Die Bibel als kulturelle Bibliothek

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Als Jesus Nathanael auf sich zukommen sah, sagte er: »Da kommt ein aufrechter Mann – ein wahrer Sohn Israels.« Johannes 1:47

Woran erkennt man einen wahren Sohn Israels? Woran erkennt man einen Schweizer?

In unserer multikulturellen Welt wird es wohl immer schwieriger, die Zugehörigkeit einer Person zu einer Gruppe, einem Volk festzustellen.

Noch schwieriger ist es, einen aufrechten Mann zu erkennen. Für die meisten von uns wären wohl Jahre von Nöten, bis wir über eine Person eine solche Aussage wagen würden.

Heute machen wir es uns einfach. Die Zugehörigkeit ergibt sich aufgrund des Passes, die Aufrichtigkeit aufgrund des Leumundes.

Doch wie steht es damit in der Gemeinde?

Vorgeschichte

In der Schöpfungsgeschichte hat sich der Mensch entschieden, dass er nicht von Gott abhängig sein wollte. Er wollte nicht nachfragen müssen, ob etwas gut oder böse sei – er wollte es selber wissen. Und so entscheiden wir heute selber. Über Zugehörigkeit und Leumund.

Unsere Gesetze machen das so einfach wie möglich. Es gibt einen Gesetzeskatalog, der darüber entscheidet, ob jemand zu einer Gruppe gehört und ob er sich entsprechend der sozialen Normen dieser Gruppe verhält.

Natürlich ist dieser Gesetzeskatalog über die Jahre auf ein stattliches Volumen angewachsen und wir brauchen Menschen, die dafür ausgebildet sind, diese Flut an nicht immer klar formulierten Anweisungen und Richtlinien zu interpretieren.

Leider sehen wir die Bibel genau so. Denn dies ermöglicht zwei Dinge, die uns die Entscheidungen wahrlich vereinfachen: mehr oder weniger eindeutige Regeln und Fachleute für die Interpretation, die das für mich übernehmen.

Paradoxerweise überlassen wir die Bestimmung von Zugehörigkeit und Rechtgläubigkeit lieber diesen Menschen als Gott.

So wurde die Bibel zu einer Verfassung und einem Gesetzeskatalog, und die Pastoren, Pfarrer und Priester zu den Hütern der Erkenntnis von Gut und Böse.

Alternative

Doch ist die Bibel tatsächlich ein Gesetzeskatalog? Eine Sammlung von Gesetzen, welche von Menschen gemacht wurde, ist nie in sich vollständig schlüssig und logisch, nie kohärent. Aber können wir das nicht erwarten, wenn wir einen göttlich inspirierten Gesetzeskatalog vor uns haben?

Und doch ist diese Sammlung von Büchern in sich nicht homogen. Die alttestamentarische Ausrottung ganzer Völker ist sehr schwer zu erklären im Licht des Lebens von Jesus, das vollständig gewaltfrei war. Ein in sich schlüssiger Korpus von Gesetzen sollte es nicht ermöglichen, sowohl Sklaverei als auch Patriarchat zu verteidigen, wie dies über Jahrhunderte geschah. 1452 erliess der Papst den Befehl, dass Europäer in die ganze Welt gehen und Sklaven machen sollten. Diese sollten zudem zwangsbekehrt werden. Basierend auf der Bibel.

Wenn aber die Bibel etwas ganz anderes ist? Biblia heisst ja nichts anderes als Bücher. Vielleicht ist die Bibel eine Bibliothek, eine Sammlung von Schriften einer Kultur im Wandel? Wie wenn die Bibel verschiedenste Texte zusammenfasst, welche die Auseinandersetzung der Menschen zum Thema Königreich Gottes über den Zeitraum von mehreren tausend Jahren darstellen?

In einer solchen Sammlung wären Widersprüche normal, da ein Thema kontrovers diskutiert würde. Es wäre gang und gäbe, dass es neue Erkenntnis zu den diskutierten Themen gäbe, ja eine nicht-lineare Entwicklung zum Besseren.

So würden die Aussagen der Bibel zur Sklaverei – beginnend mit dem Fluch Noahs über Kanaan, dass er für immer seinen Brüdern dienen werde, bis zu den Aufforderungen des Paulus, dass Philemon sich seines Sklaven Onesimus wie eines Bruders annehmen solle (ohne, dass Paulus die Freilassung forderte) – zu einer aufwärtsstrebenden Kurve der Besserstellung, sicher im Vergleich zum jeweiligen kulturellen Umfeld. So ist die Abschaffung der Sklaverei in England und Amerika nur eine logische Folgerung und Weiterentwicklung des in der Bibel vorgegebenen Pfades, auch wenn dieser weit über die Bibel hinaus entwickelt wurde.

Beispiel

Eine solche Sammlung zu einer Nation würde verschiedenste Texte umfassen. Nehmen wir das Beispiel der Schweiz.

Zuerst wäre da eine Gründungsgeschichte. In unserem Fall wäre das Wilhelm Tell. Kommt es darauf an, dass die Verschriftlichung Jahrhunderte nach dem Ereignis durch einen Deutschen erfolgte? Dass zwar frühere Mythen bestanden, die Geschichte aber wahrscheinlich nie so stattgefunden hat? Dass Stilmittel verwendet wurden, welche im 13. Jahrhundert noch nicht zur Verfügung standen – etwa die persönliche Entwicklung einer Person?

Ein weiteres Dokument wäre ein Vertrag der Beteiligten: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, nicht trennen uns in Not und in Gefahr. Wir wollen frei sein, wie die Väter waren.“ Der Bundesbrief.

Viele weitere Dokumente – das Gedicht von Winkelried, das Beresinalied, die Chroniken der Weltkriege, die Aufarbeitung der Schweizer Fehler im zweiten Weltkrieg, die Verfassung von 1848, 1948, die Listen der Bundesräte, die Biographien von Henri Dunant und General Guisan – wären im Umfang enthalten. Gedichte, Prosa, Zeitdokumentationen, spätere Aufarbeitungen der Geschichte, Interpretationen und so weiter.

Ein solcher Katalog an Schriften gäbe uns ein lebendiges Bild der Schweiz. Nicht vollständig, aber wesentlich griffiger als die gesammelten Gesetze des Bundes, der Kantone und der Gemeinden.

Allerdings würden sich darin Widersprüche finden. Vorkommnisse würden verschieden interpretiert und jeweils geprägt von Weltbild und Erkenntnishorizonts des Schreibers und des Lesers.

Die Bibel

Genau so ist es mit der Bibel. Die Bibel ist keine Verfassung des himmlischen Königreichs. Sie ist eine Textsammlung, die sich mit unserem Verständnis und unseren Fragen zu diesem Königreich befasst. Der heilige Geist inspiriert die Diskussion, die Fragen und die Antworten entsprechend der Weltanschauung und des Erkenntnishorizonts des Schreibers und des Lesers.

Ein Beispiel? Der Heilige Geist konnte Mose keine physikalisch korrekte Beschreibung der Schöpfung diktieren. Mose kannte die entsprechenden Bausteine noch gar nicht. Wir haben Hunderte von Jahren gebraucht, bis wir bei der Quantenphysik angelangt sind. Und noch immer verstehen wir die Schöpfung nicht.

Wir allerdings sind so verbildet, dass wir die Einfachheit und Schönheit einer nicht-wissenschaftlichen, nicht-historischen Geschichte nicht erfassen können, welche uns die Prinzipien der Schöpfung lebendig, menschlich, farbig vor Augen malt. Wahr damals, und ebenso wahr heute.

Log Gott damals? Log unsere Lehrerin in der zweiten Klasse, als sie sagte, dass eine grössere Zahl nicht von einer kleineren abgezogen werden kann (3-5 = ?)? Nein, denn wir konnten es tatsächlich nicht. Wir kannten nur die natürlichen Zahlen.

Genau so, wie unsere Lehrer uns Mathematik in einer logischen, für uns verständlichen Weise beibrachten, so macht es Gott mit seinem Reich und seinem Plan. Vom Einfachen zum Komplexen. Genau so, wie Mathematik eigentlich nicht kompliziert ist, nur komplex, so ist es mit dem Reich Gottes. Wir müssen zuerst die Grundlagen verstehen. Unsere Art, diese zu lernen? Denken, fühlen, erfahren, tun – in wiederholenden Zyklen. Aus Fehlern lernen, neue Prinzipien, welche schon ewig bestanden, verstehen, Ansichten erweitern, anpassen, fallen lassen, wieder aufnehmen, wachsen. Ein lebendiger Dialog mit Gott, Menschen und der Schöpfung.

Wie in der Schule brauchen wir dafür den Lehrer. Paulus nennt das Gesetz und den Heiligen Geist unsere Pädagogen. Wir brauchen unsere Mitschüler, Eltern, Freunde, aber auch Experimente, Hausaufgaben, Prüfungen, Hilfsmittel.

Die Bibel entspricht hierbei einem Teil der Schulbücher. Sie lehrt uns Ethik, Geschichte, Beziehungen, Politologie, Kunst, und vieles mehr. Sie lehrt uns, Mensch zu sein nach Gottes Ebenbild.

Und wir reduzieren sie auf eine Sammlung von Verhaltensweisen, welche uns dazugehören lassen. Wir sehen sie als Anforderungskatalog an ein gutes Christenleben. In unseren Augen erzählt sie uns, was wir zu tun hätten, um zu erhalten, was Gott uns geben möchte.

Doch noch schlimmer: wir delegieren die Auslegung dieser Regeln an andere. Wir hören auf, Fragen zu stellen und mit den Texten zu ringen, wie Jakob mit Gott gerungen hat. Wir erwarten nur noch Antworten.

Wie armselig.

Tauchen wir wieder ein in die ewige Diskussion, das ewige Ringen um das Reich Gottes.

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