Ich schreibe euch Vätern; denn ihr habt den erkannt, der von Anfang an ist.
1. Johannes 2:13 (Lutherbibel (2017))
Ein grosses Thema in gewissen Kreisen der Kirche ist Mentoring, meist geistliche Vaterschaft genannt. Hier eine kleine Aufarbeitung dazu.
Ich möchte drei Beispiele nennen, alle nicht aus dem christlichen Bereich.
Henry David Thoreau, der amerikanische Dichter und Schriftsteller, hat in Ralph Waldo Emerson einen Mentor gefunden, der ihn unter seine Fittiche nahm. Emerson engagierte ihn sogar als Hauslehrer für seine Kinder und führte ihn in seinen Kreis von Künstlern und Philosophen ein.
Als Thoreau aber die Notwendigkeit sah, einen, wie wir heute sagen würden, minimalistischen Lebensstil in der Abgeschiedenheit seiner Hütte zu leben, liess ihn Emerson gehen, ohne die Beziehung aufzugeben.
Diese Beziehung war fruchtbar, und Thoreaus Werk kaum möglich ohne das Mentoring, das er von Emerson erhalten hatte, und den Halt, den er aus der Beziehung zog.
Ganz anders war die Beziehung zwischen Vinzent Willem van Gogh und Gaugin. Van Gogh wurde sozusagen als Ersatz seines totgeborenen Bruders geboren und erhielt auch dessen Namen. Er hatte sein Leben lang Schwierigkeiten, seine Identität zu finden, und er war mehr als froh, als ihn Gaugin unter seine Fittiche nahm.
Anders als Emerson aber reklamierte Gaugin alle Erfolge van Goghs als die Resultate seiner Schulung, und als van Gogh sich künstlerisch emanzipierte, hielt Gaugin ihn dadurch klein und abhängig. Die Beziehung der beiden war hierarchisch. Als van Gogh auf dem Land eine Schule eröffnete, war nicht er der Leiter, sondern Meister Gaugin.
Die dritte Mentorbeziehung, auf die ich kurz eingehen möchte, ist die Beziehung zwischen Calr Gustav Jung und Sigmund Freud. Freud war Jungs Mentor, bis die beiden sich inhaltlich zerstritten. Eine Krise folgte für Jung, aus der er gestärkt und eigenständig herauskam, obwohl er sich von Freud trennen musste.
Wir haben hier drei Verläufe:
- positives Mentoring, bei dem der Mentor das Wachstum und den Weggang des Schützlings unterstützte.
- negatives Mentoring, wo der Mentor allen Erfolg für sich beanspruchte und den Schützling nicht wachsen lassen konnte, was zur Selbstverstümmelung und zum Selbstmord des Schützlings führte.
- Mentoring, das zerfiel und so den kreativen Prozess und das Wachstum beim Schützling auslöste.
In hierarchischen Systemen wird Mentoring leider oft gehandhabt wie zwischen van Gogh und Gaugin.
In Systemen mit einer absoluten Wahrheit ist die Folge des Wachstums des Schützlings oft, dass die Beziehung zerbricht und erst dadurch weiteres Wachstum möglich wird.
Ganz selten finden wir Mentoringbeziehungen wie zwischen Thoreau und Emerson.
Van Gogh war überzeugt, in seinem Mentor eine wohlwollende Person gefunden zu haben. Seine Identitätsschwierigkeiten waren sehr einfach auszunützen.
Oft allerdings ist es nicht die fehlende Identität, sondern gerade die Erstarkung dieser Identität, die zum Bruch führt. Es braucht einen selbstsicheren Mentor ohne Minderwertigkeitskomplexe, damit ein Schützling seine Identität entwickeln kann. Ansonsten erwartet der Mentor vollständige Unterordnung und wünscht sich eine Kopie seiner selbst.
Letzteres wird er aufs heftigste Verneinen, und gleichzeitig mit dem Hinweis auf Paulus fordern: Imitiert mich, hat Paulus gesagt.
Jedes Gespräch wird damit beginnen, dass der Schützling an seine Schwächen oder Fehler erinnert wird, um die Hierarchie zu festigen. Dann wird immer wieder darauf hingewiesen, wieviel man bereits für den Schützling getan hätte, und wo er ohne den Mentor wäre.
Doch nennen wir es beim Namen. Das ist kein Mentoring, das ist Missbrauch.
Ich selber hatte einen Vater, der uns verliess, als ich das Wort Nein aussprechen konnte. Er war zwar physisch noch da, lebte aber sein eigenes Leben. Als ich 13 war, ging er tatsächlich weg.
Später kam ich in ein katholisches Internat. Die Patres hiessen zwar Väter, waren es aber nicht.
In meinem Auslandjahr erlebte ich einen Gastvater, der mich ausschloss aus seiner Familie, weil ich nicht seinen Regeln folgte, einen, der sich selbst aus der Familie ausgeschlossen hatte, weil sie ihn hassten, und einen, der mich liebte, aber die Beziehung zerfiel, als er sein Coming Out hatte.
Als ich mich entschloss, meinen Pastor zu fragen, ob er mein geistlicher Vater würde, tat ich dasselbe, was van Gogh mit Gaugin tat. Heute bin ich überzeugt, dass Väter Söhne zeugen, nicht Söhne Väter auswählen, aber auch, dass die Hierarchie auf diese Beziehung keinen Einfluss haben sollte. Man sollte sich nicht einen Mentor aussuchen, der gleichzeitig das Gefühl hat, der Vorgesetzte zu sein.
Ich hatte das Bedürfnis nach einer väterlichen Stimme und Stütze, und die Lehre in der Gemeinde war, dass, wer wirklich vorankommen wollte mit Gott und es Ernst meinte mit dem Glauben, jemanden hätte, der „in sein Leben sprechen dürfte“.
Ich erlebte eine Mentoringbeziehung, wie sie van Gogh erlebte. Zum Glück erlebte ich auch den Streit, den Jung mit Freud hatte, und ich glaube, dass ich stärker und freier aus der Sache raus kam.
Jung war Persona non grata in der Psychoanalyse nach diesem Vorfall. Genauso fühle ich mich, ausgeschlossen von der Gemeinde, meiner Beziehungen beschnitten, und kein Wort mehr von meinem Mentor. Funkstille bis auf wenige Kontakte mit Menschen, die vorher schon selber auf der Kippe standen.
Doch über die Jahre zeigte sich der Beitrag von Jung. Ich hoffe, ich habe noch die Zeit, die Kraft, die Gesundheit, und die Energie, meinen Dienst auf Erden zu vervollständigen.
Mentoring ist eine wertvolle Sache, wenn es funktioniert. Aber es beinhaltet keine Hierarchie, keine Verdienste, keine Bedingungen, keine Rechte von Seiten des Mentors. Es ist ein Dienst.
Ich wünsche einem jeden einen Ralph Waldo Emerson. Seit ich um seine Geschichte mit Thoreau weiss, bin ich stolz, denselben Vornamen zu tragen. Vielleicht darf ich ja für jemanden ein echter Emerson werden.