Ich aber bin gekommen, um ihnen das Leben in ganzer Fülle zu schenken.
Johannes 10:10b
Wir können unterschiedliche Auslegungen darüber haben, wie sich Religionen entwickelt haben. Eine Erklärung, und übrigens eine ziemlich gute, schaut sich unsere Fähigkeit an, Gesichter zu erkennen.
Es ist erstaunlich, wie gut die meisten Menschen Gesichter erkennen. Aber es ist noch erstaunlicher, dass wir Gesichter in so vielen Dingen sehen, die eigentlich keine Gesichter sind.
Andererseits interpretieren wir, ebenso überraschend, nie ein Gesicht fälschlicherweise als etwas anderes.
Unsere Gesichtserkennung hat also auf der einen Seite viele falsche Positiva, dafür keine falschen Negativa.
Das ist wichtig. Stellen Sie sich die Folgen vor, wenn Sie vor einem nicht vorhandenen Angreifer fliehen. Es könnte Müdigkeit oder Atemnot sein. Stellen Sie sich nun vor, Sie übersehen einen Angreifer. Vielleicht ist das das Letzte, was Sie tun.
Falsche Negativa erweisen sich in diesem Fall als potenziell tödlich. Wenn also keine hundertprozentige Genauigkeit erreicht werden kann, irren wir uns besser in Richtung falsch positiver Ergebnisse.
Aber wir sprechen über Religion, nicht über Gesichter. Was mir in den Sinn kommt, ist Pascals Wette:
Pascal argumentiert, es sei stets eine bessere „Wette“, an Gott zu glauben, weil der Erwartungswert des Gewinns, der durch Glauben an einen Gott erreicht werden könne, stets größer sei als der Erwartungswert im Fall des Unglaubens.
Wikipedia
Auch hier ist es besser, sich in Richtung eines falsch Positiven zu irren.
Dies wurde schon sehr früh in der menschlichen Entwicklung intuitiv, unbewusst erkannt. Es war vorteilhafter zu glauben, dass es Ursache und Wirkung und eine geistige Dimension gibt, als dass beide nicht existieren.
Ich gebe Ihnen ein persönliches Beispiel für diesen Mechanismus: Ich glaube, dass der oben genannte Mechanismus kein Zufall ist. Ich glaube, dass Gott es so eingerichtet hat, dass er so ein Loch in der Form Gottes in uns geformt hat, welches wir füllen möchten.
So wie unsere Gesichtserkennung ein beziehungsorientiertes Merkmal ist, das sowohl das Überleben ermöglicht, wenn man einem Raubtier oder Feind, aber auch tiefe Freundschaft und Liebe, wenn man der richtigen Person begegnet, und für viel Spass sorgt, wenn wir diese seltsamen Gesichter an den am wenigsten erwarteten Orten erkennen, ist auch der religiöse Sinn, Gott in Dingen und Geschehnissen zu erkennen, zutiefst beziehungsorientiert.
Er schickt uns auf eine Reise, um Gott zu entdecken, und ermöglicht tiefe Verbindungen zwischen den Menschen.
Andererseits kann ich mich irren. Dann erlebe ich in meiner Interpretation genau so ein falsch positives Ergebnis. Dann wäre all dies nur Evolution. Wir wissen es nicht, darum die Wette Pascals.
Die Menschheit wurde sich ihrer selbst und somit des Todes bewusst. Zuvor war der Tod kein Problem, nur ein Teil des Lebens. Aber jetzt, da sie sie sich ihrer selbst und des Anderen bewusst waren, begannen die Menschen zu erkennen, dass ihnen eines Tages passieren würde, was mit anderen passierte. Sie würden sterben.
Eine Leiche unterschied sich von einer lebenden Person, und die Menschen fragten sich, wohin der lebende Teil des geliebten oder gefürchteten Menschen gegangen war. Also begannen sie, die Dinge um sie herum als Handlungen derer zu erklären, die aus ihrer Mitte verschwunden waren.
Daraus entwickelten sich mythische Kreaturen wie Wassernymphen, Tiergeister und Pflanzenelfen und bald Götter.
Wenn Sie wie ich an die Existenz eines monotheistischen Gottes glauben, war all dies die Vorbereitung auf die Offenbarung der Existenz Gottes selbst. Die Menschheit war jetzt bereit zu erkennen, dass es einen einzigen Gott gibt.
Wenn wir die Bibel mit dem Verständnis lesen, dass sie in einer Zeit niedergeschrieben wurde, in der diese Erkenntnis des einen und einzigen Gottes vorhanden war und sich sogar grossenteils durchgesetzt hat, können wir die Spuren dieser Entwicklung von Geistern über Götter zu Machtgöttern zu einem Gott in den Geschichten sehen, die durch die Linse des Monotheismus erklärt werden. Gehen Sie zurück in diese alten Geschichten und greifen Sie die subtilen Spuren auf, um die alten Glaubenssysteme und Entwicklungsstufen zu rekonstruieren.
Es gibt einen Nachteil, der sich aus dieser Entwicklung ergibt: Wir interpretieren einen so gewachsenen und erkannten Gott, indem wir unser Verständnis einer menschlichen Seele, die nach dem Tod verschwunden ist, grösser und grösser machen. Dieser Gott wird immer viele übermenschliche, aber doch vermenschlichte Eigenschaften haben, und wir werden in unserer eigenen imaginären Vorstellung gefangen sein.
Es gibt vor allem eine Dimension, die viele Probleme verursacht: die Annahme von Ursache und Wirkung hat sich zu Gesetzen entwickelt.
Zu Beginn dieser Reise interpretierten die Menschen schlechte Dinge, die ihnen passieren, als Wut, Rache oder Laune der Vorfahren. Sie erinnerten sich daran, dass Onkel Hans zu Lebzeiten bösartig war, und er hatte diese Eigenschaft nach der grossen Passage sicherlich nicht verloren. Sie mussten die Vorfahren beschwichtigen, unter anderem bestimmte Lebensstile leben, und das führte dazu, dass Gott ihnen 10 Gebote und über 600 Gesetze auferlegte.
Obwohl Gott während des gesamten alten Testaments von Gnade und Liebe gesprochen hatte, war dies nur für diejenigen erreichbar, die ein heiliges, gehorsames Leben führten.
Wir schätzten das Heil höher ein als den Miteinbezug aller. Um Gottes Gnade und Liebe zu erfahren, mussten wir uns an seine Regeln halten. Die Einhaltung seiner Regeln bedeutete, gerettet zu werden. Alle anderen wurden ausgeschlossen.
Das neue Testament unterscheidet sich absolut davon. Es ist die nächste Offenbarung der Natur Gottes als Liebe und Gnade.
Aber da unser Imago Dei, unser Bild Gottes so tief in uns verwurzelt ist, weil es sich über Tausende von Jahren entwickelt hat, interpretieren wir die Offenbarung des neuen Testaments immer noch von demselben Ort, vom selben Verständnis aus. Wir machen das Heil immer noch zu einer Voraussetzung für Gottes Gnade und Liebe und opfern viele, indem wir sie ausschließen. Natürlich sagen wir, dass sie sich selbst ausgeschlossen haben.
Dann starb Jesus. Sein Tod ist unter anderem eine Metapher für den Tod des Gottes des alten Testaments.
Historisch gesehen manifestierte sich dieser Tod in unseren Köpfen nach der Reformation. Die Aufklärung tötete Gott, was Nietzsche anerkannte, als er ausrief: „Gott ist tot“.
Obige Erklärung, dass die Menschheit auf der Seite falscher Positiva irrt, wenn sie übernatürliche Interventionen anerkennt und zu entdecken meint, führte dazu, dass die Existenz Gottes von da an als Wahnvorstellung bezeichnet wurde. Drei mögliche Reaktionen wurden gefunden, wie wir von dem Punkt aus weitergehen sollten und welchem Zweck Religion jetzt dienen könnte, nachdem wir unseren Fehler entdeckt hatten.
- Die 4 Reiter des neuen Atheismus entschieden, dass wir die Religion töten und ein rein rationales Leben führen müssen, da Religion irreführend ist.
- Scott Atran und Joe Henrich erklärten, dass Religion jetzt dazu diene, die Menschheit zu stärken, da Gruppen mit einem gemeinsamen Glaubenssystem effektiver zusammenarbeiten und sich die Zusammenarbeit als evolutionär wertvoll erweist.
- Durkheim sieht den Maibaum als Metapher für Religion: Der gemeinsame Maibaum-Tanz dient dazu, die Menschen miteinander zu verbinden. Religionen erfüllen daher ein tiefes Bedürfnis der Menschen nach Zugehörigkeit.
Jesus stand von den Toten auf. Wenn die begonnene Metapher stimmt, ist die Religion nicht am Ende. Wir erleben vielmehr, um Churchill sinngemäss zu zitieren, das Ende des Anfangs.
Während dieser Zeit, in der Gott tot ist, werten die Menschen den Einbezug aller höher als die Erlösung einiger. Wir werden alle teilhaben, aber dafür gibt es keine Erlösung mehr, nichts Höheres, keinen tieferen Sinn, kein ewiges Leben, kein Heil. Es liegt nun vollständig bei uns.
Ich glaube, dass Gott wieder auferstehen wird. Nicht als übermenschliche Projektion, wie wir ihn Tausende von Jahren lang gesehen haben, weil wir es nicht besser verstanden haben, sondern als etwas, das der Realität viel näher kommt. Wir wissen noch nicht, wie er/sie/es aussehen wird, aber wir haben eine neue Suche begonnen. Zerstreut, esoterisch, verwirrt durch unseren Verlust, aber mit einem wachsenden Verständnis und Streben.
Und da dies beziehungsorientiert ist, werden wir auch ein besseres Verständnis von uns selbst entwickeln.
Wir haben in einer Welt der Knappheit gelebt, die es notwendig gemacht hat, für Ressourcen zu kämpfen. Die Erlösung einiger höher zu werten als den Einbezug aller war eine direkte Folge.
Ausgeschlossen zu sein führt natürlich zur Bekämpfung des Systems, das den Ausschluss und damit überhaupt die Verweigerung der Erlösung bewirkte: Den Einbezug aller höher zu werten als die Erlösung war eine natürliche Folge und Gegenmassnahme.
All dies hat sich geändert und wir leben mehr und mehr in einer Welt des Überflusses. Das ändert langsam unsere Denkweise, und wir können jetzt beides kombinieren: Erlösung unter Einbezug aller.
Gott ist ein Gott von mehr als genug. Er musste sich nie zwischen der Erlösung einiger und dem Einbezug aller entscheiden.