Gibt es noch Neues?

Lesedauer 6 Minuten

Dann fügte er noch hinzu: »Jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger im Himmelreich geworden ist, ist wie ein Hausherr, der aus seinem reichen Vorrat Neues ebenso hervorholt wie Altes.«

Matthäus 13:52

Werfen wir einen Blick in die Entwicklung unseres Glaubens in den letzten 600 Jahren.

Vor 600 Jahren sehen wir die Vordenker der Reformation: Huss, Wycliff. Sie sterben für ihre Gedanken als Märtyrer oder Ketzer, je nach Sichtweise, und doch sind es ihre Schriften, welche Luther beeinflussen – und dank ihm und anderen Reformatoren wie Zwingli verändert sich unser Glauben von Grund auf.

Glaube, Rettung, das Heil wird wieder als Gnadengabe erkannt. Doch diesmal nicht an eine Gemeinschaft (Ich aber und mein Haus …), sondern als Geschenk an das Individuum.

Es wird erkannt, dass das Wort Gottes für alle ist, nicht nur für die Priesterklasse.

Ein erstes Mal nach mehr als 1000 Jahren sind es auch Laien, welche predigen – wenn auch nur in den Täuferbewegungen, welche bald von der reformierten Kirche verfolgt werden. Quäker feiern besondere Gottesdienste, in denen sie auf Gott hören und derjenige predigt, der etwas von ihm empfängt.

Doch schon bald verschwinden diese Neuigkeiten wieder und es entsteht eine neue Klasse der Vollzeiter, welche eine Bibelschule, wenn nicht sogar ein Theologiestudium brauchen.

Die Bibel allerdings zeigt uns relativ klar, dass Bildung und Verkündigung nicht unbedingt zusammengehören müssen.

Noch Jahre nach der Reformation waren andere Wahrheiten der Bibel, die uns heute so klar erscheinen, unter theologischen Überlegungen verborgen.

Der Vers, der uns sagt, dass wir unsere Rettung täglich erarbeiten sollen, wurde so verstanden, dass wir keine Heilsgewissheit haben können und diese täglich erkämpfen müssen (Philipper 2:12). Erst durch die grosse amerikanische Erweckung und die Herrenhutter wurde dieses Geschenk Gottes wieder entdeckt und der Vers anders ausgelegt als die tägliche Arbeit an unserer Seele, unserem Charakter.

Ähnlich war es mit den Geistesgaben und den Ämtern des fünffachen Dienstes. In 1. Korinther 13:10 steht: Doch wenn das Vollkommene erscheint, wird das Stückwerk vergehen. Da vorher von Prophetie und anderen Geistesgaben, aber auch von der Zungenrede die Sprache war, war dies wohl das Stückwerk.

Aber heisst das, das alles, was Stückwerk war, vergehen wird? Oder wird das „Stückwerk sein“ vergehen? Man könnte eher sagen: wird die Begrenzung aufgehoben. Was Stückwerk war, wird vollkommen.

Aber etwas anderes stand viel mehr im Weg: was war das Vollkommene? Ab dem 4. Jahrhundert wurde die Bibel als das Vollkommene betrachtet. Da man nun das schriftliche Wort (logos) hatte, waren die Geistesgaben (rhema) nicht mehr notwendig.

Ähnliches musste für die Ämter gelten, sah man sie doch nicht mehr in der Gemeinde. Dieselbe Bibelstelle (1. Korinther 10:13) wurde zur Begründung herbeigezogen. Dasselbe wurde übrigens mit der Heilung gemacht.

Ein neuer Blick auf die Bibelstelle und das Wirken des Geistes Gottes mündete in der Heilungsbewegung und der darauf folgenden Pfingstbewegung. Hier wurde erkannt, dass die Bibel nicht das Vollkommene war, sondern Jesus Christus, war doch „die Erfüllung“ die wesentlich bessere Übersetzung als „das Vollkommene“. Wenn er wieder kommt, wird alles Stückwerk aufhören – wir werden in Fülle verstehen, fühlen und handeln.

Bald darauf, 1948 im Latter Rain, wurde die Analogie betreffend der Ämter des fünffachen Dienstes ebenfalls erkannt: wenn der Vers in 1. Korinther 13:10 nicht hiess, dass seit der Bibel keine Geistesgaben mehr vorhanden sein konnten, dann konnte es durchaus auch heute noch den fünffachen Dienst geben.

Was uns heute so klar erscheint, wurde in der charismatischen Bewegung bekämpft, und es brauchte bis 1980, bis man die Wiederherstellung des Amtes des Propheten erlebte, und zehn Jahre später folgte der Apostel. Und noch heute ist der fünffache Dienst in den meisten Gemeinden eine Sache der Vergangenheit, des ersten Jahrhunderts, und kommt heute nicht mehr vor.

Seit der Wiederherstellung des gesamten fünffachen Dienstes werden die Profile und Aufgaben dieser Gaben Jesu weiter geschärft, aber es wird auch klar, dass wir alle Priester und Könige sind, das ganze Volk.

Es gibt noch weitere Stränge und Erkenntnisse, welche erst in den letzten Jahren entdeckt oder wieder entdeckt wurden, oft auch zum ersten Mal in der Geschichte, oft verdeckt durch gutgemeinte Auslegungen und Erkenntnisse in der Bibel, die wir heute gar nicht mehr nachvollziehen können.

Zu oft scheinen uns diese neuen Erkenntnisse so klar, dass wir uns die Missverständnisse der Vergangenheit nur mit Verschwörungstheorien und Vernebelung zwecks Machterhalt erklären können. Doch glaube ich, und sehe das auch in der Kirchengeschichte, dass vieles davon nach bestem Wissen und Gewissen geglaubt, gelehrt und gelebt wurde.

Die Naherwartung Jesu, d.h. der Glaube, dass Jesus bald zurückkommen werde, und unsere eigene Denkweise führen dazu, dass wir Menschen seit Anbeginn immer das Gefühl hatten, jetzt alles zu wissen. Ja, das letzte Stück Erkenntnis war sicher genau das: das letzte. Nun geht es nur noch um das Ausleben dieser uns bekannten Wahrheiten, und dann wird Jesus wiederkommen.

Irgendwann wird dies stimmen. Offensichtlich war das in der Vergangenheit nicht der Fall. Ist es vielleicht möglich, dass wir auch jetzt noch nicht alles erkannt haben? Hält die Bibel nicht nur für den individuellen Christen, sondern für uns alle noch gewisse Perlen bereit, die wir noch nicht erkannt haben? Vergraben unter wohl-gemeinter Interpretation?

Warum dann hat Gott sie uns noch nicht gezeigt? Gegenfrage: Warum hat er sich in der Vergangenheit offensichtlich Zeit gelassen damit? In 1. Korinther 10:13 steht, dass er uns nicht überfordert. Könnte das ein Grund sein?

Ich kenne Gottes Beweggründe nicht, glaube aber, dass Gott mit uns einen Weg gehen möchte, individuell und als Gemeinschaft. Einen Weg der Erkenntnis und Offenbarung. Was wir selber, mit Hilfe seines Geistes entdecken und erleben, bleibt.

Ist es wichtig, die Erkenntnis der Vergangenheit zu bewahren und zu leben? Absolut. Ist es wichtig, offen zu sein für das Neue, welches Gott uns zeigen möchte? Genau. Es sind die zwei Seiten einer Wage, die Pole eines Paradoxon, ein Spannungsfeld. Und wir mitten drin.

Ich mache oft den Fehler, das eine überzubetonen. Dies ist meine Reaktion, wenn ich das Gefühl habe, dass wir als Gemeinschaft im anderen Strassengraben feststecken. Langsam lerne ich, dass so aber die Strassengräben zu Schützengräben werden, in denen wir uns eingraben.

Ich mache einen weiteren Fehler, wenn ich glaube, dass Gottes berufene Leiterschaft sich vom durchschnittlichen Gläubigen dahingehend unterscheidet, dass sie diese Spannung erkennen und ausbalancieren. Doch leider sind die meisten Leiter heute hauptsächlich Bewahrer der Erkenntnis und sehen ihren Auftrag nur darin, den Menschen, inklusive sich selbst, das beizubringen, was heute bekannt ist.

Gab es in der Vergangenheit jeweils Gruppen, welche die Prinzipien, welche ich oben besprochen habe, auslebten? Sicher. Meist waren das begrenzte kleine Gruppen. Und oft lebten sie etwas, was wir heute durch unsere Erkenntnisbrillen hindurch als Form dessen verstehen, was für uns so klar ist. Daher ist es leicht, dieses Wachstum der Erkenntnis wegzudiskutieren.

Und doch wird die Erkenntnis zunehmen, wie es in Daniel 12:4 steht: „Du aber, Daniel, bewahre diese Worte; versiegle das Buch für die Zeit des Endes. Viele werden darin forschen, und so wird die Erkenntnis zunehmen.“

Wir erhalten Erkenntnis durch Forschen.

Stehe ich in der Gefahr, meine Theologie der Erfahrung anzupassen? Natürlich. Wenn aber die Erfahrung eine fortschreitende Offenbarung Gottes und wachsende Erkenntnis belegt, dann begrenze ich dadurch die Bibel nicht, sondern sehe sie bewahrheitet in meiner Erfahrung, was meinen Glauben, meine Hoffnung, meinen Hunger und meine Erwartung stärkt.

Brauche ich neue Erkenntnis, um etwas erreichen zu können? Mitnichten. Ich warte nicht auf etwas Neues, um etwas tun zu können. Hier wird mein introvertiertes Wesen und meine Prädisposition Richtung Denken als Wartestellung „wenn, dann“ fehlinterpretiert.

Alles, was ich möchte, ist in Demut belehrbar zu bleiben und mich auszustrecken nach Allem, was Gott für uns hat. Gleichzeitig verstehe ich den fünffachen Dienst als ein Spannungsfeld von Begabungen und Berufungen, welche Tradition und Aufbruch, Innenleben und Aussenwelt, Logos und Rhema, Stille und Tat und weitere solche Dualitäten aufrecht und in Balance halten.

Für mich gibt es kein entweder – oder, nur ein sowohl – als auch.

Beitrag veröffentlicht

in

von