Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt. Joh 13:35
Eine Gemeinschaft fusst auf Hingabe und ehrlicher Kommunikation. Beides ist Teil einer guten Definition von Liebe, geht es doch bei Liebe darum, den anderen höher zu achten als sich selbst, so sehr, dass man Pläne und Träume teilt, den anderen ermutigt, aber wenn nötig auch ermahnt und korrigiert.
Das tönt nach einem Artikel über Regeln und Hierarchien, Lehre und Doktrin, gut und böse, richtig und falsch. Da muss ich Dich enttäuschen. Aber lies selber weiter.
Es ist wahr, Hingabe, Ermutigung und Ermahnung haben in den letzten paar hundert Jahren eine bestimmte Färbung erhalten, welche alles andere als ermutigend ist. Man sieht geradezu den Mahnfinger.
Wenn das für Dich nicht zutrifft – schätze Dich glücklich.
Für mich ist Hingabe eine Wegwendung vom Ego und eine Verpflichtung aus freien Stücken an das Gegenüber. Eine Verpflichtung nicht, weil es verlangt wird, weil man sonst nicht dazugehört. Aus Liebe.
Ehrliche Kommunikation beinhaltet für mich, dass es keine Tabus gibt, keine ungeschriebenen Gesetze, keine Erwartungen, was gesagt werden darf und was nicht. Ich meine damit nicht die Freiheit, zu fluchen, und auch nicht das Ausbreiten von intimen Details in der Öffentlichkeit. Ich meine, dass alles angesprochen werden darf, was angesprochen werden sollte.
Wie bildet sich eine Gemeinschaft?
Eine Gemeinschaft bildet sich über 4 Phasen, wie der christliche Psychiater Scott Peck beschrieben hat.
Jede dieser Phasen hat positive und negative Seiten – negative vor allem dann, wenn die Phase zu lange andauert.
Wie lange eine solche Phase dauert, ist unterschiedlich. Manchmal fühlt man sich in einem Tornado, dann wieder geht es ewig. Oder fühlt sich wenigstens so an.
Phase 1 – die Pseudogemeinschaft
In einer Pseudogemeinschaft sind sich alle einig, dass sie das Gleiche glauben. Die gleichen Werte, Interessen, Ziele haben. Schliesslich sind wir alle Christen, und da ist es ja klar, welche Werte und Glaubensinhalte wir haben. Die Bibel sagt uns das.
Aber man hat noch nie darüber gesprochen.
Plötzlich wird einem klar, dass der andere sich etwas anderes unter Freiheit vorstellt, Liebe anders definiert, und die Offenbarung anders auslegt.
Ja sogar Verse und Glaubensinhalte, Gottesbild und Leitungsverständnis unterscheiden sich.
Es besteht die Gefahr der Gruppenbildung, wie es in Korinth geschah: ich glaube an Paulus, der andere an Petrus, der Dritte an Jesus oder Apollos.
Da man nie weiss, wie der andere reagiert, wird über gewisse Themen nicht gesprochen. Die fromme Begründung: man möchte den anderen nicht verwirren, wenn er noch nicht so weit ist. Schliesslich hat es uns Paulus so geraten.
Das Vertrauen schwindet, Frust und Ärger kommen auf. Es ist Zeit für die zweite Phase.
Phase 2 – Chaos
Ach, wie ermutigend. Aber endlich wird über die Differenzen und Zweifel gesprochen. Man merkt, dass die unterschiedlichen Gottesbilder und Glaubensgebäude, kulturellen Hintergründe und Erfahrungen grossen Einfluss haben.
Wie komplex denkt jemand? Ist Gott ein böser alter Mann, ein Rachegott, ein strukturierter Gott des Gesetzes, ein personaler und persönlicher Gott, ein entmythologisierter Gott, oder zeigt er sich in den 3 Gesichtern Gottes?
Ist die Motivation für den Glauben das Überleben, Sicherheit, die Überwindung des Bösen, das Dazugehören, gerettet Sein, die persönliche Entfaltung? Oder will man über sich hinauswachsen?
Dies sind nur zwei Ansatzpunkte, Gottesbild und Glaubensziel. In dieser Phase können, dürfen und müssen alle Differenzen auf den Tisch.
Hier sind verschiedene Strategien möglich:
- geordnet, geführt, hierarchisch, und die richtige Meinung wird von der gesalbten und von Gott eingesetzten Leitung festgesetzt.
- analytisch und nüchtern, die Verursacher und Störenfriede werden gefunden und gegebenenfalls eliminiert.
- tolerant und konfliktfrei werden die Probleme wegdiskutiert, und die problembewussten wachen Köpfe gehen von selber.
Zurück in die glückliche Phase 1.
Alle drei Strategien führen nicht zum gewünschten Ziel, sondern zu Gemeindespaltungen, Gemeindewechsel, sogar Glaubensaufgabe.
Man kann auch anders an das Ganze herangehen. Eigentlich geht es ja gar nicht um Personen, um richtig und falsch, sondern um den Beginn eines Prozesses in tiefere Erkenntnis und authentische Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft, welche Paradoxien und gegensätzliche Meinungen zulassen, würdigen, ja hochhalten kann. Das führt dann zu Phase 3.
Phase 3 – Leerwerden
Nein, damit meine ich nicht das Gemeindegebäude. Es geht darum, dass jeder sich fragt, was ihn hindert, der Gemeinschaft zu vertrauen. Warum kann er sich nicht voll hingeben, offen und ehrlich kommunizieren? Wo ist er selber das Problem? Blockiert, auf andere zuzugehen? Selbstgerecht, voller Vorurteile?
Wie hoch ist das Risiko, dass ich falsch verstanden werde? Wo weiche ich Konflikten aus? Wage ich es trotzdem?
Es geht also mal darum, sich vor sich selbst auszuleeren und im besten Fall loszulassen von allen Barrieren. Als Vorbereitung auf das allgemeine Priestertum. Phase 4.
Phase 4 – vertiefte Gemeinschaft
In dieser Phase werden Unterschiede friedlich anerkannt. Nicht toleriert. Toleranz greift zu kurz. Wenn ich die Meinung des anderen toleriere, sieht das so aus: Du glaubst das, aber für mich ist das richtig. Ich lasse Dir Deinen Glauben.
Hier wird nicht toleriert, denn Toleranz ist eine Sackgasse. Geistliches Wachstum ist nicht mehr möglich. Mein Glaube kann sich nicht mehr an Deinem schleifen.
Peter Rollins (irischer Theologe und Philosoph) geht das ganz anders an. Er besucht andere Gruppen und lässt sich missionieren. Er hört der Meinung der anderen zu, und vergleicht mit seinem eigenen Glauben. Ja, er schärft den eigenen Glauben an dem des anderen. Manchmal erlauben die anderen ihm, seinen Glauben darzustellen, und tun dasselbe.
In dieser Phase sehe ich die Möglichkeit, dass ich am anderen wachsen kann. Und ich lerne, dass wir für gewisse Dinge keine Antwort kennen, die richtig oder falsch ist. Das paradoxe, sich scheinbar widersprechende Aussagen gleichzeitig existieren können, vielleicht auch in einem Dritten aufgehen können.
Im Paradies standen zwei Bäume. Der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Die Kategorisierung in richtig und falsch kommt vom falschen Baum. Die Frage lautet: was bringt Leben? Und das kann von Person zu Person, von Situation zu Situation unterschiedlich sein.
Und dann?
Wenn sich in dieser gefundenen Freiheit, in diesem Frieden neue nicht angesprochene Dualitäten, Widersprüche, Dogmen oder Tabus einschleichen, wird die Phase 4 zur neuen Phase 1.
Gemeinschaft ist ein Prozess, kein einmaliges Ereignis.
Triebkraft ist die Liebe, Werkzeug die ehrliche Kommunikation.
(Angelehnt an „Integrales Christentum: Einübung in eine neue spirituelle Intelligenz“ von Marion Küstenmacher, Gütersloher Verlagshaus, Kapitel „Die Kunst, eine Gemeinschaft zu bilden“.)