Drei Fragen zur Zukunft der Gemeinde

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Zu verschiedenen Zeiten hat der Mensch unterschiedliche Bedürfnisse, aber auch verschiedene Erklärungsmodelle für die Welt.

Offensichtlich ist das Weltverständnis eines Dreijährigen ein anderes als das eines Erwachsenen, oder wir haben ein Problem.

Das Verständnis wächst, und wir bauen auf dem auf, was wir bereits wissen. So gibt es zwei Arten, zu lernen: bei der einen Art fügen wir das neu zu Lernende in unser bereits vorhandenes Wissen ein, bei der anderen zwingt uns die neue Erkenntis, unser bereits Gelerntes neu zu überdenken.

Unser Leben besteht aus langen Phasen, in denen die erste Art zu lernen überwiegt, und dazwischen aus Paradigmawechseln, wo Neues uns zwingt, unser Weltbild zu verändern.

Die Idee sitzt gleichsam als Brille auf unsrer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir kommen gar nicht auf den Gedanken, sie abzunehmen.

Ludwig Wittgenstein

Ich möchte Wittgenstein hier ergänzen: bis wir durch unsere Lebensumstände dazu gezwungen werden. Und doch ersetzen wir sie nur durch eine neue Idee oder Brille.

Dabei werden wir aber nicht alles über Bord werfen, was wir bis anhin gelernt haben, und doch werden wir auch das, was weiterhin Beständigkeit hat, mit anderen Augen sehen. Das neue Weltbild wird aufbauen auf dem, wie wir die Welt bis anhin sahen, dies aber vielleicht als etwas naive Vereinfachung oder als Spezialfall erkennen.

In der Wissenschaft gibt es viele Beispiele dafür, das Bekannteste ist wahrscheinlich die Newtonsche Physik als Spezialfall der Relativitätstheorie, die sich dann zur Quantenphysik entwickelte. (Dieser Satz ist sicher keine für einen Physiker genügende Darstellung, für den Layen aber hoffentlich nachvollziehbar.)

In unserer sicht- und erfahrbaren Welt bietet die Newtonsche Physik die notwendigen Gesetze, um mit genügend hoher Genauigkeit sinngebend für die Vorgänge um uns herum zu sein. Sie erlaubt sogar recht gute Voraussagen für das physikalische Verhalten.

Nicht so im ganz Grossen und im subatomaren Bereich, wo die Quantenphysik gerade das Fehlen von Determinismus zeigt.

Genau so können wir aufzeigen, dass kleine Kinder kein Konzept für zukünftige Belohung haben, etwas grössere dafür schon. Sie haben die Fähigkeit entwickelt, momentanes Verhalten mit zukünftigen Erwartungen steuern und im Zaum halten zu können: wenn ich dieses Bonbon jetzt nicht nehme, erhalte ich später wie versprochen zwei. Wenn ich jetzt brav bin und die Welt erleide, dann komme ich in den Himmel.

Gott selber hat die Menschheit auf einen wachstümlichen Pfad der Erkenntnis gesetzt. Wir mussten zuerst lernen, zwischen uns und anderen zu unterscheiden, um dann zusammen leben zu können. Später lernen wir, entgegen der Familie eigene Entscheidungen zu fällen, um uns danach durch Moral und Ethik in grössere Verbände und Gemeinschaften einordnen zu können. Wir brechen wieder aus und erkennen den Wert unser selbst, und später auch der anderen. Ich habe die Prinzipien an anderer Stelle bereits aufgezeigt.

Die Gemeinde ist in einer interessanten Stellung. Sie ist das Werkzeug, welches Gott gebrauchen möchte, um diese Welt zu verändern, sagen wir. Aber ist das so auch richtig?

Die Gemeinde, wie sie heute verstanden wird, ist das Werkzeug, um Menschen, welche noch nicht zwischen richtig und falsch unterscheiden können, bzw. richtig und falsch in egoistischen Kategorien selber definieren, mit einer gottgegebenen Moral und Ethik bekannt zu machen.

Die Gemeinde lehrt dem egoistischen Machtmenschen, dass es eine höhere Instanz gibt, die Ordnung stiftet. Sichtbar ist dies wunderbar in der Geschichte des Exodus.

Gott besiegt als Machtgott die ägyptischen Götter und das ägyptische Heer, und versorgt, behütet, beschützt, lenkt, erzieht und bestraft das Volk Israel wo nötig während der Wüstenwanderung. Sie erleben Gottes Macht und seine Wunder.

Nach einem Leben in einer Kultur der Macht, die nach dem Gesetz des Dschungels funktionierte, waren Machtdemonstration und Wunder notwendig, um den Israeliten die Existenz des einen wahren Gottes nahe zu bringen.

Noch heute geschehen Zeichen und Wunder in Kulturen, die sich von Machtstrukturen und Stammeskulturen weiterentwickeln. Wieder zeigt sich Gott den Menschen als höhere Instanz.

Die Folge daraus ist ein System der Ordnung, der Hierarchie, der gottgegebenen Erklärungen, der absoluten Wahrheit.

Dies ist ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der Menschheit, aber nicht das Ziel. Gott möchte uns zu reifen Söhnen und Töchtern machen, mit denen er Gemeinschaft haben kann, nicht zu hierarchisch geordneten Untertanen und Mitarbeitern, die das Richtige tun, weil Gott es so will (oder der Pastor es so sagt).

Kann die Gemeinde uns weiterführen?

Als nächstes möchte Gott, dass unser Gottesbild stirbt und unser Selbstbild wächst: weniger egoistisch als in einer Machtstruktur, aber auch weniger angepasst und sklavisch als in einer gottgegebenen Hierachie.

Und danach kommen weitere Schritte, die die Gemeinde heute nicht nur nicht erkennt und befürwortet, sondern wohl kaum gehen kann.

Für mich ergeben sich drei Fragen aus dieser Situation:

  1. Wie bereiten wir das durchschnittliche Gemeindemitglied auf den nächsten grossen Paradigmawechsel vor?
  2. Wie sieht eine Gemeinde aus, die Menschen anzieht, welche den nächsten Paradigmawechsel bereits vollzogen haben und sich darum entfremdet haben von der real existierenden Gemeinde?
  3. Wie sieht eine Gemeinde aus für Menschen, welche ihre Kinder in der selben Gemeinde organisch durch all die Entwicklungsstufen wachsen lassen wollen, auch wenn sie diese Paradigmen bereits selbst durchlaufen und deren Begrenzungen erkannt haben?

Vielleicht ist es die Beantwortung dieser dritten Frage, welche uns mögliche Antworten für die ersten beiden liefern kann.

In den Worten von Spiral Dynamics: wie sieht eine integrale Gemeinde aus, die es dem Kind erlaubt, Ordnungsstrukturen und Moral zu lernen, statt antiautoritär erzogen zu werden, obwohl die dazu notwendige Selbstbeherrschung und zwischenmenschlichen Wertmassstäbe noch wesentlich zu komplex sind für das Kind, nur weil die Eltern diese Entwicklungsstufe erreicht haben.

Wie kann eine gelbe Gemeinde Menschen an dem Ort abholen, wo sie sind, und sie vMeme um vMeme weiter begleiten? Wie kann die Gemeinschaft des Second Tier Menschen helfen, schlecht integrierte frühere vMeme zu stärken?

Vielleicht wird die Antwort sein, dass wir ein organisches Netzwerk verschiedenster Gefässe brauchen, die in individueller Art durchlaufen werden können und die es gelernt haben, Menschen weiterzureichen, wenn die Zeit gekommen ist. Aber ich möchte hier die Antwort nicht vorwegnehmen.

Wenn wir wissen, wie eine blaue Stufe in einem solchen organischen Gebilde aussehen könnte, gibt uns das vielleicht Ideen für die Neugestaltung der heutigen Gemeinde. Genau so könnten die Programme für Orange und die Gesprächskreise für Grün als Modell für eine relevante Gemeinde in dieser Zeit dienen.

Zu lange haben wir versucht, die Gemeinde durch eine Neubenennung der ewig gleichen Kategorien von richtig und falsch für eine Gesellschaft relevant zu machen, die weiss, dass es richtig und falsch gibt, dass die Grenzen aber nicht schwarz und weiss sind. Wie sagt es Rumi: Hinter Richtig und Falsch gibt es ein Feld. Da treffen wir uns.

Integrieren und transzendieren. Darum geht es. Das Gelernte nicht verwerfen, sondern wo notwendig zu überdenken, anzupassen, darauf aufzubauen, und weiter zu wachsen. Und manchmal sieht es so aus, als ob Geliebtes stürbe, und doch entdecken wir es später in einer wertvolleren Form wieder. Tod und Auferstehung in einer anderen Form.

Vielleicht ist es Zeit, dass die Gemeinde in der uns bekannten Form und unser Gottesbild sterben und neu gefunden, erfunden, gedacht und entdeckt werden. Nicht für alle, aber für die, für welche die Zeit gekommen ist.

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