Ich aber sage Euch…
Matt 5, mehrere Male
Religion besteht aus zwei Teilsystemen: die Doktrin und der Mystizismus. Doktrin ist konservativ, während der Mystizismus die Doktrin verändert, aber auch bedroht.
Die meisten charismatischen Gemeinden würden diese beiden Systeme etwas anders benennen. Sie würden von Wort und Geist sprechen.
Das erlaubt es ihnen unter anderem, sich von der Doktrin zu verabschieden. Es ist nicht mehr notwendig, diese festzulegen, denn das unfehlbare inspirierte Wort ist klar. Es braucht keine Doktrin oder Interpretation.
Dies ist natürlich die unverbindlichste und angreifbarste Doktrin, die je existiert hat. Jeder Pastor wird seine Doktrin selber anhand seines eigenen Verständnisses als auserwählte, gesalbte, eingesetzte Person definieren.
Im weiteren wird er verlangen, dass die anderen Leiter mit ihm aus einem Mund kommunizieren.
Der Geist ist es dann, der die Doktrin stützt durch das Jetzt-Wort Gottes, interpretiert im Rahmen der impliziten Doktrin, der eigenen Interpretation. Beides, geschriebenes und gesprochenes Wort unterliegen also der Interpretation des Pastors.
Doch gehen wir für einen Moment etwas zurück und schauen wir für einmal die gängige Praxis an, dass die Schrift den Interpretationsrahmen für die Auslegung des geistgewirkten Wortes bildet.
Ist dies der Fall, kann keine Korrektur mehr vorgenommen werden.
Jetzt werden die meisten sagen, dass das Wort ja keine Korrektur brauche. Das stimmt natürlich grundsätzlich.
Was hat Jesus dann korrigiert, wenn er sagte: Ihr habt gehört – ich aber sage Euch?
Da ist es uns klar: er hat die Interpretation der jüdischen Bibel und Tradition durch die Pharisäer, Sadduzäer und Schriftgelehrten korrigiert.
Wenn wir behaupten, dass wir heute keine solche Korrektur mehr brauchen, dann ist das Narzissmus und Selbstüberschätzung. Woher ich das weiss?
Es existieren so viele verschiedene Auslegungen der Bibel. Mindestens so viele wie es Denominationen gibt, und wenn wir den Mut haben, als Pastoren untereinander zu sprechen, dann erweitert sich die Zahl der Interpretationen noch weiter, ohne dass wir die einzelnen Gläubigen dazu genommen hätten.
Wenn ich also davon ausgehe, dass ich recht habe, dann müssen ein Grossteil der anderen falsch liegen – angenommen, dass es ein Richtig und Falsch gibt. Und das ist doch klar, oder?
Wir könnten aber immer noch sagen, dass es im Wortlaut der Bibel eine nicht-interpretierbare Wahrheit gibt. Jetzt haben wir aber Dutzende von Übersetzungen allein ins Deutsche, und diese unterscheiden sich so, dass einzelne Verse durchaus unterschiedlich ausgelegt werden können. Wer hat nun recht?
Oder waren einige der Übersetzer nicht so inspiriert wie die anderen? Sind Übersetzungen, die dem hebräischen und griechischen Wortlaut näher sind, besser, auch wenn sie dadurch die kulturelle Einbettung verpassen, also Metaphern und Konstruktionen verwenden, die nicht in unsere Kultur und Sprache passen? Oder sind Übertragungen besser, und wenn ja, welche?
Wenn aber Übersetzer durchaus falsch liegen können, und jeder fundamentalistische bibeltreue Pastor wird Übersetzungen anführen können, die ihm nicht passen, wie ist es dann mit den Schreibern der Bibel?
Wir sagen, dass Gott sein Wort bewahrt. Ich bin sicher, dass er das tut, aber auf der Wortebene kann er das offensichtlich nicht, weil eine Übersetzung immer nur einen Teil der Konnotation des zugrundeliegenden Wortes erfassen wird, und weil erwiesenermassen die Theologie des Übersetzers in die Übersetzung einfliesst. Genau so wie es uns beim Lesen passiert: ich verwende meine Prägung und Kultur als Bezugssystem. So funktioniert Sprache nun mal.
Inwiefern wird Gott die Bibel wörtlich diktiert haben, wenn er weiss, dass die Übersetzungen diesen wörtlichen Wortlaut verlieren wird?
Der Koran darf nur in Arabisch gelesen werden, weil er in einer Sprache nie dasselbe aussagen wird. Wir müssten also darauf bestehen, dass nur die hebräischen, aramäischen und griechischen Urtexte massgebend und Predigten nur in diesen Sprachen aussagekräftig und autorisiert sind.
Dann stellt sich die Frage: welche Urtexte? Wir haben keine Urtexte, sondern von einander abweichende Abschriften, welche teilweise hunderte von Jahren später geschrieben wurden.
Das geschriebene Wort kann also nur beschränkt die massgebende Autorität sein, sogar bis zu dem Punkt, wo wir nicht wissen, ob ein vom Geist eingegebenes Wort der Bibel widerspricht oder unserer Tradition in der Auslegung oder unserer privaten persönlichen Interpretation.
Wie hat Gott vorgesorgt, und warum hat Gott dies überhaupt zugelassen?
Gott hat im alten Testament ein Korrektiv eingebaut in Form der Propheten. Propheten waren Menschen, auf welche der Heilige Geist kam. Im neuen Testament wohnt der Heilige Geist in jedem Gläubigen.
Natürlich hat das Jetzt-Wort Gottes genau dieselben Beschränkungen und Probleme wie das geschriebene. Es unterliegt der Interpretation des Sprechers und der Hörer, und Gott muss sich beim Sprechen auf den kulturellen Rahmen des Empfängers beziehen, um überhaupt annähernd verstanden zu werden.
Darum die Gemeinschaft der Gläubigen. Viele Quellen, viele Hörer und Interpreten zusammen schränken die Möglichkeit zur Fehlinterpretation ein. Oder sie würgen jede Möglichkeit zur Korrektur aus Tradition ab.
Letzteres wird wesentlich häufiger geschehen. Der Mensch glaubt im Allgemeinem dem mehr, was seine vorgefasste Meinung und seinen bisherigen Glauben bestätigt. Man nennt dies den Confirmation Bias.
Darum braucht es meist sehr lange, bis sich eine Korrektur, welche der Heilige Geist anstösst, durchsetzen kann.
Nehmen wir ein Beispiel:
Wir übersetzen im Deutschen das Wort katallassio mit Versöhnung. Katallassio heisst Austausch.
Im 4. Jahrhundert beginnt Hieronimus mit der Übersetzung der Bibel ins Lateinische. Er übersetzt das Wort mit reconciliare. Reconciliare heisst „wieder zum Freund gewinnen“.
Hieronimus ist in einer Kultur, welche stark geprägt ist mit dem Denken, sich mit den Göttern versöhnen und gut stellen zu müssen. Darum die Wahl des Wortes. „Wieder zum Freund gewinnen“ erhält über den Gedankengang, dass man es vorher mit dem Freund verbockt haben müsste, die Bedeutung der Versöhnung. Aus Austausch wird Versöhnung.
Da nun das Wort Versöhnung gewählt wurde, muss die Sünde beziehungsweise deren Überwindung ins Zentrum der Christologie gestellt werden. Jesus starb, um uns zu versöhnen.
Jetzt ist es nicht mehr weit zur theologischen Aussage, dass Gott mit uns keine Gemeinschaft haben könne, solange wir Sünder sind. Obwohl er durchaus mit Adam und Eva nach dem sogenannten Sündenfall sprach, kann er es heute nicht mehr, oder wir können es nicht mehr.
Hier werden Verse herangezogen, die diese Sicht bestätigen sollen: wie kann jemand Gott lieben und seinen Bruder hassen? Das sagt nichts über die Fähigkeiten Gottes aus, Gemeinschaft mit Sündern zu haben – was Jesus ja sein ganzes Leben lang hatte. Es sagt etwas aus über unseren inneren Zustand.
Kann Gott uns vergeben, wenn wir nicht vergeben? Aber natürlich, aber wir werden uns unser eigenes Gefängnis bauen, aus dem wir erst rauskommen, wenn wir vergeben.
Es geht aber noch weiter. Der Sündenfall selbst muss zum Sündenfall werden, weil es um Wiedergutmachung und Versöhnung geht. Das ganze alte Testament hindurch versuchten die Israeliten, durch Opfer gerechtfertigt zu werden, sich mit Gott wieder gut zu stellen. Damit hat sich Hieronimus in eine lange Tradition eingereiht – eine alttestamentliche Tradition, zusätzlich zu seiner römisch-heidnischen Prägung.
Wir interpretieren das Opfer Jesu am Kreuz als das ultimative Opfer im Sinne des alten Testaments. Gott braucht dieses Opfer, um sich mit der Welt zu versöhnen.
Vielleicht ist es aber auch so, dass wir und nicht Gott davon überzeugt sind, dass es ein Opfer braucht, damit wir mit Gott versöhnt werden können? Gott in seiner unendlichen Liebe geht auf uns ein und schenkt uns dieses Opfer, damit wir endlich aufhören, Viecher zu opfern. Obwohl er uns schon ein paar mal dazu aufgefordert hatte, aufzuhören.
Doch da müssen wir nicht stehen bleiben. Was, wenn wir erkennen, dass gar kein Opfer notwendig ist? Wir haben bereits erkannt, dass wir nichts dazu beitragen können, dass es keine Vorbedingungen gibt für unsere Wiederherstellung.
Was, wenn Jesus starb, um uns zu zeigen, wie man lebt? Was, wenn es nicht zentral um Sünde geht, sondern darum, unsere Berufung auszuleben? Bedingungslos und furchtlos, wenn nötig bis in den Tod?
Dies würde uns erlauben, die Geschichte vom Paradies loszulösen von dem Begriff Sünde, denn die Wiederherstellung am Kreuz wäre dann nicht die Überwindung der Sünde in unserem theologischen Sinne.
Wenn die Geschichte von Adam und Eva die Bewusstwerdung des Menschen beschreibt, dann beinhaltet diese Bewusstwerdung die Fähigkeit des Menschen, zwischen sich und anderen zu unterscheiden. Dies ist die Grundlage des Dualismus, der automatisch zu Kategorien wie Gut und Böse, Richtig und Falsch führt.
Sobald aber der Mensch sich seiner selbst bewusst wird, grenzt er sich von Gott ab. Er ist nicht mehr wie Gott, und der Verlust dieser Einheit führt ihn auf einen Wachstumspfad, der ihn wieder in diese Einheit zurückführen soll, aber auf einer höheren Ebene. So hilft ihm Gott in seinem Wachstum, indem er dem Menschen immer auf der Ebene begegnet, die der Mensch verstehen kann.
Das führt automatisch zu Missverständnissen, Vereinfachungen, Umwegen, Korrektur, Umlernen, Neuanfängen, und Zwischenerfolgen.
Aber eine solche Auslegung würde vehement abgelehnt. Zu dicht ist das Geflecht, die Tradition, welche wir durch Übersetzung, Wortwahl, Theologie und Hierarchie geschaffen haben, als das eine solch grundlegende Überarbeitung unserer Glaubens, unserer Doktrin auch nur als möglich, geschweige denn gottgewollt verstanden werden könnte. Unsere eigenen grundlegenden Prinzipien der Prüfung von Gottes Wort wären herausgefordert, zusammen mit der jahrhundertealten Tradition. Und viel schlimmer noch: unsere eigene Interpretation, unser Glaubenssystem, unsere Weltanschauung, und unsere Rechtfertigung vor Gott.
Und was nicht sein darf, darf nicht sein.
Und so ziehen wir eine neue Runde um den Berg. Gott ist treu. Die Wolke hat das Volk Israel die ganzen 40 Jahre durch die Wüste begleitet, auch wenn es der falsche Weg war, aber der offensichtlich notwendige für das halsstarrige Volk.
Wir sind keinen Deut besser.