Erwachsen werden

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Mach in deinem Zelt Platz, breite Decken aus. Spare nicht! Mach die Stricke lang und die Pflöcke fest.

Jes 54:2

Als Jesaja diese Zeilen schrieb, war der Gebrauch, oder besser, das Verständnis von Sinnbildern eher selten. Alles war real, greifbar, brauchte einen Referenzpunkt im Sichtbaren.

Vieles war auch noch etwas magisch – im Sinne von nicht logisch oder wissenschaftlich. Man glaubte noch an Ursache und Wirkung in Bereichen, die nichts miteinander zu tun hatten.

Zum Beispiel glaubte man, dass Fruchtbarkeit darin lag, dass man ein Kalb in der Milch seiner Mutter kochte. Natürlich nicht mehr für das Kalb, sondern die Herde als Ganzes.

Oder man glaubte, sich als Tier zu verkleiden und auf den Feldern ein ausgelassenes Fest zu feiern, bringe eine gute Ernte – und die Grundlagen für Karneval waren gelegt.

So ist es wahrscheinlich, dass der Vers in Jesaja von seinen Zeitgenossen auf zwei mögliche Arten verstanden wurde:

  • Wenn ich mein Zelt gross mache, dann dient das dazu, dass wir in Zukunft viel Land einnehmen werden.
  • Wenn ich gehorsam bin und das mache, was Gott sagt, nämlich mein Zelt gross, dann wird er uns helfen, Land einzunehmen.

Die erste Art des Verstehens ist rein magisch, kindlich. Da ist kein Verstehen, sondern reiner Glauben – heute würden wir sagen, naiver Aberglauben, wenn es nicht in der Bibel stünde.

Die zweite Art hat bereits ein Konzept von Ursache und Wirkung mit einer gewissen Logik entwickelt: Gehorsam führt dazu, dass Gott aus der Bedingung die Handlung geschehen lässt. Bedingung und Handlung haben inhaltlich oft wenig miteinander zu tun.

Warum gerade diese Handlung, verschliesst sich somit den Menschen jener Zeit. Es hätte irgend etwas sein können, wichtig war der Gehorsam.

Natürlich brauchen auch wir heute noch einen Referenzpunkt in unserem Verständnis, damit wir Neues einordnen und verstehen können.

Aber wir sind weitergekommen in unserem Gebrauch von Sprache und unserem Verständnis von Zusammenhängen.

Wir verstehen Metaphern, Sinnbilder.

So ist uns heute klar, dass es bei dem Vers nicht um unsere physischen Wohnstätten gehen kann. Dabei hilft, dass wir nicht mehr in Zelten wohnen.

Paulus nimmt das Bild des Zeltes als ein Sinnbild für unseren irdischen Körper. Ein Fortschritt, denn das Zelt wird hier bereits als Sinnbild verstanden. Allerdings als Sinnbild für etwas Konkretes – unseren Körper.

Ein naiver Betrachtungswinkel würde nun fragen: meint Jesaja auch den menschlichen Körper, und der Hinweis auf das grösser machen wäre dann: viel essen, zunehmen?

Vielleicht meint er damit, wir sollen Gott und seiner Versorgung vertrauen?

Dann wird uns hoffentlich klar, dass Sinnbilder in der Bibel oft für verschiedene Dinge gebraucht werden. Auch wenn das einem wichtigen theologischen Prinzip widerspricht, bei dem Sinnbilder aus der Bibel selbst heraus erklärbar sind und sich in ihrer Verwendung selten ändern.

Warum hat sich der Mensch überhaupt weiterentwickelt? Warum sind wir heute fähig, Herausforderungen zu meistern, die zur Zeit Jesajas gar nicht bestanden?

Durch unser Denken und unsere Kreativität. Wir haben das Denken erweitert, weit über den Horizont eines Hirtenvolkes hinaus. So entstanden wunderbare Dinge wie die Medizin, Fortschritte in der Technik, und schreckliche Dinge wie der Kommunismus – oder besser, der Realsozialismus – und der Faschismus.

Wir haben das Zelt unseres Denkens erweitert, und Land eingenommen. Land, das damals noch unerforscht war. Das Land der Technologie, der Wissenschaft. Und anderes Land erweitert: das friedliche Zusammenleben in immer grösseren Gruppen. Um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen.

Zu jener Zeit erfüllte sich die Prophetie, indem Israel sein Staatsgebiet erweiterte.

Heute erfüllt sich diese Prophetie, wenn jemand es zulässt, dass sein Denken herausgefordert wird. Wie sagt es Paulus: verändere Dein Denken.

Wir sehen dies in wissenschaftlichen Fortschritten. Neue Denkansätze führen zu neuen Modellen, welche wiederum neue Umsetzungen und Verfahren erlauben.

Doch was in der Wissenschaft wahr ist, gilt im Glauben schon viel länger:

Leider wird neues Denken jeweils erst möglich und setzt sich durch, wenn eine vorangehende Generation ausgestorben ist.

Dieses Prinzip ist biblisch. Es wird uns in der Wüstenwanderung verdeutlicht. Die alte Generation musste sterben, damit sich ein neues Denken durchsetzte. Die alte Generation bestand aus befreiten Sklaven, die neue Generation aus Pionieren, zukünftigen Bewohnern des verheissenen Landes.

Dieses Muster kann und muss durchbrochen werden. Es ist die grösste Herausforderung an einen Menschen unserer Zeit, sein Denken tatsächlich zu verändern.

Oft erscheint uns der nächste Schritt nicht logisch, und für einen Moment scheinen wir in frühere Verständnismuster zurückzufallen:

  • Zeichenhandlungen, welche magisch etwas hervorbringen sollen, sind heute gang und gäbe in der Christenheit. Wir schwingen Schwerter, überschreiten virtuelle Flüsse, und umschreiten schweigend Gebäude sieben mal.
  • Oft sind wir davon überzeugt, dass wir diese Zeichenhandlungen aus Gehorsam durchführen, um Gott zu zeigen, dass er auf uns zählen kann. Er kann jetzt die gewünschte Handlung ausführen, die Neuerung bringen.

Was hier geschieht, ist aber etwas total anderes. Gott begegnete den Menschen im alten Testament auf diese Weise, weil sie noch nicht in der Lage waren, abstrakt zu denken.

Heute macht Gott damit etwas anderes: er bildet neue Referenzpunkt für unser neues Denken. Eigentlich ist es gar nichts anderes, aber es befindet sich auf einer komplexeren, abstrakteren Ebene. Weil wir uns entwickelt haben unter der Führung des Heiligen Geistes.

Um ein neues Prinzip, einen neuen Denkansatz zu verstehen, brauchen wir Beispiele. Diese Beispiele werden zu Referenzpunkten, an denen wir die nächsten Vorkommnisse und Problemstellungen messen. Mit der Zeit erkennen wir ein Muster und fügen dieses Muster unserer Weltanschauung und unserem Gottesbild hinzu. Wir verstehen nun die Welt und unseren Gott besser.

Erst geht es also um kindlichen Glauben. In einem zweiten Schritt um kindlichen Gehorsam. Doch da bleiben wir nicht stehen, denn so bleiben wir Kinder. Und was mit 3 herzig ist, ist mit 30 unangebracht.

Wir lassen uns auf die neuen Probleme und Herausforderungen im Vertrauen auf Gottes Leitung ein und sind gehorsam. Und beginnen gleichzeitig, dahinter ein Muster, ein Prinzip zu suchen.

Leider ist es so, dass wir dieses Prinzip in unseren Gemeinden nicht lehren. Wir bleiben stehen bei Glauben und Gehorsam. Die Prinzipienfindung überlassen wir den grossen Christen der Vergangenheit und behaupten, unser Denken sei schon immer das Denken der Gemeinde gewesen. Gott stellt nur wieder her, was die frühe Gemeinde bereits wusste, denn es steht ja geschrieben. Für Neues kein Platz.

Dabei hat sich die Interpretation der Bibel wesentlich verändert, seit sie geschrieben wurde. Das hat mehrere Gründe. Einer davon ist sicher, dass wir zu abstrakterem Denken fähig, also dem Denken Gottes näher gekommen sind. Nicht im Inhalt unbedingt, aber in der Art und Weise, wie wir denken. Wir denken wesentlich komplexer als unsere Vorfahren, geschult durch komplexere Herausforderungen.

Leider haben sich Erkenntnisse oft erst nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten durchgesetzt. Von ihren Vordenkern sagen wir dann, dass sie ihrer Zeit voraus waren. Aber eigentlich lag es daran, dass die Christen ein stures halsstarriges Volk sind, welches nicht gerne Neues lernt. So mussten Generationen sterben, bis sich etwas durchsetzte.

Wollen wir das weiterhin so halten? Ja, Gott kommt zum Ziel, mit uns oder ohne uns, ja sogar trotz uns. Aber es wäre schön, wenn wir endlich erwachsen würden.

Machen wir unser Zelt gross und schlagen wir die Zeltpflöcke fest ein, damit nicht gleich alles wieder zurück spickt.

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