Ich begreife mich selbst nicht, denn ich möchte von ganzem Herzen tun, was gut ist, und tue es doch nicht. Stattdessen tue ich das, was ich eigentlich hasse. … Aber wenn ich tue, was ich nicht will, dann tue nicht ich es, sondern die Sünde in mir.
Römer 7:15.20
Paulus sagt hier etwas, was wir alle nur zu gut nachvollziehen können: Ich begreife mich selbst nicht. Ist es nicht so?
Der zweite Vers tönt wie eine Ausrede: hey, nicht ich bin es, sondern die Sünde. Wie tönte es während der Phase antiautoritärer Erziehung? Der Fritz ist gut, nur die Umwelt schlecht.
Doch es geht ihm um etwas anderes.
Doch zuerst eine Erklärung zum Wort, welches in der Bibel mit Sünde übersetzt wird:
Hamartia heisst erst einmal „das Leben verneinen“ oder „keinen Anteil haben“, zusammengesetzt aus a (nicht, kein) und meros (Anteil, Mass). Die Bibel übersetzt Sünde. Homer braucht das Wort, um – fast ein bisschen zynisch – den Bogenschützen darauf hinzuweisen, dass er das Ziel verfehlt hat und somit keinen Anteil am Preis hat.
Wir können das Wort also auf drei Arten, auf drei Ebenen deuten:
- Ich werde den Regeln nicht gerecht, begehe also Sünde im eigentlichen Sinne. Ein Beispiel sind Verstösse gegen die 10 Gebote.
- Ich verfehle das Ziel, ein besserer Mensch zu werden, reif zu werden. Ich weigere mich zum Beispiel, erwachsen zu werden.
- Ich negiere den Plan, den Gott für mein Leben hat.
Das zeigt uns drei Ebenen, über die auch Paulus spricht.
Die Complete Jewish Bible übersetzt den Vers so:
But if I am doing what „the real me“ doesn’t want, it is no longer „the real me“ doing it but the sin housed inside me.
Rom 7:20
Das wahre Ich – unser gottgegebenes Wesen, unser Innerstes, das, was Gott geplant hat für uns.
Darum herum haben wir über die Zeit hinweg, beginnend mit unserer Geburt, unser Ego aufgebaut. So reagieren wir auf die Welt, so schützen wir uns vor der Welt, so wollen wir, dass die Welt uns sieht. Ein Teil dieses Egos ist das falsche Ich, all die negativen Handlungsweisen, Angewohnheiten und Ansichten, die wir von uns selbst haben.
Dieses falsche Ich begeht Sünde und verfehlt das Ziel. Das falsche Ich negiert auch die Existenz des wahren Ichs, und damit den Plan Gottes mit uns.
Das falsche Ich ist es auch, welches häufig definiert, wer wir eigentlich sind. So definieren wir uns oft durch unsere Rolle:
- Meine Mutter war genau das – meine Mutter. Aber als ich erwachsen wurde, konnte sie von dieser Rolle nicht loslassen und definierte sich weiter damit. Sie nannte mich noch bis zu ihrem Tod ihren Ralphli (eine Verkleinerungsform). Sie hatte mit meinem Auszug von zu Hause einen teil ihrer Identität verloren.
- Andere definieren sich über ihren Beruf. Unsere erste Frage an Menschen, die wir treffen: Und, was bist Du? Wir erwarten eine Antwort wie: Schreiner, Programmierer, Pastor, arbeitslos.
- Ein Kind identifiziert sich mit seinem Spielzeug. Ein Kleinkind lernt erst, dass die Umwelt nicht Teil seiner selbst ist. Nimmt man einem Kleinkind sein Spielzeug weg, stirbt es irgendwie. Gleichzeitig lernt es das Konzept von ich und dem Rest der Welt. Schlimm wird es, wenn Erwachsene auf die gleiche Art an ihrem Spielzeug hängen, sei es ein Auto oder ein Paar Schuhe, um mal ein paar Klischees zu bemühen.
- Nicht wenige Menschen identifizieren sich mit ihrer chronischen Krankheit. Beachte nur schon, wie ich das sage: ihre chronische Krankheit. Sie haben Angst, gesund zu werden, weil sie nicht mehr wissen, wer sie dann genau sind.
Das wahre Ich weiss, dass es ein Sohn Gottes, eine Tochter Gottes ist. Genau so, wie es über Jesus bei seiner Taufe ausgesprochen wurde. Dies ist mein Sohn, an dem ich Freude habe.
Übrigens wussten schon einige Personen vor Jesus, dass er der Messias ist: Maria, Johannes der Täufer, Elisabeth, Josef, die Hirten, Simeon, Hanna, die Weisen aus dem Morgenland.
Jesus selber wuchs in diese Erkenntnis hinein. Doch für ca. 30 Jahre tat er – öffentlich – nichts damit.
Mit 30 wurden Söhne in Israel adoptiert. Ihr Vater proklamierte sein Vertrauen und dass das Wort des Sohnes ab sofort gleich viel Wert war wie das seine. Das tat Gott mit Jesus eben an dieser Taufe.
Ich denke, dass das, was als nächstes geschah, prototypisch für uns alle gilt. Jesus ging in die Wüste und seine Identität wurde angezweifelt.
Bei Jesus war es Satan – oder wir haben es hier mit einer wunderbar poetischen Umschreibung dessen zu tun, was in uns selbst in solchen Zeiten abgeht.
Bei uns gibt es Momente – zum Beispiel eine Midlife Crisis -, in denen wir merken, dass es mehr gibt, als uns unser falsches Ich zugesteht. Wir erahnen das wahre Ich. Und sofort klagt uns unser falsches Ich an und rüttelt an dieser neuen Identität.
Es geht um unser Fundament: Wer bin ich? Hier geht es um Hamartia auf der tiefsten, innersten Ebene: den Plan Gottes mit unserem Leben.
Und wie wird unsere Identität angegriffen? Z.B. mit drei Fragen (siehe Lukas 4:1ff):
- Mach doch Steine zu Brot. Was hast Du denn bis jetzt schon gross getan? Eigentlich nichts. Aber Du bist doch, was Du tust. (Stichwort: Beruf)
- Ich gebe Dir Macht über die ganze Welt, wenn Du mich anbetest. Denn Du bist, was Du hast. (Stichwort: Besitz)
- Spring vom Tempel und der Vater wird Dich retten. Mach doch etwas von Bedeutung, das Dir sofortige Berühmtheit verschafft. Ich weiss, Du hast Angst, ein Niemand zu sein, ist man doch erst etwas, wenn andere einen anerkennen. (Stichwort: Bedeutung)
Beruf – Besitz – Bedeutung
Dem gegenüber setzt das wahre Ich die Wahrheit: Deine Identität liegt in dem, was Du bist, nicht was Du tust, hast, oder bedeutest.
Deine Identität ist die eines Sohnes, einer Tochter Gottes.
- Ist das genug? Ja.
- Reicht es mir? Jein.
Diese Identität ist ein wunderbares Fundament. Jesus selber nutzte diese neue Gewissheit als Sprungbrett für seinen Dienst in den nächsten 3½ Jahren. Er wusste jetzt, dass er dazugehörte, ein Teil war, nicht „Hamartia“ war.
- So konnte er etwas tun, aber es war nun Berufung und nicht Beruf.
- Er konnte etwas haben, aber es war nun Verwaltung statt Besitz.
- Er konnte jemand sein in den Augen anderer, aber er hatte jetzt Anteil an Gott und Gottes Plan statt Bedeutung.
Gott lässt uns in Berufung, Verwaltung und Anteil hineinwachsen, bevor wir wirklich begriffen haben, was unsere Identität ist. Wir wachsen daran und erkennen uns und ihn mehr und mehr. Doch heisst es auch, Vorsicht walten zu lassen, dass diese Dinge nicht wieder zu unserer Identität werden.
Denn die Entdeckung meines wahren Ichs ist eine Lebensaufgabe.
Vergib mir, dass ich nicht sein will bzw. nicht daran glaube, wie Du mich gemacht hast.