Denke das Christentum neu

Lesedauer 4 Minuten

Erziehe den Knaben seiner Natur angemessen; er wird nicht davon weichen, auch wenn er alt wird.

Sprüche 22:6

Schlag den Vers mal in anderen Übersetzungen nach. Diese ist übrigens aus der Elberfelder-Übersetzung unter Einbezug des Kommentars.

Hier ein anderes Beispiel:

Gewöhne den Knaben an den Weg, den er gehen soll, so wird er nicht davon weichen, wenn er alt wird!

(Schlachter)

Die Lesart dieses Verses zeigt, wie stark unsere Weltanschauung und Kultur die Übersetzung und Auslegung der Bibel beeinflusst.

Die meisten Übersetzungen enthalten sich der Interpretation und übersetzen wörtlich:

Gewöhne einen Knaben an seinen Weg, so lässt er auch nicht davon, wenn er alt wird.

(Luther 2017)

Im englischen Sprachraum hingegen wird fast durchgängig die Variante „an den Weg, den er gehen soll“ gewählt.

Der Vers wurde in der Königszeit verfasst. Die Weltanschauung zu jener Zeit war geprägt durch das Gesetz, die Hierarchie eines Königreiches, die Machtvorstellungen beginnender Nationalstaatlichkeit mit ihrer Abgrenzung gegen andere Völker, die Regeln und moralischen Vorstellungen, welche für die Überwindung des vorherrschenden Tyrannentums notwendig waren.

Höchste Werte waren Moral, Zugehörigkeit, Gehorsam. Dies zeigt sich gerade im Kampf gegen und für diese Werte in der Königszeit. So wird jeder König in der Bibel eingeführt mit „und er tat/tat nicht was Gott gefiel wie sein Vater David es getan hatte.“

Die traditionelle, durch Moral und Werte, Regeln und Hierarchien geprägte Weltanschauung hielt an bis zur Reformation. Erst hier wurde der Wert des Individuums ausserhalb der Gesellschaft erkannt und damit Wachstum und Leistung über die Pflichterfüllung hinaus ermöglicht. Wir kennen die Auswirkungen, von der Aufklärung über die erste industrielle bis zur vierten, digitalen industriellen Revolution.

Eine weitere Auswirkung ist die Gegenbewegung zu dieser leistungsorientierten Weltanschauung der Machbarkeit – das Zeitalter der Menschenrechte und Toleranz.

Und doch lesen wir den Vers auch heute noch hauptsächlich moralisch. Was sind unsere Assoziationen, wenn wir den Vers hören:

Gehorche Vater und Mutter, auf das Du lange lebest. Spare nicht mit der Rute. Unterordnung.

Interessant, dass es gerade die Elberfelder ist, welche das Wort derek, Weg, hier anders übersetzt. Die meisten Übersetzer weisen darauf hin, dass in den Sprüchen derek immer im Sinne von „der Weg, den Du gehen solltest“ übersetzt wird, daher auch hier. Die gleiche Argumentation findet sich an allen anderen Stellen, an denen das Wort vorkommt. Die Elberfelder verfechtet stark, dass die selben Wörter im Urtext immer gleich übersetzt werden sollten – und doch ist es gerade sie, die hier von dieser tradition abweicht.

Die Elberfelder-Übersetzung lässt damit ganz andere Töne anklingen.

Die Persönlichkeit eines Menschen rückt in den Vordergrund. Das Individuum mit seinen Begabungen, Fähigkeiten, Charaktereigenschaften wird zentrales Element der Erziehung. Ein radikal postmodernes Menschenbild.

Konnte Salomo – oder welcher König auch für diesen Spruch verantwortlich ist – diese Bedeutung meinen? Ich denke nicht, denn sie liegt sehr weit ausserhalb des Weltbildes seiner Zeit.

Könnte Gott diese Bedeutung impliziert haben? Gott spricht zu jeder Zeit mit den Menschen entsprechend ihrer Erkenntnis. Er ist es, der gesagt hat, dass ein jeder von uns einzigartig gemacht ist. Er sagt durch Paulus, dass wir verschiedenste Glieder und Organe im Leib Christi sind. Die Auslegung, welche unsere Individualität berücksichtigt, ist ganz in Gottes Sinne.

Hier sehen wir die Schwäche der heutigen Auslegungsstandards. Wir sollen uns fragen, was der Vers für den Schreiber bedeutet habe. So wachsen wir nie über das Menschenbild hinaus, welches zur Zeit des Verfassers in der Gesellschaft vorherrschte. So wird Glauben zu einer rückwärtsgewandten, romantischen Tradition.

Doch Gott sagt: Ich stelle Dich auf ein weites Feld. Mache Dein Zelt weit.

Moral, Werte, Regeln sind wichtig und stecken einen Rahmen des Akzeptablen ab. Doch dieser Rahmen ist weit. Wie sagt Paulus: alles ist erlaubt, aber nicht alles ist gut für Dich.

Doch innerhalb diese weiten Rahmens ist die individuelle Betrachtung eines jeden wichtig. Lange genug wurden die Menschen zu austauschbaren Fabrikarbeitern erzogen. Lange genug wusste der Vater genau, was für das kind richtig war. Lange genug bestimmte der Pastor den für alle gleichen Weg des richtigen Glaubens.

Gott sucht mit einem jeden eine individuelle Beziehung, welche geprägt ist von der Art aller beider Involvierten. Er erzieht mich, trainiert mich nach meiner Weise, angepasst an meine Persönlichkeit.

Es ist Zeit, die Bibel neu zu lesen. Es ist Zeit, das Christentum neu zu denken. Dieser Vers ist nur ein Beispiel. Offensichtlich, einfach, klar, und doch durch moralistisch geprägte Ausleger vor unseren Augen versteckt. Durch traditionalistisch fundamentalistisch geprägte Pastoren entwertet und verboten. Durch vorsichtige, mechanistische Herangehensweise an die Bibel eingeengt.

Jeden Menschen individuell zu betrachten, jedes Kind Gottes einzigartig zu behandeln macht uns so viel abhängiger vom Geist Gottes und braucht so viel mehr Zeit, Hingabe, Aufmerksamkeit. Doch es ist es Wert.

Haben wir den Mut, unseren Glauben neu zu entdecken?

Beitrag veröffentlicht

in

von