Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. Da ward aus Abend und Morgen der sechste Tag.
1Mo 1:31
Wenn Du das noch nicht gemacht hast, dann beginne doch hier mit dem Lesen. Sonst macht das alles keinen Sinn.
Wir alle kennen die Geschichte. Gott schuf den Menschen, und alles war sehr gut. An jedem anderen Tag sagte Gott: und alles war gut.
Auf der anderen Seite empfand er es als nicht gut, dass der Mensch allein sei.
Also denkt Gott in den Dimensionen von Gut und Böse? Dann ist es vielleicht doch so, dass wir wie Gott wurden, als wir von dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse assen. Willst Du darauf hinaus? Ist das die neue Auslegung, die Du uns schmackhaft machen willst?
Nichts könnte weiter von meiner Absicht entfernt sein.
Wir haben gesehen, dass Namen im Hebräischen Funktionen, Tätigkeiten, Berufungen sind. Tov, das Wort, das wir mit gut übersetzen, ist das Wort, welches Funktion ausdrückt. Es heisst: funktionieren.
Gott hat also über seinen Plänen ausgesprochen: so funktioniert es!
Erinnert Euch von den letzten zwei Beiträgen: wir sind noch nicht in einer physischen Welt, sondern immer noch in der Welt der Planung, der Konzepte. Wir steigen so langsam runter in den konkreten Bereich, aber das kommt erst noch.
Als also Gott den Menschen erdachte, sagte er zu sich: ja, so funktioniert es bestens.
Übrigens: der sechste Tag hier spricht nicht unbedingt von einer zeitlichen Abfolge von sieben Tagen – das wäre wiederum griechische Logik.
Die Erzählung beginnt mit yom ächad, welches besser übersetzt würde mit: ein Tag. Stellt Euch einen Würfel vor. Der hat sechs Seiten. Wir sehen in dieser Aufzählung die sechs Seiten des Würfels. Der ganze Würfel ist die siebte Sicht, die holistische. Wir haben hier also einen Tag, von sechs Seiten betrachten, und dann als Ganzes beschrieben.
Man nennt das eine multiperspektivische Betrachtung. Wenn nun keine Wertung oder Hervorhebung einer bestimmten Seite geschieht, ist sie aperspektivisch.
Doublethink means the power of holding two contradictory beliefs in one’s mind simultaneously, and accepting both of them.
George Orwell
George Orwell hat es so ausgedrückt: Doppeldeutiges Denken (Multiperspektivisches Denken ist eine Verallgemeinerung davon: zwei und mehr) ist die Fähigkeit, zwei sich widersprechende Gedanken gleichzeitig zu halten, und beiden zuzustimmen.
Dieses Denken ist allen fremd, die nach der einen absoluten Wahrheit suchen, diese aber als dualistisch, also als Menge von richtigen und falschen Aussagen verstehen, die für uns erkennbar und fassbar sind.
Das schliesst so ziemlich jeden Christen ein, der die Bibel traditionell wahrnimmt und versteht.
Ist das schlimm? Nein, denn wenn es schlimm wäre, dann würde ich werten und damit das multiperspektivische Denken verlassen. Es ist eine Sicht, die uns in einem bestimmten Stadium oder Abschnitt auf dem Weg zu Gott hilft und weiterträgt.
Ich habe im letzten Artikel ja gesagt, dass ich die Schöpfungsgeschichte schon auf die unterschiedlichsten Arten und Weisen ausgelegt habe. Hier findet Ihr das Muster dazu: keine dieser Auslegungen ist richtig, keine ist falsch. Es sind Wahrheiten, die nebeneinander existieren und verschiedene Aspekte zu verschiedenen Zeiten beleuchten, um Menschen da abzuholen, wo sie im Moment stehen. Aperspektivisch eben.
Doch wie fügt sich jetzt diese sechste Seite des Würfels in die Gesamterzählung ein?
Wir haben gesehen, dass Gott zwei Verlangen, zwei Prinzipien erschuf, die sich gegenseitig ergänzen: den Wunsch zu geben und den Wunsch, Freude zu empfangen und zu reflektieren.
Das zweite Prinzip verweigerte seine Bestimmung und wurde zum egoistischen Empfangen für sich selbst. Wir nennen das das Ego.
Wie das geschah, wird uns nun mit einem Blick auf die sechste Seite erzählt.
Gott schuf einen Garten in Eden. Eden heisst Freude. Der Mensch wurde also in den Garten gesetzt, um Freude zu empfangen und zu reflektieren.
Der Mensch wurde auch nicht allein gelassen, denn das Ganze würde nur funktionieren (tov), wenn sowohl die männlichen Kräfte als auch die weibliche Empfangsbereitschaft vorhanden wären. So funktioniert ja auch Gott, wie wir im letzten Artikel gesehen haben.
Noch einmal: wir haben also die zwei Prinzipien. Gott, der Wunsch zu geben. Und das Prinzip, Freude zu empfangen und zu reflektieren, welches hier im Menschen personifiziert, aber durch die ganze Schöpfung ausgedrückt wird.
Dieses zweite Prinzip hat die Entscheidungsfähigkeit erhalten, sich gegen seine Bestimmung zu entscheiden. Empfangen und Reflexion muss freiwillig geschehen, sonst ist es Zwang und nicht mit dem Prinzip der Liebe und des Gebens zu vereinbaren.
Im Menschen also weckt sich Zweifel. Ein Gedanke nagt an ihm. Dieser konkretisiert sich über drei Schritte:
- „Ich denke, ich weiss mehr über Gott als Du.“ Hier spricht das Ego, die zweite Seele sozusagen, die in meiner Brust kämpft, zu meinem wahren Ich. Das Ego wird in der Geschichte von der Schlange verkörpert.
- „Er hält etwas von mir zurück.“ Das Symbol hierfür ist die Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse. Das muss es sein, denn Gott hat mir verboten, davon zu essen. Er will nicht, dass ich bin wie er.
- Jetzt entscheidet sich der Mensch, die Frucht zu essen. Diese Entscheidung macht aus dem Prinzip des Empfangen und der Reflexion das egoistische Prinzip, nur für sich selbst zu empfangen.
Wir sehen hier die Reise durch die jüdischen Welten, von der Idee zum Konzept, zum Plan und zur Umsetzung.
Adam verpasst es aus egoistischen Gründen, der Erlöser der Schöpfung zu sein, der sie in ihre Bestimmung führt: Freude vom Geber zu empfangen und zu reflektieren.
Das hat Folgen.
Eine der Folgen ist, dass Gott unsichtbar wird. Wie sagt es die Bibel: wer hat Gott je gesehen?
Ich habe im ersten Artikel dieser Reihe darauf hingewiesen, dass das Wort für Baum auch die Augen schliessen heisst.
Wer von dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse lebt, sich also entschieden hat, das egoistische Prinzip des für sich selbst Empfangens zu leben, wird blind für den Baum des Lebens.
Umgekehrt gilt dies genauso: wer aus dem Prinzip des Empfangen und der Reflexion lebt, wird blind für egoistische Prinzipien und dualistische Sichtweisen. Für ihn gibt es kein Richtig oder Falsch.
Wir werden noch sehen, dass das traditionelle Christentum versucht, beide Prinzipien gleichzeitig auszuleben. Eine unmögliche Sache.
Was aber ist geschehen, dass Gott unsichtbar wurde? Hat er sich zurückgezogen? Nein, aber der Mensch hat sich geweigert, die Leinwand zu sein, die das Bild Gottes in diese Welt hinein reflektiert und ihn so sichtbar macht. Erinnert Ihr Euch? Ohne die Leinwand verliert sich das Licht im Unendlichen, und nur auf der Leinwand wird das Bild im Lichtstrahl sichtbar.
Zweitens hat dies zur Folge, dass die Welt konkret wird. Jetzt kleidet uns Gott in eine Haut ein. Das ist kein Tier, das er da schlachtet. Jetzt schafft er den Körper. Jetzt schickt er uns in diese Welt.
Jesus, der zweite Adam, kommt und hat erneut die Gelegenheit, sich zwischen den Prinzipien zu entscheiden. Und er wählt das Prinzip des Empfangen und der Reflexion bis zum bitteren Ende und der Auferstehung. Es ist vollbracht.