Passe Dich Deiner Kultur nicht so sehr an, dass Du reinpasst ohne nachzudenken. Römer 12:2a
Diese Übersetzung eines meiner Lieblingsverse – aus dem Englischen der Message Bible – bringt ganz neue Aspekte dieses Verses zum Vorschein.
Wie sind wir uns den Teil-Vers gewohnt? „Und stellt Euch nicht der Welt gleich“.
Diese gewohnte Übersetzung führt zu mehreren, wohl ewig gleichen Assoziationen:
„Die Welt“ wird gleichgesetzt mit „denen da draussen“, auf Deutsch, alle diejenigen, welche Jesus Christus noch nicht als persönlichen Retter angenommen haben.
Damit erhält der Satz den Sinn: wehrt Euch gegen die Einflüsse derjenigen, die nicht so denken, wie ihr es tut.
Das beinhaltet mehrere Punkte, die, gelinde gesagt, schwierig sind.
Erstens heisst es im Griechischen nicht „Welt“, sondern „Zeitalter“. Das mit „Welt“ übersetzte kosmos bedeutet Menschen und Raum, während aion Zeitalter, Zeitabschnitt, oder einfach nur Zeit bedeutet. Die Übersetzung „Kultur“ scheint hier wesentlich treffender.
Zweitens geht diese Auslegung von einem Dualismus aus: wir hier drinnen, die Geretteten, und die draussen, die Verlorenen. Wir haben recht, und sie unrecht. Wir gehören dazu, und sie – und jetzt mal die fromme Variante – gehören noch nicht dazu.
Die Verse in Johannes 17:14.16 – sie sind nicht von dieser Welt, wie auch ich nicht von dieser Welt bin – verwenden übrigens das Wort kosmos. Er zeigt auf, dass unser Ursprung und Ziel, unser Zweck und Sinn nicht in diesem materiellen Kosmos zu finden ist.
Zurück zu unserem Vers. Was, wenn mit Kultur nicht die uns fremde Kultur gemeint ist, sondern unsere eigene Kultur?
Sicherlich ich das nicht ausschliesslich gemeint. Unsere Gemeindekultur unterscheidet sich ja von der Kultur des Landes oder der Bevölkerungsgruppe – nur nicht so sehr, wie wir das glauben.
Aber auch unsere Gemeindekultur wird zu einfach zu einer nicht hinterfragten und nicht zu hinterfragenden Umgebung, einer Lebensart mit festen Konventionen, welche anders zu denken verbietet oder doch mindestens genügend bestraft, dass es zu unbequem wird, dies zu tun.
Oft werden auch rationale Argumente verwendet, um Nachdenken oder auch die Veränderung des Denkens wenn nicht zu verhindern, dann doch mindestens davon abzuschrecken.
Unsere Zweifel könnten andere anstecken, unsere abweichenden Ansichten könnten die uns anvertrauten Menschen verwirren, unsere neuen Herangehensweisen zu einem Jekami aufrufen. Darum halten wir uns an die Tradition, an die verankerte Kultur.
Unsere Gemeindekultur ist schon lange durchdrungen mit der uns umgebenden Kultur. Jedes Mitglied ist in einer Subkultur aufgewachsen und bringt Denkmuster, Axiome, Herangehensweisen bei der Problemlösung mit. Viele davon werden in der Gemeinde nicht herausgefordert, andere schon.
Anders ist es bei den Glaubensinhalten. Diese werden gepaukt. Oft scheint es wichtiger, die richtigen Fakten zu glauben, als auf eine bestimmte Art zu denken. Denken ist unbequem, Glauben erstrebenswert.
Wir haben nur ein Problem. Was sind Fakten?
In der Aura Trump hat man den Begriff post-faktisch geprägt. In der Modernen wurde der Begriff Fakt definiert als objektiv wahr. In der Post-Modernen wurde uns klar, dass alles durch unsere Sinne innerhalb unseres Bezugssystems, unserer Kultur interpretiert wird, und daher subjektiv ist.
Die Post-Moderne behauptet, dass es keine absolute Wahrheit gibt. Trotzdem sieht sie viele wissenschaftliche Ergebnisse als Fakt im Gegensatz zu Meinung oder Werten an, hält also zu mindestens für einen Teil unseres Wissens an der Absolutheit, an der Objektivität fest. Was mit wissenschaftlichen Methoden erarbeitet wurde, ist allgemein gültig innerhalb der beschriebenen Parameter.
Schon die Moderne hat Glaubensinhalte als prärational und damit als falsch klassifiziert, da nicht wissenschaftlich beweisbar. Die Post-Moderne ist hier vergebender, gibt sie Glaubensinhalten doch eine Daseinsberechtigung im Bereich der subjektiven Werte. „Das glaubst Du – ich sehe das anders.“ Wird die Meinung des anderen toleriert, heisst das gleichzeitig, dass ich meine Meinung neben seiner stehen lasse und sie nicht verteidige. Damit entsteht kein Diskurs, kein Dialog, keine gegenseitige Befruchtung, und letztendlich kein Wachstum. Allerhöchstens Polarisierung.
Was aber ist post-faktisch? Wenn wissenschaftliche Fakten erarbeitet werden, geschieht das in drei Schritten:
Ich identifiziere ein Problem. Ich stelle eine Hypothese für dessen Lösung auf. Ich verifiziere diese Hypothese durch Experimente.
Die Wahl des Problems ist subjektiv – nicht jeder sieht die gleichen Dinge als Problem. Die Hypothese wird meist nicht logisch aufgestellt, sondern entspringt der Kreativität und Intuition des Wissenschaftlers, und ist somit subjektiv. Eine Hypothese wird oft nicht schon dann verworfen, wenn einige Experimente sie nicht bestätigen, sondern wenn eine bessere Hypothese gefunden wurde. Auch dies ist oft ein subjektiver Prozess.
Post-faktisches Denken zieht also auch Fakten auf die Seite der Werte. Ereignisse werden subjektiv bewertet – das wurden sie ja schon immer, aber durch Konventionen und Diskurs einigte man sich oft auf eine Auslegung. Die Verschiebung der Fakten in die Subjektivität, in Zusammenarbeit mit der post-modernen Toleranz, erlaubt mir nun die Verweigerung dieses Dialogs zur Findung eines Konsens.
Natürlich endet die Toleranz oft auf dieser Ebene der Bewertung von Fakten. Über die Inhalte und Interpretationen wird dann trefflich gestritten, oder besser, über die daraus abgeleiteten Hypothesen zum weiteren Vorgehen. Hier fehlt dann die Toleranz, und dem Andersdenkenden wird Intoleranz vorgeworfen.
Was bedeutet dies nun für die Gemeinde? Die Gemeinde sieht die Bibel als Quelle von Fakten, während der menschliche Verstand, da von Gott abgefallen, höchstens Meinungen produzieren kann. Die Gesellschaft bewertet dies genau umgekehrt.
Allerdings machen beide einen entscheidenden Fehler: der Verstand ist keine Wissensquelle, sondern ein Werkzeug zur Interpretation.
Dies hat weitreichende Konsequenzen. Die Interpretation der Bibel ist genauso subjektiv wie der Prozess der Wissenschaft, selbst mit der Hilfe des Heiligen Geistes, welcher sich unserer Kommunikationsfähigkeit durch Verstand und Emotionen bedient, um mit uns zu reden – subjektiver Werkzeuge also.
Gibt es jetzt gar keine absolute Wahrheit, keine Fakten? Ist alles, selbst die Bereiche der Welt, bei denen die Post-Moderne nicht mutig genug war, sie als subjektiv zu bezeichnen, subjektiv?
Die Erkenntnis, dass alles subjektiv ist, kann scheinbar helfen, die Konflikte zwischen Religionen und zwischen Religion und Wissenschaft und auch politischer Systeme zu lösen. Allerdings beinhaltet Toleranz keine Reibung, keine Herausforderung, kein Wachstum, wie wir gesehen haben.
Der Mensch ist von Natur aus neugierig. Neugier ohne Sinn und Ziel – wozu? Könnte es eine Realität, eine Wahrheit geben, die uns verschlossen bleibt, der wir uns aber durch eine ehrliche Suche annähern können?
Um dies zu tun, braucht es ein paar grundlegende Dinge.
Den Zweifel. Zweifel heisst nicht, nichts zu glauben. Zweifel heisst, etwas anderes zu glauben. Ehrlicher Zweifel bedeutet, die eigene Meinung an der anderen zu messen und gegebenenfalls Korrekturen vorzunehmen.
Die eigene Handlungsfähigkeit. Ist der Mensch nicht frei in seinen Entscheidungen, ist seine eigene Meinung ohne Konsequenzen, da aufoktroyiert.
Liebe. An die Stelle von Toleranz muss die Liebe treten. Die Liebe nimmt das Gegenüber ernst, während die Toleranz im Grunde genommen reine Verachtung darstellt und zu einem ganz neuen Narzissmus führt – Du bis irrelevant.
Eigenständiges Denken. Passe ich mich meiner Kultur so sehr an, dass ich reinpasse ohne nachzudenken, dann bin ich irrelevant.
Ich wünsche mir eine Gemeinde, die sich an Wundern freut, das Abenteuer sucht, die objektive Wahrheit erkennen möchte, den Verstand als subjektives Werkzeug ehrt, den anderen achtet in seiner Andersartigkeit, in der sich alle gegenseitig herausfordern und anspornen zu neuem Denken, Fühlen und Handeln.