Ein anderer Wahrheitsbegriff

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Wenn Du zufällig auf diesen Artikel gekommen bist: er ist der dritte in einer Reihe. Ich würde also empfehlen, am Anfang zu beginnen. Ich warte hier.

Jetzt, wo wir alle auf dem gleichen Stand sind, gehts weiter im Takt.

Alle meine Versöhnungsversuche zwischen der Schöpfungsgeschichte und den wissenschaftlichen Theorien griffen zu kurz. Einige meiner Kollegen, die mich dazu herausgeforderten hatten, diese Diskrepanz zu erklären, waren sogar zufrieden mit meinen Erklärungen, aber mir genügten sie nicht. Zu löcherig war die Argumentation.

Bibelauslegung

In der Bibelauslegung lernen wir, eine Exegese zu machen. Was hat die Geschichte für die Menschen bedeutet, an welche sie zuerst weitergegeben wurde? Natürlich würde Gott nichts weitergeben lassen, was nicht Sinn ergeben und verständlich wäre für den ursprünglichen Hörer.

Ein sehr gutes Prinzip. Wir lernen die historischen Begebenheiten, die vorherrschende Kultur, das voraussehbare Wissen in unsere Betrachtungen mit einzubeziehen.

Aber wir lassen etwas Entscheidendes aus: die Menschen zu jener Zeit hatten nicht nur andere Lebensumstände, sie hatten ein fundamental anderes Verständnis der Welt. Eines, dass nicht wissenschaftlich auf Fakten und Experimenten, Statistiken und Empirie beruhte.

Es ist eine Zeit der Moral, der Ordnung, der Regeln, der Struktur. Die Suche nach Sinn und Bestimmung im Leben steht im Mittelpunkt. Man sehnt sich danach, das Leben einem höheren Zweck zu widmen und erlangt Zufriedenheit im Dienste eines Ideals oder einer Autorität. Soziale Bedürfnisse der Zugehörigkeit sollen erfüllt werden – genau das, was ich gesucht hatte, als ich mich für die Gemeinde entschied.

Wahr ist, was diesem Ziel dient. Wie habe ich es ausgedrückt: Der Mensch von damals wollte durch das Erzählen von Geschichten dem Hörer Leben spenden. Leben spenden im Sinne von: Sinn geben, Freude spenden, moralische Verbesserung herbeiführen, Zugehörigkeit bestätigen.

Der sich daraus ergebende Wahrheitsbegriff hat einen wesentlich grösseren Einfluss auf unsere Interpretation der biblischen Geschichten als die Tatsache, dass man damals in einer Agrar-Kultur lebte.

Was heisst das für unser Beispiel, die Schöpfungsgeschichte?

Eine neue Interpretation

Was, wenn die Schöpfungsgeschichte genau das ist: eine Geschichte. Genau gesagt, zwei Gedichte – die Schöpfung selbst, und die Geschichte im Paradies.

Die theologische Forschung geht heute, vorsichtig ausgedrückt, davon aus, dass die fünf Bücher Mose in ihrer uns bekannten Form zur Zeit des Exils in Babylon und eventuell kurz danach durch verschiedene Schreiber erstellt und aus früheren Quellen zusammengetragen wurden. Von diesen früheren Quellen sind keine Abschriften vorhanden. Es wurden also textkritische Methoden verwendet, um sagen zu können, welche Schreiber wohl welche Teile zum Gesamtwerk beigetragen haben. Das ist Literatur-Archäologie vom Besten, aber immer mit Unsicherheiten behaftet. Der Schreibstil, die Verwendung bestimmter Wörter wie z.B. die Benennung Gottes entweder als Elohim oder als Jahwe, geben Hinweise.

Für unsere Betrachtung hier genügt es zu wissen, dass die Verfasser wahrscheinlich die babylonische Kultur gekannt haben.

In Babylon gab es eine Schöpfungsgeschichte, die der biblischen sehr ähnlich ist. Die Unterschiede sind aber genauso eklatant und wichtig:

Die biblische Schöpfungsgeschichte spricht von einem Gott, während die babylonische mehrere Götter beschreibt, bei der der Sohn die Mutter zerteilt und aus den zwei Hälften Erde und Himmel formt.

In der Bibel wird dem Menschen auch ein Wert zugeschrieben, der so einzigartig ist. Geschaffen im Ebenbild Gottes, sprach Gott über uns aus: siehe, es ist alles sehr gut. Der Mensch als Gott gleiches Gegenüber, nicht als Spielball und Zirkus der Götter.

Ist es das, was uns der Schreiber mitteilen will? Es gibt nur einen Gott, er hat alles geschaffen, besonders auch den Menschen, und Du bist wertvoll, ja mehr als das, Du bist wie er?

Wenn die Bibel also von einem wertvollen Menschen ausgeht, mit dem Gott Gemeinschaft haben will, bedeutet dann die zweite Geschichte auch etwas anderes als die traditionelle Auslegung? Diese führt ja dazu, dem Menschen seinen Wert abzusprechen, weil er rebelliert hat, und sieht die ewige Bestrafung des Menschen vor. Natürlich gibt es einen Ausweg, unter bestimmten Voraussetzungen.

Ich kann mir sogar vorstellen, dass dies dem Weltbild des Schreibers ziemlich entsprach. Wir sind im Zeitalter des Gesetzes. 

Und auch für die Moderne macht diese eigentlich traditionelle Auslegung Sinn. Versagen tritt an die Stelle von Ungehorsam. Die Lösung ist neu Leistung anstelle von Gehorsam.

Ich habe dies persönlich erlebt: im katholischen Internat wurde ein Fehler vergeben, wenn wir zukünftigen Gehorsam versprachen, während in der modernen Schule mehr Anstrengung Versagen ausbügeln konnte.

Und doch regten sich bei mir wieder Zweifel. Doch dazu später mehr.

Die zweite Geschichte

Was aber, wenn die Geschichte mit Adam und Eva im Paradies gar keinen Sündenfall beschreibt? Was wenn der Schlüsselsatz ist: und ihnen wurden die Augen geöffnet?

Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Ein ausgebildetes Bewusstsein, vor allem ein Selbstbewusstsein. Menschen sind sich ihrer selbst bewusst. Manche Tiere erkennen sich im Spiegel, haben also ein sogenanntes Protobewusstsein. Aber der Mensch wuchs darüber hinaus.

Was wenn die Geschichte im Paradies ein Gedicht über diesen Zeitpunkt in der Entwicklung des Menschen ist?

Ich nähere mich jetzt mal sehr konkret an diesen Gedanken an. Einer der grössten Feinde des Menschen im Zeitalter der Jäger und Sammler war die Schlange, da sie sehr schwer zu entdecken war. Zusätzlich musste der Mensch Nahrung in Form von Beeren und Früchten ausmachen können. Dies führte zu einem schärferen Sehsinn mit Mustererkennung und Farbunterscheidung. Kein Wunder, kommt der Feind in der Geschichte als Schlange daher, und geht es um eine Frucht. 

Der Linguist Chomsky hat in seiner Forschung gezeigt, dass sich Bewusstsein und Sprache zuerst in einem Mann und einer Frau zeigen musste und wohl nicht überall gleichzeitig erschien.

Dieser Moment des Erwachens ermöglichte es dem Menschen, richtig und falsch zu erkennen. Wie das?

Eine Entscheidung führte zu Konsequenzen. Entweder waren diese wünschenswert und somit das Handeln gut, oder negativ und demnach war das Handeln schlecht. Solche moralischen Normen entwickelten sich über Jahrtausende und führten schliesslich zu Gesetzen und Regeln.

Das wichtigste Element des Erwachens war es also, die Zukunft antizipieren zu können. Man konnte die Auswirkungen einer Handlung voraussehen – durch Erfahrung und deren Interpretation, wobei vieles davon reiner Aberglaube war.

Die Geschichte spricht dies an: der Mann wird sein Brot im Schweisse seines Angesichts erwerben, und die Frau Schmerzen haben bei der Geburt. Und trotzdem wird der Mensch arbeiten und gebären, wegen dem Lohn, der dahinter liegt.

Schweiss und Schmerzen sind nur problematisch für bewusste Wesen, aber genau dieses Bewusstsein ermöglicht es dem Menschen, sie in Kauf zu nehmen.

Das Selbstbewusstsein des Menschen zeigt sich in der Erkenntnis, „dass sie nackt waren“.

Ich möchte in einem nächsten Artikel genau diese Entwicklung im Leben eines Menschen nachvollziehen.

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