht das Mammut füttert. Liebe überdauert, wenn ich den Erwartungen nicht gerecht werde.
Gott hat mich, als einziger übrigens, mit einem eigenen Denken und einem freien Willen ausgestattet. Er liebt es, wenn ich meine Individualität auslebe, meine Persönlichkeit finde, in das hineinwachse, was er sich für mich vorgestellt hat. Er hat nicht seine Gedanken verwirklicht, als er mich schuf, sondern seine Liebe.
Warum machen wir mit dem Mammut nicht, was man früher mit dem Mammut gemacht hat? Es töten und fressen.
Ich habe noch einen langen Weg vor mir. Und Du?