Weisheit als Bewusstseinsstrom

Lesedauer 6 Minuten

Hast du zugehört im Rat Gottes und die Weisheit an dich gerissen?

Hiob 15:8

In Anlehnung an die berühmte Frage von Pilatus „Was ist Wahrheit“ möchte ich die Frage stellen: „Was ist Weisheit?“.

Weisheit wird heutzutage oft betrachtet als die Fähigkeit, Wissen und Fähigkeiten richtig anzuwenden.

Weisheit zu Zeiten der Bibel war wohl etwas komplett anderes, auch wenn sie oft im Dreigestirn von Erkenntnis, Wissen und Weisheit genannt wird. Dies allerdings in einer anderen Reihenfolge.

Wir heute sehen Weisheit als Spitze der Wissenshierarchy oder Erkenntnispyramide. Durch Erkenntnis sammeln wir Wissen und werden weise.

In den meisten Aufzählungen des Dreigestirns in der Bibel wird Weisheit an den Anfang gestellt, dann folgt Erkenntnis, und erst am Schluss Wissen, wobei dies ein Übersetzungsfehler ist und es besser Kennen heissen sollte.

Ist demnach Weisheit das Fundament, Erkenntnis baut darauf auf, und Kennen stellt das Höchste dar?

Das ist ein leistungsorientiertes Denken, dasselbe leistungsorientierte, individualistische Denken, dass uns Kennen mit Wissen ersetzen liess.

Wissen kann ich alleine, aber Kennen ist die Funktion einer Beziehung.

Doch zurück zur Weisheit und ihrem Platz im Dreigestirn.

Weisheit ist ein Fluss, von dem man trinkt und ihn so in sich aufnimmt, dass Erkenntnis geschieht, die einem zum Kennen, zur Identifikation führt. Da wir das Wasser vom Fluss trennen in diesem Bild der Erkenntnis, kann daraus leicht Wissen entstehen. Wissen tendiert dazu, statisch, ja versteinert zu sein: Religion.

Sehen wir uns in diesem Zusammenhang eine Übertragung eines uns wohlbekannte Bibelverses an:

Wenn Du erkennst, dass ich all das bin, worum es in der Schrift geht, wirst Du, von Angesicht zu Angesicht mit mir, auf einzigartige Weise für Dich selbst entdecken, dass ich all das bin, worum es bei Dir geht, und Flüsse lebendigen Wassers werden aus Deinem Innersten sprudeln!

Joh 7:38

Der Fluss der Weisheit und Dein Leben in diesem Fluss wird Dich erkennen lassen, dass es in der Schrift, im Wort, nur um eines geht, um das wahre Wort Gottes, um das Ich bin.

Durch diese Erkenntnis wirst Du Dich und das Ich bin so sehr kennen lernen, dass wiederum Weisheit von Dir selbst fliessen wird.

Mir kommt der Fluss in den Sinn, den Hesekiel beschreibt, der fliesst seit dem Paradies über die Wunde in Jesu Seite bis in die neue Schöpfung.

Weisheit, chochmah, wird am besten so übersetzt: ein Strom des Bewusstseins.

Je tiefer wir in diesen Strom des Bewusstseins eintauchen, desto mehr erkennen wir, wer wir wirklich sind, wer unser Gegenüber ist, und speziell, wer unser göttliches Gegenüber ist.

Es geschieht eine Bewegung, welche in Epheser beschrieben, aber so falsch ausgelegt wurde:

Ordnet Euch einander unter. Ihr Ehefrauen, ordnet Euch Euren Männern unter. Und so weiter.

Wir haben das Wort aus einem Verständnis heraus übersetzt, welches auf Hierarchien und Gehorsam fixiert ist. Dieses Verständnis hat einen Platz in dem ewigen Fluss des Bewusstseins, aber es ist nicht das Ziel.

Hupotasso, welches wir mit sich unterordnen übersetzen, besteht aus hupo und tasso. Hupo beinhaltet eine Bewegung und heisst oft von unten. Tasso heisst setzen, stellen, aber auch in die Ordnung einfügen.

Sich gegenseitig unterordnen geht nur, wenn man grundsätzlich auf gleicher Höhe ist.

Eine gute Übersetzung wäre also: sich von unten kommend auf gleicher Höhe einzuordnen.

Da die Bewusstseinsstufe, welche sich unterordnen hierarchisch verstand, kein Verständnis für das Individuum hatte, machte sie zusätzlich noch den Fehler, gewissen Hierarchiestufen gewisse Funktionen zuzuordnen: der Mann, dem sich die Frau unterzuordnen hatte, hatte die Funktion des Priesters.

Doch nun gibt es weder Mann noch Frau.

Doch zurück zur Weisheit.

Der Fluss des Bewusstseins führt uns tiefer und tiefer in die Beziehung mit Gott und uns selbst. Das ist die Dimension des Kennens, von der die Bibel spricht. Und die Annäherung in diese Beziehung geschieht von unten her, bis wir erkennen, dass wir unseren Platz neben ihm einnehmen dürfen, den wir schon immer inne hatten.

Du hast ihn für eine kurze Zeit geringer gemacht als die Engel, dann aber hast du ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt.

Hebräer 2:7

Da schuf Gott den Menschen nach seinem Bilde: nach dem Bilde Gottes schuf er ihn; als Mann und Weib schuf er sie.

1. Mose/Genesis 1:27

Ich habe an anderer Stelle geschrieben, wie die Auswirkungen dieses Flusses in der Menschheitsgeschichte zu beobachten sind, ja sogar in jedem einzelnen Menschenleben durchlebt, erfahren, erkämpft werden dürfen.

Ich möchte dies in einer kurzen, für mich poetischen Darstellung zusammenfassen:

In Gott bin ich geschaffen und lebe
In Gott sind wir Familie und heilen
In Gott entdecke ich Kraft und erobere
In Gott erlangen wir Gemeinschaft und ordnen uns unter
In Gott erkunde ich Individualität und habe Erfolg
In Gott begegnen wir der Gnade und teilen

In Gott fördere ich Kreativität zutage und werde
In Gott stellen wir Einheit wieder her und Ich bin

Ralph Rickenbach, 2020

Dieser Fluss des Bewustseins ist Wahrheit. Das hebräische Wort für Wahrheit ist ämet. Es wird mit drei Buchstaben geschrieben: dem ersten, mittleren und letzten Buchstaben des hebräischen Alphabets. Wahrheit steht also am Anfang, in der Mitte und am Schluss dieses Flusses – also überall. Anders gesagt: dieser Fluss ist Wahrheit.

Der erste Buchstabe aleph steht für Stärke, das mem steht für Wasser und Fluss, und das tet steht für das Kreuz. So wird der Fluss des Bewusstseins mit dem Leben Jesu verbunden, das Leben Jesu also ein Ausleben der grösseren Wahrheit in dieser Welt.

Dadurch, dass Gott diese Wahrheit in unserer Welt auslebt, zeigt er uns, dass er nichts vor uns zurückhält. Hier ist wieder das griechische Wort für Wahrheit, aletheia: nichts zurückhalten. Jesus verkörpert als archetypischer Mensch diese Wahrheit.

Doch gleich einem Menschen, der vom Baby zum Kind zum Jüngling und zum Manne wird – Frauen machen das auch durch, auf ihre Art -, so lernen wir als Menschheit entsprechend unserer Bewusstseinsstufe, oder anders ausgedrückt, unserer Reife.

Hesekiel hätte gesagt: es kommt darauf an, wie tief wir in den Fluss eingetaucht sind.

Wie sieht nun unsere Position in diesem Fluss aus? Was ist es, das Gott von uns möchte? Ich möchte das mit einem Gedicht beschreiben:

Die Angst

Man sagt, dass ein Fluss vor Angst zittert, bevor er ins Meer fließt.

Er blickt zurück auf den Weg, den er zurückgelegt hat,
von den Berggipfeln,
den langen kurvenreichen Weg durch Wälder und Dörfer.

Und vor sich sieht er
einen Ozean, der so groß ist,
dass das Eindringen in ihn wie nichts anderes erscheint, als für immer verschwinden zu müssen.

Aber es gibt keinen anderen Weg.
Der Fluss kann nicht zurückgehen.

Niemand kann zurückgehen.
Es gibt kein Zurück in der Existenz.

Der Fluss muss das Risiko eingehen,
in den Ozean zu fliessen.
Denn nur dann wird die Angst verschwinden,
denn nur dann weiss der Fluss,
dass er nicht im Meer verschwindet,
sondern zum Ozean wird.

Khalil Gibran

Der Fluss von Hesekiel ergiesst sich ins Meer und bringt Leben. Während viele von uns im Fluss sind, haben wenige den Schritt unternommen, sich ins Meer zu ergiessen.

Ich möchte das etwas näher beschreiben:

Wir steigen in den Fluss, d.h. wir werden uns bewusst.

Wir sind knöcheltief im Fluss, und unsere Bedenken beziehen sich auf das Überleben. Unser Mut lässt uns tiefer hineingehen.

Wir sind knietief im Fluss, gehorsam der Aufforderung unseres Begleiters und Leiters, und manche gehen individuell weiter hinein.

Wir schwimmen und freuen uns mit allen anderen.

Doch jetzt kommt das Meer. Einheit, Weite, Grösse. Jetzt ist es daran, die Angst zurückzulassen.

Der nächste Schritt unseres Glaubens ist wohl einer der grössten, den wir je gemacht haben. Viele steigen jetzt aus dem Fluss heraus und gehen zurück zum Tempel.

Damals war das richtig. Hesekiel wurde gezeigt, dass in der Zukunft noch weitere Stufen kommen werden. Er selbst durfte bis zum Schwimmen im Fluss bleiben, tiefer als die meisten seiner Zeitgenossen, als prophetische Handlung. Doch sah er, dass in der Zukunft noch viel mehr wartete: das Meer. Für ihn allerdings war es richtig, dann auszusteigen, denn der weitere Flussverlauf war für ihn noch nicht zugänglich. Er lebte in der ersten Strophe des Gedichts der Menschheit. Zurück zum Tempel.

Doch der Tempel ist zerstört. Er war nur ein äusseres Zeichen einer tieferen Realität. Wird er jetzt wieder betreten, ist das versteinerte Religion. Es ist der Wunsch, zurück nach Ägypten zu gehen. Es ist der Entscheid des Paulus, damals Saulus, die Christen zu verfolgen, dem Gesetz treu zu bleiben. Es ist der Entscheid der Gemeinde, in ihrer Tradition zu verharren. Sie entscheiden sich für Wissen anstelle von Kennen.

Das Meer ruft!

Beitrag veröffentlicht

in

von