Endlich schmecken

Lesedauer 5 Minuten

Und er heilte sie alle. Matt 15:30

Nach vielen Jahren ohne Geschmack- und Geruchssinn kann ich endlich riechen und schmecken. Endlich Emotionen fühlen. Endlich mehr wahrnehmen, wenn ich etwas berühre.

Dafür bin ich so dankbar.

Vor 40 Jahren, an Pfingsten, besuchte ich ein Pfadfinderlager mit meinem Bruder zusammen. Als wir von diesem Lager zurückkehrten, hatten unsere Eltern uns etwas zu sagen.

Ich war damals 13 Jahre alt und lernte an diesem Tag, dass meine Eltern seit 11 Jahren wussten, dass sie sich scheiden lassen wollten. Sie hatten abgemacht, damit zu warten, bis wir gross genug wären.

Seit geraumer Zeit hatte meine Mutter sich verändert. Zuerst hatte sie eine Ausbildung zur Schwesternhilfe gemacht, und dann einen Job bei einem blinden Anwalt angenommen, der sie intellektuell und persönlich sehr herausforderte. Sie verliebte sich, und überzeugte meinen Vater, dass es nun Zeit wäre für die Scheidung.

11 Jahre hatten wir Jungs nichts davon gewusst. Unsere Eltern hatten weder miteinander geschlafen noch je einen Streit ausgefochten, nachdem mein Bruder auf die Welt kam. Für uns schien alles in Ordnung, und jetzt brach eine Welt zusammen.

Ein paar Tage später nahm mein Vater ein Bild von der Wand und verschwand. Hätte ich mich nicht eine Weile noch um Kontakt bemüht, hätte es keinen mehr gegeben.

Kurz darauf kam ich ins Internat, vorgeschlagen vom Freund meiner Mutter. Heute bin ich dankbar dafür, denn ich hätte keine Lehre durchgehalten. Der Grund war, dass ich im Gymi überfordert war. Nicht intellektuell, aber ich konnte nicht mehr fokussieren.

Fast hätten meine Gefühle verhindert, dass ich eine Ausbildung machen konnte, die mir entsprach.

Also begann ich, meine Gefühle zu unterdrücken. Mein Vater hatte bereits die gleiche Strategie, es lag mir also nahe.

Ich machte eine weitere, fatale Entscheidung. Andere Menschen wussten besser, wie das Leben funktioniert. Sie bläuten mir das ständig und stetig ein, und jeder wusste, was das Beste für mich ist. Im Gegensatz zu anderen rebellierte ich nicht gegen diese Fremdbestimmung, sondern kam durch Nachdenken darauf, dass es stimmte.

Ich ging davon aus, dass

  • Jeder Mensch gleich viel dachte und ein ebenso reiches Innenleben hatte wie ich,
  • Und dass fast jeder zusätzlich dazu wesentlich bessere soziale Fähigkeiten besass als ich.

Ich konnte also nur von anderen lernen.

Gott brachte mich für ein Jahr in die USA. Die Gesamtschule (High School) öffnete mir die Augen: es gab so viele gescheiterte Existenzen schon in diesem Alter. Nichts von reichem Innenleben, und ihr soziales Leben reiner Schein.

Aber zurück in der Schweiz verlor sich diese Einsicht wieder. Ich war zurück am Gymi, da erwartete ich schon mehr. Danach bewegte ich mich vor allem in christlichen Kreisen, und da musste es ja so sein. Schliesslich waren wir eine neue Kreatur, wiederhergestellt in unserer Gesamtheit, mit erneuertem Denken.

Über 30 Jahre lang liess ich mir von Christen sagen, was richtig war. Mehr fühlen, mehr Ausdruck, mehr Small Talk, weicher, freundlicher, lieblicher. Und auf jeden Fall: weniger Denken!

Jetzt stellt Gott meine Sinne und meine Emotionen wieder her, und jeder um mich herum freut sich. Freut sich auch darum, weil ich jetzt sicher einsehen werde, dass die Sinneswahrnehmungen und damit die natürliche, externe Welt wichtiger sind als die internen Modelle und das Denken. Weil ich endlich erkennen werde, dass ich Gott am Besten durch meine Emotionen erfahre.

Und jetzt endlich erkenne ich: ich muss meinen Weg finden. Ich bin ein Denker, der jetzt auch Emotionen erfährt. Ich schaue nach innen, und nehme jetzt auch das Äussere stärker wahr.

Gott heilt mich. Nicht so, wie andere es wollen. So wie er will.

Und ich freue mich enorm.

Was erkenne ich über mich?

Ich untersuche Konzeptionelles mit tiefer, impliziter und nuancierter Logik. Daraus entwickle und damit verfeinere ich subjektive Methoden, Strategien und Modelle. Dies führt zu einer grossen persönlichen Unabhängigkeit und Autonomie, dem Verlangen zur Selbstoptimierung, einem tiefen Skeptizismus. Dabei ist die Logik, die ich verwende, kreativ.

Ergänzend brauche ich eine Strategie, wie ich dieser Logik Fakten zuführen kann. Eigentlich würde ich gerne meine Umwelt fragen, mit ihnen Dinge, Regeln, Prägungen, Auslegungen, einfach alles hinterfragen. Meine Lieblingsfrage: „Was wäre wenn“. Es geht mir dabei auch nicht um das konkrete Beispiel, sondern um Prinzipien, Modelle, Abstraktes.

Warum brauche ich Beispiele in der für andere realen Welt, um zu wissen, dass es heute noch Apostel gibt? Die Bibel sagt uns, dass es den fünffachen Dienst geben wird, bis alle Kinder Gottes in Reife und Einheit kommen. Das ist offensichtlich noch nicht der Fall (hier jetzt scheinbar doch eine Beobachtung der realen Welt, aber es kann auch biblisch hergeleitet werden.) Die Existenz von Aposteln ist somit nicht Bestätigung, sondern kann erwartet werden.

Anders gesagt: es muss heute noch Apostel geben, auch wenn keine vorhanden wären.

Die von mir beschriebenen Weisen, der Welt zu begegnen, sind–ungewöhnlich in christlichen Kreisen. In frühen Jahren meines Christenlebens habe ich dies zum Teil sehr schmerzlich erfahren und habe mich entsprechend verhalten.

Meine Persönlichkeit wird komplementiert durch eine Herangehensweise, die in Stresssituationen zum Einsatz kommt. Ich tendiere dazu, unter Stress auf Altbewährtes zurückzugreifen. Damit kann ich Konflikten vorbeugen und momentan den Stress abbauen. Allerdings widerspricht mein Leben dann absolut dem, was mich eigentlich ausmacht. Auf die Dauer ist dies ein grosses Problem.

Der Bereich, der bei mir am wenigsten ausgebaut ist, sind Gefühle. Dies ändert sich im Moment, obwohl ich wohl nie zum Gefühlsmenschen werde. Und doch verlangt ein Leben als Christ, in diesem Bereich ein Meister zu sein. So sagt man.

Meine vier Bewältigungsstrategien sind also, in absteigender Reihenfolge:

  • Genauigkeit durch logisches Denken
  • Untersuchen der Welt auf Muster
  • Bewährtes aus dem Gedächtnis und der Erfahrung
  • Harmonie

Ein Leben in der dritten und vierten Strategie führt zu Burnout. Über kurz oder lang kann dies nicht aufrecht erhalten werden.

Ich war absolut überzeugt, das Richtige zu tun. Andere wussten, wie man lebt. Ich war eine neue Kreatur. Deshalb nahm ich die erwarteten Verhaltensmuster an, konnte aber nie ganz genügen, weil es mir nur teilweise gelang.

Jeder Ausbruch in—oh Schreck—meine Persönlichkeit wurde abgemahnt und ich zog mich wieder zurück.

Doch nicht mehr länger.

Wenn ich nicht höre, braucht Gott krassere Massnahmen. So führte mich Gott von einer Arbeitsstelle zur anderen, jedes Erlebnis wurde schlimmer. Kaum etwas war von Erfolg gekrönt, nichts machte mir mehr Freude.

Die Stimmen, auf die ich hörte, bestätigten mir, dass ich da durch müsse. Ich sage nicht, dass sie Gott nicht hören. Eine Mischung aus Prägung, ihrem eigenen Verständnis und Gottes Wirken in meinem und ihrem Leben arbeitete hier zusammen.

Es kommt gut. Gott heilt alle—auch mich.

Bitte gib mir den Mut, der zu sein, den Du gemacht hast.

Und Du?

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