Ich bin dankbar für diese Tage. Es ist Ostern, die Tage, an denen wir uns an den Tod Jesu am Kreuz erinnern.
Jesus ist für mich gestorben. Bedeutet das im klassischen Sinne, dass er für meine Sünden gestorben ist? Ja, wenn auch auf eine überraschende Art.
Auf diesem Blog habe ich schon öfters darüber gesprochen, was Sünde eigentlich ist. Der Begriff der Sünde wandelt sich mit der Zeit und unserem Verständnis.
Sehr früh in unserer Geschichte gab es keine Sünde. Dies ergibt sich aus der Aussage des Paulus, dass erst das Gesetz die Sünde brachte.
Damit widerspricht er eigentlich der Auslegung der Bibel, dass wir mit einem moralischen Grundverständnis geboren werden. Und schon sind wir in einem ewigen Streit der Moral- und Entwicklungspsychologen: werden wir als „blank slate“, als „leeres Blatt“ geboren und konstruieren unsere Moral (und unsere ganze Persönlichkeit) selber im Zusammenspiel mit unserer Umwelt, oder haben wir bereits eine Persönlichkeit, aber auch ein moralisches Grundgerüst bei der Geburt?
Diese Überlegungen sind wichtig, weil es auch um die Schuld und Schuldfähigkeit geht dabei. Sind wir ein soziales Konstrukt, dann ist die Umwelt schuld. Kommen wir mit einer vorgefertigten Moral auf die Welt, dann ist Gott schuld. Können wir die Moral weiter entwickeln, dann tragen wir Mitschuld.
Aber Schuld voran?
Aber nehmen wir einmal an, dass Paulus Recht hat mit seiner Aussage. Nehmen wir an, dass es wohl einfache Prinzipien von richtig und falsch bereits vorher gab, dass das Gesetz aber auf eine nie vorher dagewesene Art unser Gewissen entwickelte und schärfte.
Wenn nun Sünde wirklich das Brechen dieses Gesetzes wäre, dann wäre vor Mose keine Sünde möglich. Dann wäre die ganze Auslegung der Schöpfungsgeschichte mit dem Sündenfall, der Flutkatastrophe eine retrospektive Interpretation, die von einer Sicht ausgeht, die den Menschen damals noch gar nicht zur Verfügung stand.
Wir tun das auch heut noch. Gerade heute. Menschen, die entsprechend der damaligen Weltanschauung handelten, werden an den moralischen Massstäben der heutigen Zeit gemessen.
Sklavenhalter werden verteufelt und all ihre Errungenschaften, die sie ausserhalb ihrer Eigenschaft als Sklavenhalter gemacht haben, verdammt. Es geht nicht darum, die Sklaverei zu rechtfertigen, aber welche Handlungen, die wir heute tun, werden in 100 Jahren unverständlich und barbarisch erscheinen? Wir wissen es nicht, denn wir haben die moralischen Entwicklungen noch nicht durchgemacht. Und ja, aus heutiger Sicht ist es unverständlich, wie irgend jemand irgendwann so etwas wie Sklaverei als Normalzustand akzeptieren konnte.
Manchmal denke ich darüber wie Mathematik: wer würde von einem Menschen vor 6000 Jahren erwarten, negative ganze Zahlen zu kennen. Heute weiss jedes Kind, was -10°C ist, nämlich kalt. (Ja, der Mensch damals wusste auch, wenn es kalt war, das ist nicht der Punkt.) Warum nehmen wir so selbstverständlich an, dass moralische Prinzipien schon immer galten – oder mit etwas Hirnschmalz hätten gelten sollen. Und dies in einer Zeit, in der sich die moralischen Wertehierarchien gerade mit Hochdruck verändern.
Wenn unsere Werte sich verändern, dann auch unsere Sicht von Sünde. Natürlich können wir sagen, dass unsere eigene Moral göttlicher Natur sei, dass alles andere ein Abfall von der unabänderlichen moralischen Norm darstellt. Doch wenn wir die Geschichte betrachten, dann sehen wir durchaus, wie sich die Moralvorstellungen gerade auch im Judentum und Christentum weiterentwickelt hat.
Eine Erklärung dafür könnte sein, dass Gott uns immer näher an ein Verständnis des ursprünglichen Konzepts von Sünde heranführen möchte. Dabei muss er sich an unserem Vorwissen und unserer Lernbereitschaft und -fähigkeit orientieren.
Auch das kann sehr gut mit der Mathematik erklärt werden. In der Mathematik ist die Potenz eine Funktion über einem Zahlenraum mit zwei Parametern, deren Ergebnis selbst im ursprünglichen Zahlenraum liegt. Diese Funktion hat bestimmte Eigenschaften. Z.B. kann nicht a priori jede Zahl in diesem Raum als ein Zahlenpaar xy aus diesem Raum dargestellt werden, ausser der Raum ist dergestalt definiert.
Jetzt habe ich die meisten meiner Leser verwirrt. Und doch kann ich ein Kind heute langsam an diese Tatsache heranführen, indem ich zuerst die natürlichen Zahlen und die Addition einführe. Danach kann ich zeigen, dass ich die Addition nicht unbedingt umkehren kann: 5 – 6 ist keine natürliche Zahl. Das gleiche gilt für Multiplikation und Division und dann für Potenz und Wurzel. Jedes mal führe ich zur Lösung dieses Problems einen neuen Zahlenraum ein.
So macht es Gott mit uns: er erweitert unser Denken basierend auf unserem Wissensstand und unserer Lernbereitschaft und -fähigkeit.
Wenn ich also etwas nicht verstehe, dann liegt das entweder daran, dass ich die notwendigen Grundlagen nicht kenne, die notwendige Auffassungsgabe nicht habe, oder mich schlicht weigere, weiterzugehen und mich zu verändern.
Gott hat Moral als Vertrauensfrage eingeführt. Adam hat Gott nicht vertraut. Eva hat Adam nicht vertraut. Daraus ergab sich Scham. So die Geschichte.
Die heutige Darstellung der Geschichte als Sündenfall basiert schon auf dem Vorwissen über kausale Zusammenhänge, über Konsequenzen von Handlungen. Dieses Vorwissen war bei Adam und Eva nicht vorhanden. Darum war das Resultat Scham, und nicht Schuld, wie wir es heute interpretieren. Gott verwendete die nächsten Jahrtausende, um den Menschen die Konsequenzen ihrer Handlungen klar zu machen.
Andererseits kann die Schöpfungsgeschichte auch vollständig von der Moralfrage befreit werden. Gott führt den Menschen dahin, wo er sich selbst bewusst wird, und somit seinem Gegenüber. Aus dem Unterschied, den er feststellt, ergibt sich Scham. Das Schuldkonzept wird dann über die nächsten Jahrtausende eingeführt.
Aber ist Moral nur eine Schuldfrage? Ist Moral nur richtig/falsch? In gemeinschaftsorientierten Gesellschaften ist die Moral nicht nur darauf reduziert, dass alles erlaubt ist, was niemandem schadet. Es geht auch um soziale Gepflogenheiten.
Diese werden schon früh in der Bibel eingeführt. Der Mensch lernt, zusammenzuleben. Er entwickelt Regeln dafür. Das führt ihn dorthin, wo Gott ihm sein Gesetz geben kann: der Mensch ist reif für den nächsten Schritt. Er hat nur ein paar Tausend Jahre gebraucht.
Wenn also die heute vorherrschende Interpretation von Sünde erst ein paar Tausend Jahre nach der Bewusstwerdung des Menschen relevant wurde, ist dieses Konzept dann tragfähig? Was ist mit den Menschen, die vorher gelebt haben?
Entweder ist Sünde eine Erfindung der reiferen Menschheit, oder das Gesetz hilft uns, zu wissen, was Sünde ist, die Sünde, die schon lange bestand.
Genau wie bei den Zahlenräumen mit ihrer immer höheren Abstraktion führt uns Gott an das Prinzip Sünde heran.
Er zeigt uns zuerst die Folgen der Sünde in unserem eigenen Leben. Danach gibt er uns die Regeln, die einen Sündenkatalog aufspannen, damit wir durch Gehorsam und Abstraktion so langsam lernen, was sündhaft ist. Darauf erweitert er unser Denken und zeigt uns, dass nicht nur das Brechen von Regeln Sünde ist, sondern auch, sein eigenes Potential nicht zu erfüllen.
So führt er uns zurück zu dem Prinzip, dass er uns am Anfang bereits in den Text gelegt hat: Sünde ist, nicht sein Ebenbild zu sein. Sünde ist, ihn nicht zu reflektieren auf dieser Erde.
Also, warum starb Jesus für uns?
Wie das hohlpriesterliche Gebet uns zeigt, hat er die Familie Gottes wieder hergestellt. Gleichzeitig hat er zurückgewonnen, was uns gestohlen wurde. Er starb, damit wir befreit waren von der Last des Gesetzes und den Folgen. Er machte uns als Individuen wieder wertvoll. Er gab uns die Gnade, ein Mittel, uns selbst zu vergeben, indem wir unsere Schuld auf ihn projizieren können.
Vor allem aber starb er, weil er den Auftrag, Gott in dieser Welt zu reflektieren, bis zum bitteren Ende wahrnahm und ausführte. Als einer von uns, als Vorbild für uns. Er brach durch zu einem non-dualen Leben der Einheit mit Gott in unserer ganzen Vielfalt und Verschiedenheit.