Ich schreibe an Timotheus, der mir ein richtiger Sohn geworden ist, weil ich ihn zum Glauben geführt habe. Gnade, Erbarmen und Frieden sei mit dir von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!
1. Tim 1:2
Ich habe bereits viel über geistliche Vaterschaft geschrieben. Es ist Zeit, einen weiteren Blick auf dieses Modell zu werfen.
Geschichtliche Verankerung
Geistliche Vaterschaft wird von verschiedenen Geschichten in der Bibel abgeleitet. Es sind dies hauptsächlich Elia und Elisa sowie Paulus und Timotheus oder Titus.
Elia beruft Elisa zu seinem Nachfolger. Später lernen wir, dass Elisa 20 Jahre lang Wasser über die Hände von Elia gekippt hat, das heisst, er hat ihm gedient. Erst nach dem Tod Elias erhielt Elisa von Gott die doppelte Salbung seines Vorgängers. Und erst Jahre später hören wir, dass er von den Autoritäten als Prophet anerkannt wurde.
Paulus lernt Timotheus auf einer seiner Reisen kennen und nimmt ihn noch als Knaben mit sich. Timotheus ist also irgendwo zwischen 13 und 30 Jahre alt, als ihn Paulus kennenlernt, wohl eher am jüngeren Ende des Spektrums. Paulus führt ihn zum Glauben, attestiert aber seiner Mutter und Grossmutter bereits einen starken Glauben.
Zu jener Zeit war die Bekehrung eine Sache des ganzen Hauses, nicht des Individuums. Bekehrte sich das Oberhaupt des Hauses, waren alle Christen. Was bedeutet das für die Aussage in unserem Vers, dass Paulus Timotheus zum Glauben führte? Hier sind mehrere spekulative Interpretationen möglich:
- Timotheus‘ Vater hat sich nicht bekehrt. Daher wurde auch nicht er, sondern Mutter und Grossmutter als Vorbild genannt. Somit gilt Timotheus nicht als Christ.
- Es geht hier um einen eigenständigen Glauben des Timotheus, der auch fern des Elternhauses überlebt.
- Die Phrase „Glaubenskind“ spricht nicht von einem Bekehrungserlebnis, sondern von der Beziehung, die Paulus mit Timotheus hatte.
Persönlich neige ich zu letzterem, und daraus leitet sich auch die Lehre der geistlichen Vaterschaft ab.
Es ist so, dass viele Menschen geistliche Vaterschaft definiert sehen als Beziehung zu dem Menschen, der sie zum Glauben führte. Andere jedoch betonen, ausgehend auch von der Aussage des Paulus, dass wir viele Leiter, aber wenig Väter hätten, dass es um eine andere Beziehung ginge.
Doch zuerst, warum nehme ich an, dass die ersten beiden Varianten eher unwahrscheinlich sind?
Die Bibel kennt eigentlich keine Abhängigkeit meines Glaubens von der Familie. Richtig, wenn das Oberhaupt sich bekehrte, galt das Haus als christlich, denn dieser Glaube wurde von nun an im Haus gelebt. Jesus aber sprach selbst davon, dass er kam, um das Schwert zu bringen. Väter und Kinder würden sich entzweien. Timotheus war nicht Heide, nur weil sein Vater Heide war.
Auf der anderen Seite war der Begriff des Individuums noch nicht geboren. Man war, was die Gemeinschaft, die Familie war, in der man sich befand. Darum war es notwendig, dass Timotheus beschnitten wurde. Er wurde von allen als Grieche, als Heide gesehen wegen seiner Abstammung, vor allem von den Juden.
Insofern machte Timotheus tatsächlich einen Schritt in die Unabhängigkeit, in seine eigene Glaubensgeschichte, als er das Vaterhaus verliess, und sich einer neuen Gemeinschaft anschloss: der Reisegemeinschaft des Paulus. Und Paulus war der Patriarch dieser Gemeinschaft, definierte also ihren Glauben.
Damit führen uns alle drei Punkte auf eine Beziehung hin: Timotheus verliess sein teilweise heidnisches, teilweise jüdisches Zuhause, seine glaubensmässig gespaltene Familie, und ging mit Paulus mit. Paulus investierte sich von nun an in Timotheus wie in einen Sohn.
Titus scheint älter gewesen zu sein, als er zu Paulus stiess, und wir wissen wesentlich weniger über ihn und seine Beziehung zu Paulus. Wir wissen, dass Titus Grieche war, mit Paulus reiste, ihn später immer wieder aufsuchte, und dass er sich nicht beschneiden liess. Titus wird im Brief, den Paulus an ihn schrieb, auch Glaubenskind genannt. An anderen Stellen nennt ihn Paulus Bruder.
Kind meines Glaubens
Doch sehen wir uns diese Klausel „Kind meines Glaubens“ etwas näher an.
Wir übersetzen pistis mit Glauben. Im Englischen werden dafür zwei Worte verwendet: faith und belief. Dabei bedient sich jeder Übersetzer, je nach seiner eigenen Theologie, an verschiedenen Stellen des einen oder anderen Wortes. Das zeigt uns, dass das Wort bereits sehr stark theologisch geprägt wurde.
Wie stark? Könnte es sein, dass unsere Theologie sogar alttestamentlich geprägt ist und wir deshalb bei „Kind meines Glaubens“ sofort an richtigen und falschen Glauben denken, an die Übereinstimmung der Lehre und des Inhalts sowie der Formen und der Handlungen?
Im alten Testament ging es um die Befolgung des Gesetzes in äusserlichen Handlungen, von denen man glaubte, dass sie Ausdruck der inneren Haltung seien. So wurde das Gemeinschaftsleben, das Leben des Einzelnen, und der Gottesdienst stark reglementiert.
Die Geschichte Davids aber zeigt uns auf, dass nicht die Handlungen, sondern die Herzenshaltung wichtig sind. Paulus macht uns auch klar, dass das Gesetz uns nicht dahin geführt hat, eine gute Beziehung zu Gott aufzubauen. Keiner konnte es erfüllen.
Eine der besten Begründungen für das Gesetz, welche ich gehört habe, lautet so:
Gott sah, dass sie es so haben wollten, und darum liess er es zu, um ihnen aufzuzeigen, dass es so nicht funktioniert.
Jesus zeigte uns auf, dass nicht die äusserliche Befolgung des Gesetzes wichtig war, sondern die innere Motivation, die dahinterstand.
Wenn wir pistis mit Glauben übersetzen, stehen wir in der Gefahr, nicht mehr die Tätigkeit des Glaubens zu sehen, sonder das Glaubenssystem, nicht mehr die Motivation, sondern das Gesetz.
So sehen wir in der Klausel „Kind meines Glaubens“ jemanden, der genau das Gleiche glaubte wie Paulus. Es geht um das Glaubenssystem des Paulus, welches dem Timotheus und dem Titus übergestülpt wurde. Die Beiden liessen sich willig darauf ein, sich extern bestimmen zu lassen.
Wenn wir aber das Wort pistis als Tätigkeit sehen, ergeben sich zwei total andere Aspekte:
Erstens wird die Investition sichtbar, die Paulus gemacht hat. Er hat für die Beiden und an die Beiden geglaubt. Und sie haben zweitens ihm geglaubt.
Es geht um eine Vertrauensbeziehung. Pisteo, das Verb, von dem pistis abgeleitet ist, heisst überzeugen. Überzeugen kann ich durch Argumente, durch Vertrauen, durch Vorleben.
Wenn Jesus sagt, dass er nichts tue, was er nicht den Vater tun sehe, dann kann die Motivation dafür sklavischer Gehorsam oder absolutes Vertrauen sein. Welches von beidem entspricht der Botschaft des Evangeliums mehr?
Doch jetzt wird es interessant. Wenn die Klausel „Kind meines Glaubens“ also besser mit „Kind meines Vertrauens“ und nicht mit „Kind meines Glaubenssystems“ übersetzt wird, wer vertraut den nun?
Es ist Paulus, der Vertrauen investiert. Natürlich wird dieses Vertrauen durch die Antwort darauf auch wieder genährt oder enttäuscht. Das Verhalten von Timotheus und Titus ist also wichtig, aber ausschlaggebend ist die Investition des Paulus.
Paulus vertraut den Beiden, weil er sich in sie ausgegossen hat, und weil sie sich seines Vertrauens würdig erwiesen haben. Nicht, weil sie das Gleiche glaubten wie er. Nicht, weil sie sklavisch gehorsam waren und keine Fehler machten.
Sehen wir dazu auch Jesus an. Er hinterliess einen unfertigen, fehlerbehafteten, ängstlichen und verängstigten Haufen. Er vertraute ihnen die Zukunft der Gemeinde, der Menschheit, der Schöpfung an. Er schenkte ihnen den Heiligen Geist, der sie leiten sollte. Auch hier zeigt sich sein Vertrauen, denn er wusste um unsere Schwierigkeiten, den Heiligen Geist wahrzunehmen unter all den anderen Stimmen und ihm zu vertrauen.
Jesus heisst auch Ewigvater. Und doch nennt er uns Brüder, Schwestern, Mütter. Er sagt zum Vater, dass dieser ihm die Jünger anvertraut hätte. Und wieder finden wir das Wort Vertrauen.
Kinder sind uns anvertraut. Sie gehören uns nicht. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist eine Vertrauensbeziehung, bei der Gott als Erster Vertrauen investiert, indem er uns seine Kinder anvertraut. Es geht nicht in erster Linie um Besitz oder Gehorsam. Es geht um Vertrauen.
Weil Gott uns vertraut, investieren wir Vertrauen in andere, speziell unsere Kinder. Natürlich geht es dabei um ein wachstümliches, stufengerechtes Vertrauen.
Wachstümliches Vertrauen
Ich wurde vor ein paar Tagen zum zweiten Mal Grossvater. Nach unserem Enkel Caleb haben wir nun eine geliebte Prinzessin Amaeya Zadie.
Sogar im Vergleich zu ihrem Bruder ist die Kleine absolut hilflos. Im Gegensatz zu manchem Tierkind braucht sie die Pflege und Unterstützung ihrer Eltern für eine lange Zeit. Während dieser Zeit lernt sie mehr und mehr, sich dem Leben selber zu stellen, und wird unabhängiger, aber nie total unabhängig.
Was lernt ein Kind, ein Mensch denn so in seinem Leben?
Während der ersten Zeit seiner Entwicklung ist Amaeya sehr verletzlich. Sie braucht ein sicheres Umfeld von Menschen, die sie bedingungslos lieben: die Familie und den erweiterten Stamm. Sie kann ja erst rudimentär kommunizieren – hauptsächlich durch Geschrei – und es braucht viel Zeit und Gemeinschaft, damit sich die Kommunikation entwickelt. Erste Gesten, Verhaltens- und Ausdrucksweisen bedürfen einer tiefen Beziehung, damit sie überhaupt verstanden werden.
Zusätzlich kann Amaeya die Welt noch nicht erobern, ist sie doch noch nicht fähig, sich fortzubewegen.
Aber als erstes ist es wichtig, dass sie überhaupt lernt, dass es verschiedene Dinge gibt. Sie muss und darf lernen, dass Mami nicht eine Erweiterung ihrer selbst ist, und dass ein Spielzeug nicht integraler Teil ihres Körpers ist. Wird einem Kind ein Spielzeug weggenommen, kann es durchaus das Gefühl haben, ein Teil seiner selbst zu verlieren.
In dieser ersten Entwicklungsphase baut das Kind Vertrauen auf zu einem kleinen Umfeld und lernt in der Familie zu bestehen, seinen Platz zu finden.
Caleb ist schon weiter. Er spricht, läuft, rennt, erkennt Personen, und gewöhnt sich daran, aus der Sicherheit seines Zuhauses die Welt zu erobern. Er weiss, dass er da sicher ist, wo ihn seine Eltern hingehen lassen – und probiert manchmal die Grenzen aus.
Mami und Papi, aber auch andere Autoritätspersonen in seinem Leben wie die Leiterinnen der Kita haben auch schon in Regeln und moralisches Empfinden investiert. Caleb lernt, sich in Gemeinschaften einzugliedern, die grösser sind als seine eigene Familie. In dieser Phase lernt Caleb Gehorsam, Einordnung in eine Hierarchie, und zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden.
Später wird ihm klar werden, dass er zwar nicht egoistisch nur seine eigenen Ziele verfolgen kann, dass er aber als Individuum wertvoll ist, auch ausserhalb seiner Gemeinschaft und über die Rolle hinaus, die ihm die Gemeinschaft gibt. Er lernt es, sich selbst Ausdruck zu geben. Er wird mehr als ein Mitglied der Gemeinschaft. Er wird ein Individuum.
Als Individuum wird er sich vielleicht für die Gemeinschaft als Ganzes, für die Menschheit einsetzen, eine soziale Verpflichtung weit über die Grenzen der Familie oder der Interessengemeinschaft hinaus entwickeln und empfinden. Er wird den göttlichen Funken in einem jeden Menschen und in der Schöpfung entdecken und wertschätzen.
Und dann wird ihm klar, wie wichtig all das ist, und wie jede Situation alle seine erlernten Fähigkeiten beansprucht.
Wie steht es nun mit dem Vertrauen, das seine Eltern in ihn investieren?
Anfänglich vertrauen sie hauptsächlich darauf, dass dieses kleine Menschlein sie liebt. Sie werden Amaeya noch eine ganze Weile nichts anvertrauen oder sie alleine ausser Hörweite lassen.
Später wird dieses Vertrauen wachsen. Die Reaktionen von Amaeya und Caleb bestimmen die Geschwindigkeit des Wachstums und den Umfang des Vertrauens genau so wie die Persönlichkeit ihrer Eltern mitbestimmend sind. Das gilt übrigens ab einem gewissen Zeitpunkt auch umgekehrt.
Regeln, Moral, Gehorsam sind Werkzeuge in diesem Prozess, und nicht Ziel. Ziel ist ein vertrauenswürdiger, lebensfähiger, reifer, selbstbestimmter, gemeinschaftstauglicher Mensch.
Geistliche Vaterschaft
Genau so ist es im geistlichen Bereich. Die Vertrauensbeziehung sollte wachstümlich sein.
Geistliche Vaterschaft wird nun in verschiedenen Denominationen und Kirchen unterschiedlich verstanden. Dies geht von „das ist die Person, durch die Du zum Glauben gekommen bist“ bis zu hierarchischen Modellen wie in der katholischen Kirche, wo jeder Priester und Mönch Vater genannt wird, oder im Shepherding Movement, wo ein geistlicher Vater fast absolute Autorität über seine geistlichen Kinder hatte.
Im kirchlichen Bereich stellt sich ein weiteres Problem: wir können Beziehungen wie Vaterschaft nur in dem Modell, in der Weltanschauung, auf der Entwicklungsstufe leben, in der wir selber angekommen sind. Denn wie der einzelne Mensch, so haben auch Gemeinschaften und die Gesellschaft ein wachstümliches Interpretationsmodell der Welt.
Ist eine Gemeinde nicht über die Stufe hinausgewachsen, in der sie Moral, Ethik, Hierarchie, Ordnung und Gehorsam als Wichtigstes Lernziel definiert und Glaube als Zugehörigkeit zu einem Glaubenssystem sieht, dann werden auch die Beziehungen unter diesen Richtlinien und Gesichtspunkten gelebt. Die Vater-Sohn-Beziehung wird demnach nicht über das System des Gehorsams und der gemeinsamen Doktrin, bestimmt durch den Vater, hinauswachsen.
Das hat zur Folge, dass Söhne, welche weitergehen wollen als ihre Väter, dies nur auf eine Art tun können, welche die Väter als Rebellion und Verrat verstehen. Leider wird so das gegenseitige Vertrauen zerstört.
Im alten Testament wurde Elisa erst mündig, als Elia starb. Paulus konnte Timotheus und Titus bereits in die Reife führen, während er noch lebte. Heute gelingt dies nur in wenigen Fällen. Warum?
Im alten Testament lebten die Israeliten unter dem Gesetz. Ihre Gesellschaft war auf dem Weg, Moral, Ethik, Regeln und Ordnung zu lernen. Die Leiter waren oft recht autokratisch unterwegs, und so aus die Propheten. Ein nächster Wachstumsschritt war erst möglich, wenn die alte Generation ausgestorben war.
Paulus lebte in einer Gesellschaft, in der sich Moral, Ethik, Regeln und Ordnung durchgesetzt hatten, wenn auch nicht ausschliesslich. Der Vorteil, den Paulus hatte, lag also bei ihm selbst, nicht bei seinen Söhnen. Er hatte gelernt, dass er nicht das Mass aller Dinge war. Seine Söhne allerdings wuchsen nicht über die Stufe hinaus, in die Paulus selbst gewachsen war. Darum konnten sie mit Paulus koexistieren. Sie hatten nicht nur die gleichen Werte, sondern auch die gleiche Weltanschauung. Gehorsam und Moral, Hierarchie waren ihnen wichtig. Weiter konnten sie zu ihrer Zeit nicht gehen.
Heute wachsen wir Menschen weiter. Wir sind Kinder der Aufklärung, der Wissenschaft, der Technik, und deren Folgen. Wir kennen die Folgen von sogenannt gottgegebenen Hierarchien mit all den Auswirkungen. Wir möchten weiter wachsen. Aber solange das weder die Systeme noch die Väter zulassen, haben wir ein Problem.
Elisa wurde von Gott in ein neues System geführt. Es beinhaltete Einordnung und Unterordnung, Moral und Ethik, Regeln und Ordnung. Darum diente er Elia ein Leben lang.
Wir werden in neue Systeme eingeführt. Sie beinhalten eigenständiges Denken, Wissenschaft, Erfolgsstreben oder inklusive Denken, subjektive Wahrheitsbegriffe oder integrales Denken und aperspektivische Weltanschauung. Das Wachstum hat sich beschleunigt. Während Elisa den nächsten Schritt des Wachstums lernte, indem er wartete, lernen wir, indem wir weitergehen.
Leider empfindet das die alte Weltanschauung als Verrat. Was viele davon abhält, den nächsten Schritt zu tun. So versteinern Systeme, geben Menschen auf, wird die Gemeinde irrelevant. So entstehen tausende von Denominationen. Es wird ein System, welches Wachstum bringen sollte, zu einem System der Trennung.
Wenn wir lernen, Glauben nicht mit einem System, einer Doktrin gleichzusetzen, sondern mit gegenseitigem Vertrauen, dann ist es möglich, diese Grenze zu überwinden.