Schwere Ferne

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Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne.

Psalmen 139:2 (Lutherbibel (2017))

Du verstehst meine Gedanken von ferne.

Diese Übersetzung geht aus von einem alttestamentarischen Weltbild. Oder seien wir ehrlich, es ist das Weltbild, dass bis zu Galileo Galilei die Kirche beherrschte, und das nur schwer überwunden wurde, ja bei vielen Freikirchen immer noch Nachwirkungen zeigt.

Welches Weltbild meine ich?

Es ist das geozentrische Weltbild mit Gott im Himmel, der über der Kuppel des physischen Himmels liegt. Also weit weg.

Neutestamentlich wird uns klar, dass ein Teil dieses Weltbild nicht stimmt, aber erst die Wissenschaft korrigiert es weiter. Erstens verstehen wir das alte Testament nun anders, zweitens das Universum, aber wir wissen auch um den Geist in uns.

Und trotzdem herrscht in unserem Denken immer noch das Bild von Gott ausserhalb des Universums vor. Deshalb übersetzt Luther hier „von ferne“.

Diese Übersetzung ist sprachlich korrekt. Das hebräische Wort kann aber auch mit „sofort“ übersetzt werden. Und so verändert sich die Aussage Davids total:

Du verstehst meine Gedanken sofort. Es braucht keine Erklärung, Du musst nicht zuerst darüber nachdenken. Du verstehst mich.

Zuerst einmal ist es der Kontext, der den Übersetzer leiten soll, wie es uns Strong’s sagt. Das Wort hat einen sehr grossen Bedeutungsraum, und die Grammatik oder Syntax hilft uns nicht. Die Satzbildung unterscheidet sich nicht für die verschiedenen Bedeutungen. Es gibt zum Beispiel Präpositionen, die im Deutschen genau das tun: in dem Haus ist etwas anderes wie ins das Haus, und der Deklinationsfall des Wortes Haus gibt uns Kontext.

Es ist die Weltanschauung, die hier zu Hilfe genommen wird. Gott ist weit weg, darum versteht er uns von Ferne. Das ist eine tröstliche Aussage, wenn ich Gott als fern von mir sehe. Kein Weg zu weit, keine Distanz zu gross.

Sie wird neutestamentlich – sinnlos. Gott lebt in mir durch seinen Geist. Warum sollte es noch helfen, wenn Gott mich von Ferne versteht?

Vielleicht geht es um Gottesferne: selbst wenn wir noch nicht glauben, versteht uns Gott. Dieser Auslegung widerspricht, dass der Autor dieses Textes David ist, also ein mann nach dem Herzen Gottes.

Wir können dafür auf die Situation genau dieses Davids verweisen, der im alttestamentarischen Umfeld den Geist noch nicht in sich hatte. Das „von Ferne“ ist dann aber für uns überflüssig, ja überwunden.

Oder wir sehen uns das Bedeutungsfeld des hebräischen Wortes an und kommen auf die Bedeutung „sofort“.

Wie tröstlich ist diese Aussage: Gott hat keine Schwierigkeiten, uns zu verstehen. Er kennt keine Sprachbarrieren, keine Mehrdeutigkeit, interpretiert unsere Aussagen nicht nach eigenem Verständnis und Weltbild. Er versteht uns. Jederzeit, sofort. Da ist keine zeitliche Distanz.

Ähnliche durch das Weltbild Luthers und seiner Zeit geprägten Übersetzungsentscheidungen gibt es viele, sogar in diesem Psalm.

Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihre Summe so groß!

Psalmen 139:17 (Lutherbibel (2017))

Welche Übersetzung sollen wir wählen: schwer oder wertvoll?

Luther übersetzt schwer, andere schwierig. Das hebräische Wort aber heist erst einmal wertvoll und erst im abgeleiteten Sinne schwerwiegend.

Der grosse Unterschied: wertvolle Gedanken implizieren nicht, dass wir sie nicht verstehen können. Schwierig, schwer schreckt ab und schafft Distanz.

Auch die zweite Vershälfte ist davon abhängig: „wie gewaltig ist ihre Zahl“ wird überwältigend, wenn die Gedanken schwer oder schwierig sind. Von Wertvollem aber können wir nicht genug kriegen.

Luther hatte ein sehr schweres Leben. Er erlebte eine Diskrepanz zwischen seinem Verständnis Gottes und dem gelebten Glauben, der Theologie seiner Zeit. Und doch war er selber geprägt durch eben diese Theologie.

Was er bei Huss und Wycliff las, stimmte mit dem, was er lernte und lehrte, nicht überein, und doch klang etwas in ihm an, wenn er darüber nachdachte.

Luther liess sich auf diesen Kampf ein, obwohl er sich nicht sicher war, ob der Kampf zwischen Rechtgläubigkeit und Verführung oder System und gottgeführtem Wachstum stattfand. In vielen nächtlichen Kämpfen entschied er sich für zweiteres.

Er veränderte seine Ansicht von Gott, soweit es ihm möglich war. Alle diese neuen Gedanken waren eine schwere Herausforderung für den scharfen Verstand dieses mittelalterlichen Mönches. Alles wurde herausgefordert. Sollte er auf seinen Verstand, auf seine Gefühle vertrauen? Er wusste, dass er gehorsam sein sollte, aber auf welcher Seite lag der Gehorsam?

Für Luther waren Gottes Gedanken schwierige Gedanken, die weit über unserem Verstehen lagen. Und so übersetzte er die Stelle. Die Herausforderung war überwältigend, und das brachte er zum Ausdruck.

Und dies hat klare Auswirkungen auf uns heute. Nur zu gerne verweisen wir auf diese Bibelstelle und ähnliche, wenn wir etwas nicht verstehen, und auf die sich daraus ergebende notwendige Konsequenz von Gehorsam und Glauben.

Es ist richtig: viele Gedanken Gottes sind zu hoch, andere sind schwierig, aber erreichbar. Das ist so, wenn ein Wesen komplexer denken kann, als wir es können.

Wir sehen das bei unseren Kindern. Wir beantworten ihre Fragen altersgerecht, d.h. unser Wissen über das Erfragte wird stückweise und vereinfacht weitergegeben, und zu späteren Zeiten ergänzt, je mehr das Verständnis und die Kapazität des Kindes wächst.

Genau so macht es Gott mit uns. Viele Gedanken, die Gott über mich hat, sprengen den Rahmen dessen, was ich fassen kann. Aber sein Wunsch ist es, mich dahin zu bringen, dass ich sie mehr und mehr verstehe.

Die Betonung liegt also nicht darauf, dass die Gedanken schwierig sind, denn dann geben wir nur auf und beginnen zu glauben, dass Gott gar nicht möchte, dass wir uns ausstrecken. So wird aus schwierig bald zu schwierig.

Die Betonung liegt auf wertvoll und viel. Auch wenn ich manche, vielleicht sogar die meisten Gedanken, die Gott über mich hat, nicht verstehen kann: sie sind wertvoll, und Gott denkt viel über mich nach.

Ein anderen Unterschied: schwere Gedanken sind solche, die das Denken und die Gefühle trüben. Wenn Gott schwere Gedanken über mich hat, dann impliziert das Trauer oder Wut, zum Beispiel über mein Handeln.

Wertvolle Gedanken aber lösen Assoziationen zu Wachstum, Liebe, Freude aus.

Mir kommt die Aussage von Rumi in den Sinn:

Jenseits von Gut und Böse gibt es ein Feld. Dort treffen wir uns.

Kombinieren wir die zwei Tatsachen: Gott versteht mich sofort und er hat wertvolle Gedanken über mich. Er weiss, was ich brauche, wünsche, verstehen kann. Und an dem Ort begegnet er mir.

Dieser Ort ist überall und jederzeit.

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