Als letzter Feind wird der Tod vernichtet werden.
1. Korinther 15:26
Ich weiss, dass mit dem Vers nicht das gemeint ist, was ich hier erzählen werde. Mindestens nicht primär und vordergründig.
Wie man in früheren Artikeln nachlesen kann, bin ich Anfangs dieses Jahres fast gestorben. Das tönt dramatischer, als es ist. Doch von Anfang an.
Vor knapp vier Jahren erhielt ich die Diagnose Prostatakrebs. Heute keine Seltenheit mehr, und sicher kein Todesurteil. Der Krebs wurde entfernt und eine Bestrahlung vorgenommen. Doch die Krebsmarker sanken nicht, und bis heute steigen sie weiter an, ohne das etwas auffindbar wäre.
Das hingegen lässt einem durchaus mal über den Tod nachdenken.
In den letzten Monaten des Jahres 2019 wurde ich dann immer kurzatmiger. An einem Sonntag im Februar 2020 baute ich mit den Kindern der Sonntagsschule eine Hütte ab, die ein paar Monate lang den Raum geschmückt hatte. Und danach keuchte ich am offenen Fenster und rang panikartig nach Luft.
Das wiederholte sich am Mittwoch darauf, und ich wurde mit einer multiplen zentralen Lungenembolie ins Spital eingeliefert. Später sagte man mir, dass meine Chancen bei 20% gestanden hätten. Der Krebs hatte wahrscheinlich die Gerinnungsfaktoren des Blutes verändert.
Das weckt einem auf.
Ein paar Wochen nach diesem Vorfall kam die CoViD-19-Krise und der Lockdown. Für Wochen war das öffentliche Leben auf Sparflamme, und ich hatte Zeit, über das Geschehene nachzudenken.
Schon vor dem Krebs hatte sich einiges verändert. Die Heilung meines Geschmacks- und Geruchssinns, ein Bore-Out, Reizüberflutung, die Aufgabe meiner Arbeit und der Informatik, der Beginn des Theologiestudiums und der darauf folgende Abbruch nach der Krebsdiagnose und der Operation, der Tod meines Vaters.
Vor allem aber die Reise, auf die ich mich mit Gott während dieser Zeit begab.
Ich lernte mich besser kennen und schloss mit meinem Wesen Frieden. Für Jahrzehnte hatte ich dagegen angekämpft, der zu sein, der ich bin. Viele sind mir in meinem Kampf beigestanden. Es machte doppelt Sinn für sie: erstens wollte ich es so, und zweitens war mein angestrebtes Ziel ja, ein guter richtiger Christ zu werden.
Eigentlich strebte ich aber die Verwirklichung des Bildes an, das meine Gemeinde und viele Freikirchen als den guten Christen definieren. Jetzt wurde mir klar, dass dies nicht mit dem übereinstimmte, was Gott als Vater von mir erwartete.
Bis hierhin habe ich die Geschichte schon erzählt. Jetzt möchte ich sie weiterführen.
Wie steht es in Matthäus 6?
Gott sorgt für die Spatzen und die Lilien, ohne dass sie etwas dazutun, und sogar Salomo reicht ihnen nicht das Wasser. Obwohl das Gras doch nur für kurze Zeit grünt, und dann in den Ofen geworfen wird. So war das damals.
Macht Euch daher keine Sorgen, heisst es weiter.
Ich bin 1963 geboren und habe die 70er miterlebt. Für mich tönt das alles jetzt doch ein bisschen nach Hippie, nach Blumenkind: Sorgloses Leben ohne Verantwortung. Wäre da nicht der nächste Vers.
Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, dann wird Euch alles andere gegeben.
Ich beginne mit dem Wort Gerechtigkeit. Eigentlich bedeutet dies wörtlich im Griechischen: den Erwartungen gerecht werden.
Wessen Erwartungen?
Im säkularen Bereich ging es um die Erwartungen der Gesellschaft: hineinzupassen und seinen Teil beizutragen.
Das habe ich ausgelebt und versucht, den Erwartungen der Gemeinde gerecht zu werden, in der Annahme, dass diese deckungsgleich wären zu Gottes Erwartungen.
Gottes Erwartungen. Um die geht es wirklich. Jesus hat uns Gott als Vater gezeigt. Er hat uns auch gesagt, dass, wer ihn gesehen habe, den Vater gesehen habe. Er war voller Gnade und hat eigentlich nur die religiösen Eiferer zurechtgewiesen.
Ein Vater hat grosse Erwartungen für seine Kinder. Wir formulieren dies of um, sagen, dass ein Vater grosse Erwartungen an seine Kinder hat, und reduzieren diese Erwartungen häufig auf Gehorsam, Hingabe, Dienen. Aber schon irdische Väter erwarten von und für ihre Kinder wesentlich mehr: Reife, dass sie ihren Mann, ihre Frau stehen, dass sie eigenständige Persönlichkeiten werden, ihren Weg gehen.
Ihren Weg gehen. Genau das ist die beste Übersetzung des Wortes Gerechtigkeit aus dem Hebräischen.
Gehorsam erwarten Väter, gute Väter von ihren Kindern nur, weil dies dem übergeordneten Ziel dient. Gehorsam ist ein Mittel zum Zweck, eine Folge der Liebe, und keine Erwartung an und für sich.
Dabei geht es auch im Reich Gottes. Es gibt die allgemeinen Aspekte, die für jeden Christen gelten, zum Beispiel ein Kind Gottes zu sein. Und es gibt die individuellen Aspekte, die Berufung, das, was nur ich ausfüllen kann. Das, wofür mich Gott geschaffen hat.
Auch hier sind Gehorsam, Hingabe, Bibellesen, stille Zeit, Gottesdienstbesuch nur Mittel zum Zweck, Werkzeuge, aber keine Erwartungen. Und ganz sicher keine Ausschlusskriterien.
Zu oft haben wir das Gefühl, dass Gott unser Leben schon geplant hätte, und dann hofft, dass wir es so ausleben. Gegebenenfalls hilft er uns, auf Umwegen doch noch ans Ziel zu kommen, wenn wir das zulassen.
Ich bin zur Überzeugung gekommen, dass wir, wie unsere leiblichen Kinder, viel mehr Gestaltungsfreiheit haben. Und Gott möchte uns dabei unterstützen, beraten, und manchmal lenken. Er möchte uns aufwachsen sehen in unsere Bestimmung.
Erst wenn wir diese Erwartungen kennen, wenn wir das höchste anstrebbare Ziel definiert haben für die nächste Zeit, erst dann können wir die Sorgen des nächsten Tages Sorgen sein lassen und das Jetzt im Vertrauen leben.
Ohne diese Arbeit werden wir nur in den Tag hineinleben und niemals da ankommen, wo Gott uns haben möchte.
Schauen wir uns noch einmal die Spatzen und Lilien an. Sie haben kein Bewusstsein. Sie dürfen und können an ihrem Lebensentwurf nicht mitarbeiten. Sie haben keinen Teil. Und doch kümmert sich Gott um sie.
Wir sind, und das ist heute nicht mehr selbstverständlich, wesentlich mehr wert als diese Pflanzen und Vögel. Wir haben im Paradies ein Geschenk erhalten: unser Bewusstsein. Es erlaubt uns, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden, aber auch die Zukunft zu antizipieren, aber noch so viel mehr.
Wir wissen, dass Arbeit mühsam sein wird, und Geburten schmerzen werden. Und trotzdem tun wir beides, um unsere Zukunft zu sichern. Wir wissen, dass wir sterben werden. Und trotzdem leben wir.
Gott hat keine Erwartungen an Spatzen und Lilien. Sie haben keine Pflichten, denen sie bewusst gerecht werden müssen. Sie sind, und dann sind sie nicht mehr.
Gott hat an uns insofern auch keine Erwartungen, als dass er uns liebt, ganz gleich, wie wir uns verhalten.
Der Mensch ist erwacht in eine Welt, die er nicht verstand, und darum versucht er sie zu deuten.
Carl Gustav Jung
Dieses Erwachen und die primitiven Erklärungsversuche haben uns dazu geführt, eine Trennung zwischen Gott und uns anzunehmen, wo nie eine war. Jesus hat uns den Weg zurück gezeigt, den Weg, unser Denken zu verändern.
Gott macht seine Liebe von nichts abhängig. In unserer Bewusstwerdung hat er uns eine Chance gegeben:
Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn für kurze Zeit niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.
Psalm 8:5-6
Gott gibt uns die Chance, in die Reife dessen hineinzuwachsen, was er uns schon im Paradies zugesprochen hat: Wir sind Gottes Ebenbild. Das ist mehr als „wie Gott zu sein“. Für kurze Zeit niedriger als er, und danach? Der Diener wird zwar nie grösser als der Meister, aber er wird auch nicht beständig niedriger sein, nur für eine kurze Zeit.
Unsere wachsende Bewusstwerdung ist genau dies: wir werden uns immer mehr bewusst, dass wir, Jesus und der Vater eins sind. Wie Jesus gebetet hat. Am Kreuz hat er es vollbracht. Die erste Kirche hat es ausgelebt, und in der Zerstörung aller Insignien der alten Welt, ja der alten Welt und des alten Himmels hat Gott es besiegelt, als er den Tempel zerstörte.
Die Erwartungen, die Gott an uns hat, sind keine Ausschlusskriterien, kein Billett für eine Reise in den Himmel, keine Voraussetzungen für seine Liebe. Er möchte sehen, dass wir hineinwachsen in unsere Bestimmung, mit ihm Gott zu sein. Oder was sollte es anderes heissen, wenn Paulus sagt, dass wir mit ihm regieren? Als sein Ebenbild?
Zurück zum Anfang. Viele Menschen bereuen auf dem Totenbett ihren fehlenden Mut. Den Tot zu besiegen heisst, keine Angst mehr vor diesem Übergang zu haben, der nur Illusion ist. Und daher auch keine Angst mehr vor dem, was davor geschehen könnte.
Ich glaube, ich habe den Tod besiegt.