Lüg nicht

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Du sollst keine falsche Aussage über einen deiner Mitmenschen machen.

2. Mose/Exodus 20:16

Die Assoziation, die wir wohl zuerst haben, ist die zu einem Gerichtsverfahren. Leiste keinen Meineid.

Ein Meineid ist eine Lüge, eine Falschaussage. Einen Meineid kann ich zu Gunsten oder zu Ungunsten einer anderen Person leisten, aber natürlich meiner selbst.

Aus dem Vers „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst“ könnten wir ableiten, dass wir unter anderem unsere Nächsten sind. Oder anders gesagt: manchmal ist es wichtig, an mich selbst zu denken, solange dies nicht egoistisch geschieht.

Insofern bin ich irgendwie mein eigener Mitmensch.

Wenn ich das Ganze noch etwas weiter spinne, dann ist wohl eine der grössten Lüge die, die wir uns selbst erzählen.

Im ausserbiblischen Thomasevangelium steht folgender Vers:

Seine Schüler fragten ihn: Verlangst du, dass wir fasten? Wie sollen wir beten? Sollen wir Almosen geben? Welche Ernährungsvorschriften sollen wir befolgen? Yeshua sagte: Lügt nicht, und tut nicht, was ihr hasst. Alle Dinge werden vor dem Himmel offenbar. Es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar werden wird, und es gibt nichts Verstecktes, das nicht aufgedeckt werden wird.

Logion 6

Ganz im Sinne unseres Gedankengangs lege ich dies folgendermassen aus:

Belüge Dich nicht selbst. Tue nichts über längere Zeit, dass Du hasst, dass Dir Energie entzieht.

Das heisst nicht, dass ich machen kann, was ich will, und nicht tun muss, was mir stinkt.

Es heisst, dass ich ehrlich sein soll mit mir selbst in Bezug auf meine Motivation. Tue ich etwas, nur weil es von mir erwartet wird? Tue ich es, um Lob und Anerkennung einzuheimsen? Tue ich es, um dazuzugehören?

Das kommt ans Licht.

Was kann ich nun tun? Ich kann meine Motivation verändern, oder aufhören, die Sache zu tun.

Ich möchte hier ein ganz praktisches autobiographisches Beispiel machen.

Für sehr lange Zeit habe ich mich auf verschiedenen Ebenen selbst belogen.

Ich wollte aufgrund einer Prophetie Pastor werden. Ich habe mir vorgestellt, wie ein solcher Pastor auszusehen hat, und versucht, mich auf dieses Ideal hin zu entwickeln. Ich bin gescheitert.

Ich habe es gehasst, mich zu mehr Emotionen und Empathie zwingen zu müssen. Ich habe es gehasst, auf andere zugehen zu müssen und dies mit Smalltalk zu tun. Ich möchte nicht jeden und einen mitnehmen müssen bei allen Aktivitäten. Und ich möchte nicht aufpassen, dass ich niemanden verletze.

Ich möchte lernen, nicht verwalten. Ich möchte Lehre gestalten, nicht bewahren. Ich möchte denken, nicht spüren.

Ich möchte mich auf eine Sache konzentrieren, diese aber interdisziplinär verfolgen. Ich möchte nicht arbeiten, um die Gemeinde zu finanzieren, und gleichzeitig gratis für die Gemeinde arbeiten.

Ich möchte mich nicht zurückhalten, sondern Gedanken mit anderen zusammen verfolgen. Ich möchte verwirren und Fragen sähen, denn dies bringt Wachstum. Ich wünsche mir Chaos in der Ordnung, denn dadurch reifen wir.

Nach mehr als drei Jahrzehnten kommen diese Lügen ans Licht.

Bis jetzt habe vor allem ich erkannt, wie sehr ich mich belogen habe. Und meine Frau hat es erkannt. Jetzt kommt die Zeit, in der ich die Lüge ans Licht bringen muss. Denn ich habe auch andere belogen.

Wie kann ich einer Gemeinde vorstehen, den Mitgliedern aber so viel vormachen?

Die letzten Jahre, in denen ich langsam aufgewacht bin mir selber gegenüber, waren nicht nur für mich schwierig. Mehr und mehr haben sich die Diskrepanzen gezeigt zwischen unseren Herangehensweisen an den Auftrag, den Leiterschaft in der Gemeinde hat.

Ich glaube, dass es drei mögliche Herangehensweisen gibt, die sich im folgenden bekannten Sprichwort aufzeigen lassen.

  • Gib einem Mann einen Fisch, und er überlebt einen Tag.
  • Lehre einen Mann zu Fischen, und er hat ein Leben lang genug zu Essen.
  • Schaffe eine für den Fischfang günstige Umgebung, damit mehr Männer Fischen lernen können.

Die Gemeinde heute überlebt gemäss dem ersten Punkt. Pastoren glauben die Lüge, dass ihre Mitglieder eigentlich nicht fischen, sondern den Fisch mundgerecht serviert, ja in dem Mund gesteckt bekommen wollen.

Die Mitglieder glauben die Lüge, dass Gemeinde immer ein solcher Kindergarten sein muss, bei dem einem alle Verantwortung abgenommen wird. Natürlich wird das anders ausgedrückt: die Lehre ist Aufgabe der dazu Begabten und Berufenen.

Ich habe lange genug Häppchen verabreicht, wo es längst an der Zeit gewesen wäre, anderen das Fischen beizubringen für den Selbsterhalt, und wiederum andere zu lehren, ihr Wissen zu multiplizieren.

Natürlich bildet die Gemeinde heute Pastoren aus. Die Ausbildung sieht meist so aus: holt den Fisch bei den Vorbildern früherer Zeiten ab und richtet ihn mundgerecht zu für Eure Hörer.

Weder lehren wir die jungen Pastoren, selber zu fischen, noch andere darin auszubilden. Wir verlassen uns auf die Grössen der Vergangenheit, die Erkenntnisse unserer Vorgänger, gefunden in Büchern, Kommentaren, Lexika, und Predigten.

Einer der impliziten Leitsätze der Gemeinde: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Ein zugegebenermassen biblischer Satz, gesprochen von einem depressiven, desillusionierten König im alten Testament.

Ich wurde vor die Wahl gestellt, zurück in Reih und Glied zu treten und mich weiter zu belügen, oder zurückzutreten. Ich bin ausgetreten aus dem System, aus der Gemeinde.

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