Was ist eine Freikirche

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Die einzige Kirche, die erleuchtet, ist eine brennende Kirche.

Buenaventura Durutti

Freikirchen sind christliche Kirchen, welche nicht Staatskirchen sind. So einfach ist das. Und da werden die Definitionen kompliziert.

Wofür stehen wir dann? Worin unterscheiden wir uns? Warum gerade diese Freikirche und nicht die andere im nächsten Dorf? Hauskirchen, denominationelle Gemeinden, Netzwerke, Unabhängige?

Der Ansatz dieses Artikels ist schwierig zu verdauen für manche. Ich hoffe, dass Sie bis zum Schluss dabei bleiben, denn mein Fazit ist ein anderes, als Sie zwischenzeitlich vermuten werden.

Leider ist es so, dass Freikirchen, oder wie sie in der Schweiz genannt werden, Gemeinden so unterschiedlich und zahlreich daherkommen, wie Lebensmittelhändler. Und ähnlich wie diese versuchen sie sich gegeneinander abzugrenzen – auch wenn sie das oft nicht zugeben.

Wie entstanden eigentlich so viele Gemeinden und Denominationen (hierarchische Verbände gleichartiger Gemeinden, oft mit demselben Namen)?

Dies geschah auf drei Arten: Entweder entdeckte jemand in der Bibel oder durch Offenbarung eine Wahrheit, die Gott in dieser Zeit betonen oder wiederherstellen wollte, oder man geriet sich wegen eines theologischen oder nicht-theologischen Aspekts in die Haare. In beiden Fällen gab es Menschen auf beiden Seiten, z.B. Bewahrer und Pioniere.

Die dritte Art ist, wenn man in einem neuen Gebiet oder für eine neue Demographie eine Gemeinde macht, ohne in Konkurrenz zu anderen zu stehen.

In einer Kultur, in der die Zugehörigkeit zum Leib Christi, also das Recht, Gottes Kind zu heissen und in den Himmel zu kommen, über die Befolgung gewisser Handlungen und eines gewissen Lebensstils erreicht wird, muss sich jede Gemeinde gegenüber der anderen abgrenzen. Das geschieht über unterschiedliche Auslegungen der Bibel zu Themen wie Taufe, Lobpreis, Leitungsstrukturen, Heiliger Geist, Gebet, Fürbitte, Predigtstil, Reaktion auf kulturelle Phänomene und Entwicklungen, Grösse, Versammlungsort und Häufigkeit, und so weiter.

Manchmal geschieht es auch auf eine ganz andere Weise: eine Gemeinde sieht einen Auftrag, der sich wesentlich von dem anderer Gemeinden unterscheidet.

Die Gemeinde entstand in einer Weltanschauung, genannt Tradition, in welcher Ordnung, Hierarchie und Regeln das Leben bestimmten. Wir sehen das historisch am besten, wenn wir uns überlegen, dass das Christentum aus dem Judentum entstand. Es war die Zeit des Gesetzes.

Bis heute hat die Gemeinde das Neue Testament so ausgelegt, dass es einen teilweise neuen Satz von Regeln schuf, indem Jesus gewisse Gesetze des Alten Testaments aufhob, andere bestätigte, und neue stiftete. Paulus hat auf diese Gefahr bereits im Galaterbrief hingewiesen. Er fragte die Galater gerade heraus: wer hat Euch verhext? Meint Ihr wirklich, durch Regeln und Gesetze gerettet zu werden?

Kurze Zeit darauf wurde die Kirche verstaatlicht und erhielt ein ganz neues Gesicht. Neben dem Kanon der Bibel wurden Katechismen und Regelwerke geschaffen, wie die Kirche zu funktionieren habe und die Bibel zu interpretieren sei. Dabei hatte gerade diese Bibel darauf hingewiesen, dass das Geschenk des Heiligen Geistes an uns alle Priesterschaft und Lehrer hinfällig werden liess.

Als Luther mit seiner alternativen Auslegung die Pforten öffnete, ging die Spalterei, ja die Haarspalterei los. Gemeinden wurden am Laufmeter gegründet.

In den letzten Jahrzehnten gibt es erfreulicherweise Bewegungen innerhalb der Gemeindelandschaft, Gemeinsamkeiten zu suchen und zusammen zu arbeiten. Ein Schritt in die richtige Richtung.

Und doch: ein grundlegendes Problem bleibt.

Solange wir glauben, dass unsere Interpretation der Bibel die absolute Wahrheit darstelle, solange wir daran festhalten, dass wir etwas zu unserer Rettung beitragen müssen, werden wir unterschiedliche Auffassungen haben. Das ist kein Problem, solange wir uns deswegen nicht verurteilen oder ständig belehren wollen.

Also, da stehen Sie nun, Sie moderner Mensch, der glaubt, dass Gott eine menschliche Erfindung ist, um auf die einfache Art zu erklären, was die Wissenschaft schon erklärt oder eben noch nicht erklärt hat. Auf Englisch ist das the God of the gap. Ihrer Ansicht nach machen es sich die Menschen einfach mit dieser Erklärung, sie müssen so nicht denken. Dabei ist die Welt doch rein materialistisch und schon Nietzsche hat den Tod Gottes deklariert.

Zwei Beobachtungen bestärken Sie in Ihrer Ansicht: Wenn es Gott gäbe, würde er sich offenbaren und es gäbe nicht so viele Lehrmeinungen. Und würden die Christen ihre Bibel ernst nehmen, würden sie nach Einheit streben und sich nicht gegenseitig bekämpfen.

Oder Sie, der postmoderne Typ, der glaubt, dass es keine absolute Wahrheit gibt. Eigentlich ist es ja richtig, jeder darf nach seiner eigenen Façon glauben, aber dies dann missionarisch von anderen zu verlangen und sich gegenseitig den rechten Glauben abzusprechen? Wo bleibt da die Liebe, die sich in Toleranz und Bescheidenheit ausdrückt? Und woher nimmt jemand die Frechheit, zu glauben, etwas besser zu wissen und darum leiten zu dürfen?

Und natürlich fragen Sie sich beide: wie kommt er jetzt aus diesem Dilemma raus, dieser Ecke, in die er sich selbst manövriert hat. Jetzt muss er sich selbst und seine Gemeinde nämlich abgrenzen gegenüber all dem Gesagten, und tut es so selbst! Ha, erwischt.

Vielleicht habe ich nicht den richtigen Ton getroffen bis jetzt, aber ich möchte von Herzen sagen, dass ich dankbar bin für jede Gemeinde, die es gibt.

Ein Mensch durchlebt in seinem Leben verschiedene Weltanschauungen und lernt, mehr und mehr zu verstehen, sich seinen Lebensumständen mehr und mehr zu stellen, und immer komplexere Probleme zu lösen.

Jeder sieht dies in Kindern. Ein Baby kommt mir ein paar Grundreflexen auf die Welt: der Saugreflex, oder wie es zugreift, wenn man den Finger in seine Händchen legt, und einer grossartigen Fähigkeit, andere zu imitieren. Schon kurz nach der Geburt kann man dem Baby die Zunge herausstrecken, und es macht dasselbe! Eine enorme Leistung.

Diese und andere Basisfähigkeiten ermöglichen es dem Baby, auf die Umwelt zu reagieren und zu lernen. Über die Jahre hinweg lernt es grundsätzliche Tätigkeiten und abstrahiert davon Prinzipien.

Mit etwas über 2 Jahren kann man dem Kind sagen, dass es den Teddy ins Regal an den freien Platz stellen, dass es Lego in die Kiste werfen soll. Mehrere solche Tätigkeiten können nun verbunden werden mit dem abstrakten Begriff aufgeräumt. Und bald schon versteht das Kind die Aufforderung: räum Dein Zimmer auf.

Und wir wissen alle: so geht es hoffentlich weiter.

Das Kind erlebt zuerst die Familie und erfährt so Sicherheit, denn diese Menschen lieben es.

Aus dieser Sicherheit heraus entdeckt es die etwas weitere Welt und stellt sich anderen Kindern und Erwachsenen. Es testet auch seine Grenzen aus.

Durch Strukturen und Regeln lernt es, sich so zu benehmen, dass auch Menschen ausserhalb der Familie es mögen. Es kann nun zu einer Gruppe gehören, welche es nicht a priori lieben müssen. Doch es lernt auch, dass diese Zugehörigkeit fragil ist. Das Befolgen der geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze ist enorm wichtig, um nicht ausgestossen zu werden. Willkommen in der traditionellen Weltanschauung.

Aber nur die Tatsache, dass der junge Mensch gelernt hat, sich einzugliedern, zu gehorchen, und eine moralische Vorstellung entwickelt hat, macht es möglich, dass er sich ein zweites Mal emanzipiert. Was beim ersten Mal noch über Kraft geschah, geschieht nun über Fähigkeiten. Die Moderne.

Doch wächst das Bewusstsein, dass dieser Individualismus durchaus negative Folgen für die Welt und für andere Menschen hat, und ein neues Bewusstsein für menschliche und spirituelle Werte erwacht. Die Postmoderne.

Jede dieser Stufen braucht die entsprechenden Strukturen, um sich entwickeln zu können: 

  • die Familie, in die man erst hineinwächst, um dann ausbrechen zu können.
  • das Machtgefüge, das man zuerst zu bezwingen sucht, um sich dann einzuordnen.
  • die Interessengemeinschaft, der man zuerst anzugehören lernt, um sie dann zu verlassen.
  • die Firma, Wirtschaft oder Wissenschaft, in der man sich beweisen kann, um dann die Folgen seines Handelns zu erkennen.
  • die Partei, die Bewegung, das Thema, dem man sich hingeben kann, um dann zu erkennen, dass es all das vorherige gleichzeitig braucht.

Die Gemeinden sind nun genau diese Interessengemeinschaften des Glaubens, die ein Mensch in einer gewissen Stufe seines Lebens braucht. Gemeinden haben im Allgemeinen einen starken Familiensinn und sind deshalb Interessengemeinschaften, welche eine gewisse Toleranz für ausbüchsendes Gehabe haben, aber auch das Gegenmittel kennen: Ordnung und Struktur.

Anders gesagt: gesunde Gemeinden führen einem durch die ersten Stufen der Entwicklung.

Gemeinden sind äusserst wertvoll. Und gerade ihre Abgrenzung zu anderen, ihre Regelwerke lehren uns, wie wir Entscheidungen rational fällen können, auch wenn aus moderner Sicht das Regelwerk doch etwas mythisch, aus postmoderner Sicht etwas patriarchalisch daherkommt.

Doch können diese Gemeinden moderne und postmoderne Menschen oft nicht abholen. Und da wir in einer Welt leben, in der Moderne und Postmoderne existieren, wachsen Gemeindemitglieder oft über diese Weltanschauung hinaus.

Es braucht demnach andere Gefässe, nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung.

Die wichtigste Erkenntnis ist das Prinzip von transcend and include: über etwas hinauswachsen, das man sich aber gleichzeitig einverleibt. Jede der erlernten Fähigkeiten hat seinen Platz im erweiterten Rahmen der nächsten Erkenntnis. Ein paar Beispiele:

Es gibt die eine absolute Wahrheit, die wir individuell und subjektiv erfahren und erkennen.

Es braucht in gewissen Situationen Hierarchien, die wir aber wieder abbauen, wenn sie ihren Dienst getan haben. Und es gibt natürliche Hierarchien.

Wissenschaftliche Erkenntnis führt uns zu einer Entmythisierung unseres Gottesbildes, damit wir ein grösseres entwickeln können.

Entscheidungsfähigkeit und Kampf sind wichtige Elemente im Rahmen einer disziplinierenden Ordnung und eines aufgeklärten Menschenbildes.

Wie sehen wir nun solche Gemeinschaft in Zukunft?

Wir bieten gemäss unseren Begabungen die verschiedensten Dinge an: Versammlungsort, Gespräche, Lehrdialoge, Lektionen. Dabei können wir Einblick geben in unsere Leben, die wir mehr oder weniger erfolgreich geführt haben bis jetzt, und sind gerne bereit, unsere Weisheit und unsere Fehler zu teilen.

Wir hoffen, dass Sie das Selbe für uns tun werden, so dass wir miteinander wachsen können.

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