Das Christentum kann gesehen werden als die grosse Geschichte der Wiederherstellung einer Beziehung zwischen einem Vater und seinen Kindern, einem Schöpfer und seiner Schöpfung.
Für Gott ist die Menschheit sein Kind, was er zum Beispiel darin zum Ausdruck bringt, dass er ganz Israel seinen erstgeborenen Sohn nennt. Ebenso ist der Einzelne sein Kind, was wir darin sehen, dass wir das Recht haben, seine Kinder zu heissen, dass er die Könige Israels und Jesus seine Söhne nennt. Und natürlich daran, dass er Jesus seinen Erstgeborenen nennt.
Gott nimmt die Menschheit auf eine Reise, genauso wie er jeden Einzelnen auf eine Reise nimmt. Und wie es im Leben des Einzelnen Auf und Ab gibt, so auch in der Geschichte der Menschheit.
Wenn das aber so ist, dann sollten wir wahrscheinlich verschiedene Stränge in der Geschichte der Menschheit verfolgen können, die sich mit der Zeit tendenziell Gottes Willen annähern.
Wenn sich die Menschheit aber entwickelt, dann kann der Einzelne weiter gehen, als seine Ahnen. Da aber jeder Mensch am Anfang startet, vollzieht er diese Geschichte im Kleinen im eigenen Leben nach und schreibt sie fort.
Nehmen wir ein Beispiel:
Abraham war 75 Jahre lang unter heidnischen Einflüssen aufgewachsen, als Gott ihn rief, aus Ur wegzuziehen. 25 Jahre später wurde Isaak geboren, der mit einem Vater aufwuchs, der schon viele Prägungen hatte loswerden können und einiges mit Gott erlebt hatte.
Isaak lernte in den ersten Jahren alles, was Abraham gelernt hatte, und wurde vor vielen heidnischen Bräuchen und Sitten verschont. Während seinem Leben lernte er noch mehr dazu, zum Teil unter traumatischen Bedingungen, zum Beispiel als er geopfert werden sollte.
Sein Sohn Jakob wiederum profitierte von Allem, was Isaak gelernt hatte, und so ging es mit Josef weiter.
Vier Generationen, und jede profitierte von den Vorgängern und beeinflusste die Nachkommen. Wieviel mehr über Tausende von Jahren?
Ein zweites Beispiel:
Gott wandte sich nie gegen Sklaverei – wenigstens nicht in der Bibel. Er sprach immer wieder über die Sklaverei und schuf mit seinen Geboten Lebensbedingungen für die Sklaven, die besser waren, als das, was die anderen Völker lebten.
Wir sind eigentlich hier an einem ganz ähnlichen Punkt wie bei den Stammvätern. Hätte Gott mit Abraham den Weg gehen können, den er mit Josef ging, oder war erst Josef bereit dafür wegen seinem geistlichen Erbe? Ich glaube das Zweite.
Die Menschen zur Zeit des Alten Testaments waren nicht bereit, die Sklaverei abzuschaffen. Zu sehr gehörte sie zu ihrem Weltbild. Und so führte Gott die Menschen über Jahrtausende an einen Ort, an dem sie dazu bereit waren: England, im 19. Jahrhundert.
Das erste Beispiel zeigt die Veränderung im einzelnen Leben und in wenigen Generationen, das zweite beschreibt die Veränderung in der Menschheitsgeschichte.
Wenn sich aber die Menschheit über die Jahrhunderte verändert, wächst, und ein grösseres Verständnis entwickelt, dann sollte sich dies in der Geschichte und in der biblischen Erzählung wiederfinden.
Aber auch wenn sich die Menschheit entwickelt, heisst dies nicht, dass sie ohne den Einfluss Gottes wachsen würde. Die Entwicklung des Einzelnen wie auch der Menschheit sind ein Zusammenspiel, eine Interaktion von Gottes Geben und unserem Empfangen und Antworten.
Und natürlich wird sich unser Verständnis auch dahingehend ändern, dass wir neue Aspekte in den Erzählungen der Bibel finden, neue Schichten, die uns neue Horizonte öffnen. Dabei treten frühere Perspektiven vielleicht kurzzeitig in den Hintergrund, werden verfeinert, oder geraten sogar in Vergessenheit, weil sie ihren Dienst getan haben. Und doch bauen die neuen Schichten auf dem auf, was wir bereits wissen und verinnerlicht haben.
Es ist nicht möglich, Menschen direkt zu den tieferen Schichten zu führen. Jeder Mensch trägt Schicht für Schicht ab, macht sie sich zu eigen. Doch viele Erkenntnisse sind tief in unserer Kultur verwurzelt, so dass wir sie nicht mehr gezielt lernen müssen, sondern sozusagen mit der Muttermilch aufnehmen. Sie werden Teil unserer Prägung, unserer Moral, unseres Wesens als Mensch unserer Zeit in unserer Kultur.
Dies hat positive Seiten: wie Isaak, Jakob und Josef können wir weitergehen als unsere Väter, denn sie haben das Sprungbrett für uns bereits geschaffen.
Und es hat negative Seiten: oft haben sich gewisse Glaubens- und Kulturinhalte so stark eingeprägt, dass es für uns sehr schwierig wird, über sie hinauszuwachsen.
Ich möchte ein Beispiel geben für die tieferen Schichten, die uns je nach Entwicklungsstand bewusst werden.
Erste Schicht.
Die Schöpfungsgeschichte wurde von Mose niedergeschrieben. Sie beschreibt die Schöpfung, wie sie tatsächlich standgefunden hat. Als Problem der Menschheit identifiziert sie Ungehorsam, was dazu führte, dass der Tod und die Sünde in die Welt kam. Seither ist der Mensch sündhaft. Entwickelt hat er sich im grossen Ganzen seither nicht, er hat sich nur neue Gadgets angeschafft, die ihn mehr und mehr in Beschlag nehmen. Jesus ist am Kreuz gestorben, um unsere Sünden zu vergeben. Jetzt ist es an uns, einen geheiligten Lebensstil, einfach, traditionell, aber doch mit den Segnungen Gottes, in Gehorsam zu leben.
Zweite Schicht.
Die Schöpfungsgeschichte wurde im babylonischen Exil oder später niedergeschrieben und ist die Antwort auf frühere Schöpfungsberichte, insbesondere der Enuma Elish aus Babylon. Wichtig sind die Änderungen: es ist der einzige Gott, der die Welt geschaffen hat, und sie ist sehr gut und nicht nur Spielplatz der Götter.
Insofern ist die Schöpfungsgeschichte symbolisch und mystisch zu verstehen, den ein Laborbericht der tatsächlichen Schöpfung kann und will sie nicht sein. Als solcher würde sie der Wissenschaft widersprechen.
Dritte Schicht.
Die Schöpfungsgeschichte beschreibt die Vorgänge, die geschahen, bevor die Welt Materie wurde. Die Schöpfung wurde geschaffen, um von Gott zu empfangen und ihn zurück zu reflektieren.
Doch die Schöpfung lehnte diesen Auftrag ab, und so auch Adam. Adam entschied sich, nur zu empfangen und für sich zu behalten, was Gott für ihn hatte, und ganz aus eigener Kraft zu leben. Er machte das Selbst zur Quelle. Jesus hat dadurch, dass er seinen Auftrag bis zum bitteren Ende am Kreuz ausführte, die Schöpfungsordnung wieder hergestellt. Nun steht uns der Weg offen.
Vierte Schicht.
Die Schöpfungsgeschichte beschreibt die Bewusstwerdung des Menschen. Der Mensch hat sich evolutionär zu dem entwickelt, was er ist, und an einem bestimmten Punkt entwickelte er Bewusstsein. Dies ist der göttliche Funken, der ihm geschenkt wurde, als der Körper so weit war, dies zu ertragen.
Verschiedene Aspekte führten zu diesem Bewusstsein: das Farbsehen, um Früchte im Laub zu entdecken, und die Mustererkennung, um getarnte Schlangen wahrzunehmen, waren zwei wichtige Aspekte auf dem Weg. Darum die Bilder der Schlange und der Frucht in der Geschichte. Das Bewusstsein braucht ein Gehirn von einer bestimmten Komplexität, um die Grenzen der Welten zu überwinden.
Adam und Eva lernten Sprache und benannten alle Dinge, und sie lernten es, Entscheidungen zu treffen. Sie wurden sich selber bewusst, erkannten, dass Entscheidungen Konsequenzen mit sich brachten, erkannten, dass sie anders waren. Dies wird beschrieben in dem Satz: und ihnen wurden die Augen geöffnet, und sie erkannten, dass sie nackt waren.
Das Paradies hatte sich nicht verändert, aber nun waren sie sich ihrer selbst bewusst, ihrer Verletzlichkeit, der Mühen und Schmerzen, und ihrer Endlichkeit. Ihre Wahrnehmung hatte sich verändert.
Als Lösung für das Problem, dass bewusstes Leben mühselig ist, hat Gott ein grösseres Bewusstsein bereit, statt uns wieder in die unbewusste Einheit zurückzuführen.
Welche der vier Schichten ist jetzt wahr?
Alle und keine. Erstens kommt es darauf an, wie wir Wahrheit definieren. Und zweitens, wo wir in unserer Entwicklung gerade stehen.
Alle vier Schichten nehmen uns an bestimmten Punkten unserer Geschichte an die Hand und führen uns tiefer in die Wirklichkeit Gottes ein. Sie sind nützlich für Menschen in verschiedenen Situationen.
Die erste Schicht lehrt uns Moral und Ethik, die zweite die Freude an der Forschung. Die dritte lehrt uns das Prinzip der Gnade, und die vierte führt uns in das Prinzip der bewussten Evolution ein.
Wie diese vier Auslegungen dies schaffen, wird Umfang vieler weiterer Betrachtungen sein. Sie sind hier nur äusserst oberflächlich angedacht.
Für die meisten Leser wird eine der Schichten besonders Sinn machen. Andere werden sich dem Verständnis noch vollständig entziehen, und ich bin sicher, dass es noch mehr Auslegungen geben wird in der Zukunft.
Was also ist die Heilslehre Gottes?
Er führt uns langsam, in unserem Tempo, in ein grösseres Bewusstsein, damit unsere Beziehung zu ihm vollständig und in allen Facetten wiederhergestellt wird und wir als Individuen in Einheit mit ihm leben und wirken können.