Ich bete für sie alle, dass sie eins sind, so wie du und ich eins sind, Vater – damit sie in uns eins sind, so wie du in mir bist und ich in dir bin, und die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.
Johannes 17:21
Schon bald nach Jesu Tod wurde die Frage nach seiner Natur gestellt. War er Mensch, oder war er Gott?
Die Evangelien von Markus, Matthäus und Lukas betonen seine Menschlichkeit, während Johannes seine göttliche Natur hervorhebt. Noch viel mehr tut dies Paulus, der nicht ein Erlebnis des Menschen Jesus aufgreift, sondern vom ewigen Christus spricht.
Jesus ist nicht Gott, wenn er beim Vater ist, und war nicht Mensch, als er hier auf Erden wandelte. Er ist beides in beidem.
Wie ist das möglich?
Nehmen wir an, dass Gott in allem ist, aber dass er mehr ist als das. Ein Paradoxon, das unseren Verstand sprengt, und doch können wir uns das eigentlich sehr gut vorstellen. Wir drücken das aus in dem Sprichwort: es gibt mehr zwischen Himmel und Erde als Du glaubst.
Wir erleben das auch selber, denn wir können uns Dinge vorstellen, die es nicht gibt.
Und doch ist damit natürlich unendlich mehr und absolut anderes gemeint. Gott ist in allem, er beinhaltet alles, aber er ist mehr als alles.
Inkarnation, Fleischwerdung kann dann so verstanden werden: Gott hat sich materialisiert in der Schöpfung. Er kam nicht in das Vergängliche, Veränderliche, Materielle hinein im Sinne vom Töpfer, der selber zum Ton wurde. Er formte sich selber um und umschloss, inkarnierte, manifestierte, materialisierte die Schöpfung aus und in sich selbst.
Die Schöpfung ist demnach nicht getrennt von Gott, sondern inhärenter Bestandteil, untrennbar, unteilbar.
Genau dies ist die Beschreibung der zwei Naturen: »unvermischt, unverwandelt, ungetrennt und unzerteilt«.
Gott inkarnierte sich also zwei mal: in der Schöpfung und in Jesus. Tat er das wirklich?
Wenn die Schöpfung selbst unzerteilt Gott ist, ist es Jesus nicht auch, sozusagen vom Wesen her, automatisch?
Und dann folgt auf den Fuss der Gedanke: und wie steht es mit mir?
Dem Wesen nach bin auch ich in diesem Falle ganz Gott und ganz Mensch, weil die beiden nie getrennt waren. Wie kann ich getrennt sein von dem, aus dem ich bestehe?
In der orthodoxen Kirche ist die Theosis als umgekehrter Prozess der Inkarnation seit Anbeginn ein wichtiges theologisches Prinzip:
Gott wurde Mensch, damit die Menschen vergöttlicht werden können.
Irenäus von Lyon, ca. 135-200
Dieser Prozess nun ist keine Umwandlung, sondern ein Hineinwachsen in das, was ich bereits bind.
Darum verwendet Jesus das Bild des Kindes Gottes. Kinder sind Menschen, und ein Kleinkind hat nicht weniger Wert als ein Professor der Physik oder ein Unternehmer vom Range eines Elon Musk.
Und doch sind sie nicht gleich. Offensichtlich ist in dem Kind noch vieles Potenzial, was in dem Erwachsenen bereits verwirklicht wurde.
Interessanterweise hat dieses verwirklichte Potenzial wohl einige Möglichkeiten ausgeschlossen, aber viele weitere geschaffen. Jeder Mensch trägt in sich zu jedem Zeitpunkt grosses Potenzial.
Oft erkennen wir dieses Potenzial nicht wegen der Wertehierarchie, dem Weltbild, welches wir als Massstab anlegen.
Gott wurde in Jesus Mensch, damit wir dieses Potenzial, das in jedem von uns steckt, erkennen mögen.
Als die Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn. Er wartete, bis die Menschheit ihr Potenzial so weit entwickelt hatte, dass sie dieses überwältigende göttliche Prinzip der zwei Naturen wenigstens im Ansatz begreifen konnten, und schickte sie damit auf einen weiteren Teilabschnitt der Entdeckungsreise ihrer selbst.
Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir Inkarnation und Theosis miteinander verbinden können, an dem wir durch unsere Fähigkeiten komplexe Systeme und Prozesse ansatzweise erfassen können, an dem wir erkennen, dass die Newton’sche Physik begrenzt, die Natur fraktal ist.
Wagen wir den nächsten Schritt? Nicht den Schritt, uns zu Gott zu machen. Den Schritt, unsere Gottheit in Gott zu erkennen und zu akzeptieren, und die Reise weiter zu gehen, tiefer hinein und höher hinauf?
Dies beinhaltet natürlich die ganze Schöpfung. Der Mensch aber ist sich bewusst, er hat eine abstrakte Sprache und ein konzeptionelles Denkvermögen. So werden wir zum Gegenüber von Gott, individuell in Einheit. Wir werden zu einem reifen Teil der Trinität, eins in der Vielfalt.
Warum diese Reise? Warum ein Werden, und nicht ein Sein?
Gott selber ist. Vor der Schöpfung war nur Sein und nicht Werden. Werden beinhaltet vor und nachher, Geburt und Vergänglichkeit. Gott veränderte sich nicht. Erst in der Schöpfung wird dies möglich. Erst im Prozess der Zeit ist Veränderung möglich, denn die Zeit ergibt sich und ist definiert durch die Aneinanderreihung von unterschiedlichen Zuständen im Nacheinander. Ohne Veränderung keine Zeit, und ohne Zeit keine Veränderung.
Wie also konnte Gott sich ein Gegenüber schaffen? Nur durch die Schöpfung.
Warum er genau diesen Ansatz, diese mögliche Implementation der Schöpfung gewählt hat, wissen wir nicht. Sie erlaubt aber einige interessante Dinge:
Sie ermöglicht es Gott, Dinge zu erleben, die er sonst nie hätte erleben können. Zum Beispiel bewusste Vergänglichkeit und das daraus sich ergebende Leid.
Die Tatsache, dass Gott inhärenter, unteilbarer Teil seiner Schöpfung, ja seine Schöpfung ist, bewirkt, dass es kein unmenschliches Experiment, keine Laborsituation mit uns als Versuchskaninchen ist, denn er leidet mit und durch uns, am Besten versinnbildlicht durch das Kreuz. Aber es geschieht jeden Tag, überall: Gott leidet mit jedem mit, in Echtzeit, nicht nur als liebender, empathischer Beobachter. Nicht nur als Du, das uns in den Arm nimmt und tröstet. Nein, es ist er, der leidet, in der ersten Person.