Das Neue

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Ihn muss der Himmel aufnehmen bis zu den Zeiten, in denen alles wiederhergestellt wird, wovon Gott geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten von Anbeginn. Apostelgeschichte 3:21

In den letzten Jahren ist viel davon die Rede, dass etwas Neues geschehen wird – unter anderem in meinem letzten Blog.

Viele Menschen haben das Gefühl, dass es dabei um eines von zwei Dingen gehe:

Mehr von dem, was wir bereits haben, oder die Wiederherstellung von etwas, was uns z.B. seit der Zeit der Apostelgeschichte verloren ging.

Persönlich glaube ich nicht daran. Warum?

Mehr von dem, was wir bereits kennen, oder was in anderen Gemeinden bereits wahr ist, wäre nichts Neues. Zugegeben, wenn erst andere Gemeinden das Neue erlebt haben, ist es wenigsten neu für meine Gemeinde.

Doch glaube ich, dass etwas Neues für die Gemeinde weltweit am Kommen ist.

Wenn es sich aber um eine Wiederherstellung handelt, dann ist es, ehrlich gesagt, nichts Neues. Denn Gott spricht mit uns ja Deutsch. Im Griechischen müsste man dann noch nachschauen, welches Wort für Neu verwendet wurde. So wird in Römer 8:23 und Offenbarung 21:11 ja von qualitativ neuer Erde und Himmel gesprochen, und nicht von total neuen. Das aber nur nebenbei, denn neu auf Deutsch heisst neu und nicht erneuert, wiederhergestellt, wie neu oder neuwertig.

Der oben genannte Vers wird oft dafür verwendet, dass Gott alle Dinge wiederherstellen wird. Und das stimmt. Und zwar in den Zeiten der Wiederherstellung, von denen die Propheten gesprochen haben. Im Griechischen wird klar, dass die Propheten die Zeiten vorausgesagt haben, und nicht die Dinge, die wiederhergestellt werden. Ansonsten wüssten wir genau, was alles noch wieder herzustellen ist.

Der Satz sagt aber nicht, dass Gott nur wiederherstellen wird und nichts Neues schafft. Das würde ja vielen Stellen in der Bibel widersprechen, in denen Gott uns sagt, dass er etwas Neues machen wird, das noch nie jemand gesehen hat. (Zugegeben, sie sind im AT.)

Als Abraham von Gott gerufen wurde, machte dieser etwas Neues. Das Bewusstsein Abrahams um seine Beziehung zwischen ihm und Gott ist ohne früheres Vorbild, genauso wie Gottes Wirken über die Generationen hinweg.

Genauso ist es bei Mose. Das Gesetz war etwas absolut Neues, mit riesigen Konsequenzen: nur durch das Gesetz gibt es die Sünde, wie Paulus sagt.

Doch auch nach Jesus hat Gott Neues gemacht. In der Reformation erweiterte Gott das Bewusstsein des Menschen. Ein komplexeres Denken ist möglich, der Individuums-Gedanke geboren. Vorher war ein Mensch nur etwas im Rahmen seiner Familie, seines Stammes, seiner Nation, seiner Interessengruppe.

Damit ist auch klar, dass Gott nicht mit dem neuen Bund aufgehört hat, Neues zu schaffen. Gott ist kreativ, schöpferisch, und er hat nicht aufgehört damit, es zu sein, nur weil Jesus starb oder die Bibel zusammengestellt wurde. Die Theologie nennt dies das Problem des nicht-schöpferischen Gottes des neuen Testaments.

Natürlich stellt er wieder her. In der Ausgiessung des Heiligen Geistes in 1904 stellte er wieder her, was er als etwas total Neues 50 Tage nach Jesu Tod erschaffen hatte.

In der Erweckung von Latter Rain stellte er den fünffachen Dienst wieder her, den er über die ersten 60 Jahre nach der Geburtsstunde der Gemeinde gegeben hat. Es wurde 1948 von der Gemeinde nicht angenommen, und so nahm er 50 Jahre später einen neuen Anlauf.

In den letzten 100 Jahren durchlief der Mensch eine weitere Bewusstseinserweiterung. Er kann jetzt ein erstes Mal global denken und Grenzen überschreiten, ohne dabei nur an Machbarkeit, Ausbeutung zu denken. Aus rationalem wurde transrationales Denken.

Hier ein paar Gedanken zu diesen Bewusstseinsstufen:

Vor dem Gesetz herrschte die Macht des Stärkeren. Um diese rohe Gewalt in den Griff zu bekommen, wurde ein neues Bewusstsein, ein neues Werkzeug notwendig: das Gesetz. Ordnung, Hierarchie, Umgangsformen, Regeln, Strafe, Busse, Schuld. Diese Stufe nennen wir Tradition. Wir sehen das in den Weltreligionen, insbesondere den drei monotheistischen.

Eine gesunde Erziehung, das Schulsystem geben dem heranwachsenden Kind einen Rahmen, in dem es sich bewegen darf. Im Christentum ist dies das mosaische Gesetz. Geschichtlich kann der Übergang von prärationalen Machtstrukturen zum rationalen Gesetz sehr schön im Wechsel von Babylon zum persischen Reich verfolgt werden: In Babylon ist der Macht-König dem Gesetz noch nicht unterworfen, während der persische Herrscher sich selbst an seine Gesetze halten muss.

Abstrakte Gebilde wie Gesetze, aber auch wunderschöne Kunst wie bei Bach zeigen klares rationales Denkvermögen. Der Dualismus dieser Stufe: Adel versus Volk, Klerus versus Laientum.

Die nächste Stufe heisst Moderne und ist durch die Entdeckung des Individuumsgedankens geprägt. Seien es Huss, Luther, Zwingli, Descartes, Spinoza, Kant, Lessing, Schiller, Goethe, Reformation, Sturm und Drang, Aufklärung, industrielle Revolution, französische Revolution, demokratische Staatsform – es entwickeln sich neue Denkmuster.

Wissenschaftliche Methoden, ein neuer Wahrheitsbegriff (Wahrheit ist, was faktisch wahr ist) halten Einzug. Die Mythen, welche in der Tradition den Zusammenhalt gaben und die Erklärung für die Welt lieferten, werden untersucht und verworfen. Sie entsprechen nicht dem neuen Wahrheitsverständnis und verlieren in einem rein rationalen Weltbild ihren Wert. Daraus resultiert ein neuer Atheismus: Gott ist tot.

Das Individuum erreicht diese Stufe meist nach der Pubertät. Der Dualismus hier: der Erfolgreiche gegen den Versager.

Wie bei jeder Stufe sind es die Probleme, welche nicht mit den Mitteln dieser Stufe gelöst werden können, die die nächste Stufe erscheinen lassen. In diesem Fall die Folgen des Machbarkeitsgedanken in Form einer ausgebeuteten Welt und die geistige Verarmung durch die rein rationale Ausrichtung.

Menschen der nächsten Stufe, Post-Moderne, geben hier Gegensteuer. Ein grösseres Wir wird entdeckt: nach der prärationalen Stammeskultur und der traditionellen Interessengemeinschaft folgt ein weltzentriertes Denken: jeder hat seine Daseins-Berechtigung. Doch auch diese Stufe hat einen Dualismus: jeder hat seine Daseins-Berechtigung, ausser demjenigen, der dies anderen abspricht. Der post-moderne Mensch ist allen gegenüber tolerant ausser dem Intoleranten.

Eine objektive Wahrheit existiert nicht. Wobei genau dieser Satz als objektiv wahr und allgemein gültig angenommen wird – ein Paradoxon, welches die Post-Moderne nicht wahrnimmt.

Viele Menschen der heutigen Gesellschaft erreichen diese Stufe nicht. Ganz genau bleiben viele bereits in der Tradition stehen, und andere befinden sich in der Moderne. Diese drei Stufen machen momentan in der westlichen Welt je knapp einen Drittel der Gesellschaft aus, mit wenigen Menschen in der prärationalen Stufe, und wohl noch weniger, die bereits die nächsten Stufen und Denkmuster anwenden.

Es ist schwer, sich über die Stufe hinaus zu entwickeln, in der sich die eigenen Eltern oder ein beträchtlicher Anteil der Gesellschaft befinden. Dies ist auf bewundernswerte Art auch in der Vergangenheit einzelnen Menschen immer wieder gelungen – Beispiele sind Abraham, Mose, David, Jesus, Paulus, um nur ein paar zu nennen.

Ich glaube, es ist diese Entwicklungslinie, diese Evolution des Denkens, welche das Neue enthält, auf das wir zusteuern.

Die Gemeinde in Europa ist im Allgemeinen auf der traditionellen Stufe angesiedelt, allerdings mit einem modernen Wahrheitsbegriff. Was früher klar als Mythos erkannt wurde – niemand glaubte vor der Moderne daran, dass die Schöpfungsgeschichte faktisch wahr wäre und sich genau so abgespielt hätte -, wird nun modern als historisch korrekt betrachtet und verteidigt. Zusätzlich wurden einige moderne und post-moderne Attribute integriert, das Meiste aber abgelehnt.

Die Gemeinde in Amerika ist von ihrer Organisation her modern, aber mit traditionellen Inhalten.

Viele Gemeinden in Europa haben damit zu kämpfen, dass die Gesellschaft, in der sie sich befinden, zu mehr als ⅔ modern und post-modern geprägt sind. Nur Schicksalsschläge wie Krankheit, Jobverlust, Scheidung bringen frühere Bewusstseinsstufen und Denkarten in den Vordergrund, worauf die Gemeinde dann wieder Antworten hat. So wird sie für Menschen in Krisen relevant, für die grosse Allgemeinheit hat sie allerdings an Relevanz verloren, wird im Gegenteil als reaktionäre Verhinderin empfunden.

Es ist einfach, dies als gottgewollten Zustand zu akzeptieren. Es ist unmöglich, für einen Reichen ins Himmelreich zu kommen. Für Gebildete ist das Kreuz eine Torheit. Denkt nicht, wie die Welt denkt.

Es ist auch einfach zu sehen, dass alle Beispiele, wie die Gemeinde in die Gesellschaft der Apostelgeschichte hinein gewirkt hat, durch traditionelle Ansätze und Werkzeuge geschahen. Das war das höchstmögliche weitverbreitete Denkmuster in der Zeit, mit einem Rom, dass sich vom Machtstaat zum traditionellen Reich entwickelt hatte, mit einem pharisäischen Israel, das klar traditionell war.

Für die Gemeinde ist es schwierig, sich weiterzuentwickeln. Erst muss sie erkennen, dass diese Weiterentwicklung von Gott ist. Darum muss sie glauben, dass Gott auch heute noch Neues tut. Und leider sind die Beispiele, wie diese neuen Denkmuster angewandt wurden, durchwegs fragwürdig. Da die Gemeinde sich nicht aus dem traditionellen heraus entwickelt hat, musste die Welt es ohne göttlichen Bauplan, ohne Vorbild tun, und scheiterte. (Eine sehr traditionelle Erklärung für einen traditionellen Leser, zu simpel für moderne und post-moderne Menschen. Aber ich spreche hier zu der traditionellen Gemeinde.)

Weiter ist die Moderne abschreckend. Die amerikanische Gemeinde hat moderne, wissenschaftliche Methoden genutzt, um ihre traditionellen Inhalte zu verteidigen. Daraus entstehen Kreationismus und Intelligent Design. Im Grunde aber blieb sie traditionell. Der Moderne wird unterstellt, Gott abschaffen zu wollen.

Die Theologie hat moderne und post-moderne Ansätze in der Forschung angewandt, z.B. die Textkritik und die Befreiungstheologie. An der Basis blieb die Gemeinde aber traditionell.

Daher finden wir in de Gemeinde vor allem drei Gruppen: Kinder bis zur abgeschlossenen Pubertät, die noch nicht komplexer denken können und noch keine Entscheidungsfreiheit haben. Menschen, die von ihrer Generation her zur Tradition gehören, oft über 50 oder von einem stark traditionellen Umfeld geprägt. Und Menschen mit Problemen, welche oft primär auf prärationalen Stufen denken wegen ihrer Probleme – es geht ums Überleben, um Sicherheit oder ums Dazugehören.

Die Ersten, so beobachten wir immer häufiger, entscheiden sich für ein traditionelles Denkmuster, oder hauen ab – was heute viel öfter der Fall ist.

Die Zweiten sterben schlicht und einfach aus. Darum sind viele Gemeinden überaltert.

Und die Dritten wird es immer geben, wie Jesus schon gesagt hat. Sie sind die primäre Zielgruppe der Gemeinde, aber Gott möchte, dass Alle gerettet werden. Wenn nur Menschen dieser Gruppe die Gemeinde ausmachen, wird sie tendenziell zur Selbsthilfegruppe – die Gefahr dazu besteht.

Ich bin davon überzeugt, dass das Neue, in das uns Gott hineinführen möchte, eine neue Bewusstseinsstufe ist. Eine Bewusstseinsstufe, welche heute erst selten existiert und den Namen Integral hat. Eine Stufe, welche erkennt, dass alle Stufen wertvoll und brauchbar sind, und alle Probleme bereiten, welche nur durch ein anderes Denken gelöst werden können.

Da jede Stufe das Denken der vorherigen voraussetzt, kann keine übersprungen werden. Die Gemeinde muss den schwierigen Weg in die Moderne finden, sich dort etablieren, danach die Post-Moderne annehmen und gestalten, um danach weiter zu wachsen.

Dies kann geschehen. Warum? Weil die meisten Gemeindemitglieder heute bereits modern denken in ihrem Beruf, und einige auch schon post-moderne Gedankenmuster in anderen Bereichen ihres Lebens anwenden. Doch kaum kommen sie zur Gemeinde, denken sie traditionell.

Das Neue wird über die nächsten 100 Jahre, so meine Schätzung, entstehen. Die Moderne, von der Reformation eingeleutet, wird zur Vollendung geführt. Daher die Worte bei uns in der Gemeinde: Was ich vor 500 Jahren hier in der Schweiz begann, werde ich zu Ende führen. Die Gemeinde wird modern.

Danach wird die Gemeinde post-modern und damit relevant für die grosse Menge der Menschen unserer Gesellschaft. Hier werden wir auch wieder Wunder und Zeichen erleben, welche durchaus Platz haben im post-modernen Denken, nachdem sie in der Moderne ausgeschlossen wurden. Wir haben, was wir glauben.

Und als letzter Schritt wird die Gemeinde wieder eine Vordenkerrolle in der Gesellschaft übernehmen – integral und holistisch. Der integrale, holistische Leib Christi wird jeden dort abholen, wo er gerade ist. Wie Gott es in der Bibel tat und auch heute noch tut.

Wird jede Gemeinde mitziehen? Ich glaube nicht. Es braucht Gemeinden auf der traditionellen, modernen und post-modernen Stufe, denn es wird immer Menschen auf diesen Stufen geben. Aber das Neue werden die erleben, welche weitergehen.

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