Warum feiern wir Gottesdienste?

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Und lasst uns unsere Zusammenkünfte nicht versäumen, wie einige es tun, sondern ermutigt und ermahnt einander, besonders jetzt, da der Tag seiner Wiederkehr näher rückt! Hebräer 10:25

Warum sind heute Gottesdienste noch wichtig? Könnte die ganze Lehre nicht über das Internet bezogen werden?

Ratio

Die Antwort liegt in der Entwicklung des Menschen begründet. Denn als erstes ist hier zu sagen, dass es sich bei diesem Vers nicht um ein Gebot handelt, sondern um einen Rat aus Liebe.

Die Begründung liegt auch nicht in Jesu Wiederkehr. Nach gewissen Auslegungen ist diese bereits geschehen, als der Tempel in Jerusalem zerstört wurde. Nach anderen Auslegungen scheint die Aussage, dass sie bald bevorstünde, doch etwas gewagt im Angesicht dessen, dass der Text schon fast 2000 Jahre alt ist.

Diese bald erwartete Rückkehr sollte nur die Notwendigkeit unterstreichen, die Notwendigkeit gegenseitiger Ermutigung und Ermahnung.

Doch auch Ermutigung und Ermahnung brauchen keine physische Nähe. Telefon, Internet, vor allem aber Videotelefonie können durchaus auch dafür verwendet werden. Paulus selber hat durch Briefe ermutigt.

Ging es also nur darum bei den Zusammenkünften, dann können diese Zusammenkünfte durchaus auch virtuell stattfinden.

Warum ist dann ein Gottesdienst, bei dem wir uns in einem Raum versammeln, immer noch so wertvoll?

Der Mensch hat die verschiedensten Bedürfnisse. Diese Bedürfnisse wachsen im Lauf seines Lebens. Aber sie verschwinden nie.

Reifen

Als Baby hat der Mensch das Bedürfnis, zu überleben. Dazu braucht es Essen, Trinken, Körperpflege, Schlaf und Liebe.

Als Kleinkind beginnt der Mensch zu verstehen, dass es andere Menschen und Dinge gibt, und dass nicht alles nur eine Erweiterung seiner selbst ist. Die Familie wird zum Bezugspunkt, zum Ort, an dem das nächste Bedürfnis gestillt wird: Sicherheit.

Ein Kind, das sich sicher fühlt, wird daraufhin die Welt erkunden. Das Bedürfnis nach Abenteuer, der Möglichkeit, die eigene Kraft auszuprobieren.

Diese Kraft aber läuft oft aus dem Ruder. Der Kampf ums Spielzeug zeigt dies – da kennen die Kinder echt keine Grenzen. Bis sie ihnen aufgezeigt werden und Regeln, Hierarchien, Ordnungen erscheinen. Soziale Bedürfnisse der Dazugehörigkeit.

In der Zeit, als die Bibel geschrieben wurde, waren dies die fundamentalen Bedürfnisse, welche die Menschen kannten und hatten.

Seither hat der Mensch das Bedürfnis nach Prestige – ich will etwas Wert sein, etwas gelten und etwas erreichen – und Eigenwert entwickelt. Die Lebensumstände hatten sich weiterentwickelt, die Probleme brauchten neue Lösungen, welche durch die bisherigen Denkstrukturen nicht greifbar waren.

Das Wichtige aber ist:

Jedes dieser Bedürfnisse lebt auch im Menschen von Heute weiter. Die Meisten sind gestillt, wenigstens hier im Westen. Wir überleben ganz gut – die Lebenserwartung zeigt dies. Es ist sicher, die meisten Menschen haben die Kontakte, die sie zur Befriedigung ihrer sozialen Bedürfnisse brauchen. Erfolg, Wissen, Laufbahn, Prestige sind mehr oder weniger allen zugänglich, und die Menschen beginnen, den Wert eines jeden Einzelnen zu sehen.

Doch sind die Bedürfnisse der einzelnen Entwicklungsstufen natürlich komplexer als diese Schlagworte.

Rituale

Der Mensch braucht eine Umgebung, in der er sich sicher fühlt. Eine Familie. Er braucht Rituale, welche diese Familie ausmachen und abgrenzen gegenüber anderen Familien. Rituale, welche ein Heim definieren.

Solche Rituale haben oft einen tieferen Sinn. Wir sind oft nur zu schnell bereit, die Rituale anderer Gemeinschaften als Aberglauben abzutun, aber genau dieser magische oder spirituelle Anteil ist Sinn stiftend und verbindet emotionell.

Der Gottesdienst in einer Kirche bietet viele solche Rituale: der gemeinsame Lobpreis, das gemeinsame Gebet, das Abendmahl, der Kirchenkaffee, das gemeinsame Essen.

Gottesdienste, gemeinsam erlebte Rituale bilden also den Kit einer Gemeinschaft.

Regeln

Gleichzeitig bieten die Regeln, ob geschrieben oder ungeschrieben, eine zusätzliche Sicherheit: sie zeigen dem Einzelnen, wie er sich verhalten muss, damit er oder sie dazu gehört. Sie erlauben es, Missbrauch auch durch Leiter zu unterbinden. Sie verbinden moralisch.

In einer solchen starken Gemeinschaft, verbunden durch gemeinsame Rituale und einen Codex, ist es auch möglich, etwas zu wagen. Das Bedürfnis nach Abenteuer durch Evangelisationseinsätze, das Wagnis, die Welt da draussen zu konfrontieren, ja sogar die Dämonen – ein typisches Element der magisch-rituellen Denkstufe – zu attackieren.

Relevanz

Ein Problem entsteht, wenn diese Rituale und der Codex in Frage gestellt werden. Bis zu dieser Stufe wird der Codex moralisch ausgelegt, im Sinne von Verhaltensregeln, ja als Verfassung und Gesetz.

Viele der spirituellen und magischen Inhalte der Rituale werden durch die Wissenschaft scheinbar als Aberglaube entlarvt und erklärt. Auch die Textinhalte werden hinterfragt: sind sie historisch wahr, authentisch oder später hinzugefügt. sind die Methoden der Textanalyse valide und zielführend? Inwiefern spielt uns unser eigenes Denken, unsere eigene kulturelle Brille einen Streich?

Es braucht eine ganze Weile, bis der Mensch erkennt, dass etwas wissenschaftlich erklärbar oder widerlegbar sein, und trotzdem einen spirituellen tieferen Sinn haben kann. Diese Dinge schliessen sich nicht aus.

Das Abendmahl wird daher beispielsweise neu als Symbol der Gemeinschaft mit Christus gefeiert, und es wird nicht mehr angenommen, dass der Wein tatsächlich zu Blut wird. Der verbindende, magisch anmutende spirituelle tiefere Sinn bleibt erhalten.

Wenn der Mensch erkennt, dass scheinbare Widersprüche durchaus nebeneinander existieren können – in der Quantenmechanik ist Materie auch Energie, Teilchen sind auch Wellen – und dass wir Orte brauchen, an denen wir unsere Bedürfnisse stillen können, werden auch Gottesdienste wieder wichtiger.

Alternativen gibt es heute kaum. Volksriten sind häufig sinnentleert. Vereine wenig Sinn stiftend.

Reformation

Doch wird der Gottesdienst sich wandeln. Es ist richtig: Doktrin kann ich überall einholen. Das Vertrauen in die Quellen ist entscheidend, und das postfaktische, postmoderne Zeitalter macht derzeit einen sehr guten Job, dieses Vertrauen zu zerstören.

Es sind wiederum die sozialen Aspekte der Gemeinde, die Familie und die moralische Interessengemeinschaft, welche solches Vertrauen stärken. Mehr und mehr werden aber weitere Anforderungen an die Quellen gestellt: Wissen, Fähigkeit, etwas zu erklären, Weltoffenheit.

Natürlich nicht überall. In der klassischen Gemeinde ist es wichtig, dem Alten treu zu sein, sich klar abzugrenzen, und Glauben im Gehorsam steht wesentlich höher als Wissen. Hier ist es wichtig, bestätigt zu werden in der eigenen Meinungen und in einer Informationsblase leben zu können. Das bringt Sicherheit und macht Veränderung und Denken unnötig.

Doch im neuen Zeitalter werden Menschen wieder offene Fragen stellen, neugierig sein, und es schätzen, wenn ihnen kompetente Personen zur Seite stehen.

Mehr und mehr begreifen wir, dass die Welt komplex ist. Sie funktioniert chaotisch, was nicht heisst, dass sie ein Chaos ist, sondern dass sie nicht voraussagbar handelt, entsprechend der Chaostheorie.

Das bedeutet: ein Hirte kann seine Schäfchen nicht führen. Eigentlich konnte er das nie, aber es wird ihm erst jetzt bewusst. Auch mit der Leitung des Heiligen Geistes bleibt das Ganze eine gemeinsame Entdeckungsreise. Pastoren sind demnach bestenfalls Begleiter, die bei ihren Freunden ein hohes Vertrauen geniessen und die sich auf bestimmte Aufgaben konzentrieren können, während die Menschen, welche sie begleiten, sich anderen Aspekten zuwenden können.

Eine Gemeinde wird immer folgende Aspekte beinhalten und zur Verfügung stellen:

Eine Familie mit Ritualen und ganz eigenen magischen Momenten und Elementen, welche uns verbinden, ein Zuhause schaffen, und so vertrauen ermöglichen.

Einen Codex, der die Leitplanken des Handelns bestimmt und so Sicherheit bieten und das Vertrauen weiter stärkt.

Ein Vokabular, welches uns die Verständigung ermöglicht.

Eine Gemeinschaft der unterschiedlichst begabten Menschen, welche sich ergänzen und unterstützen können.

Ein Trainingszentrum und Ausgangspunkt für Abenteuer.

Dabei spielt der Gottesdienst eine wichtige, aber nicht die einzige Rolle.

Lange genug wurde Gemeinde mit Gottesdienst gleichgestellt. Finden wir neue Formen, und behalten die wichtigen Elemente des Alten bei. Unter anderem die Gottesdienste.

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