Wahrnehmung und Interpretation

Lesedauer 7 Minuten

Wer da Ohren hat zu hören, der höre.

Matt 11:15

Wie nehmen wir unsere Welt eigentlich wahr? Im Folgenden werde ich mich aufs Glatteis begeben und einige Konzepte wiedergeben, die für mich Sinn machen, ohne ein Spezialist auf diesen Gebieten zu sein.

Der Mensch hat fünf Sinne, mit denen er die Welt wahrnimmt. Was ich hier sage, stimmt für alle fünf, aber ich möchte mich sprachlich auf den wichtigsten Sinn der meisten Menschen beschränken, die Sicht.

Der Sehnerv liefert die Bilder, welche das Auge aufnimmt, an das visuelle Zentrum im Gehirn. Gleichzeitig erhält dieses visuelle Zentrum sehr viel Input von den verschiedensten anderen Gebieten des Gehirns, sogar wesentlich mehr als vom eigentlichen Ausgangssignal, der Sinneswahrnehmung.

Dieses Ausgangssignal ist schon eine Vereinfachung der Realität, denn es werden nur gewisse Frequenzen überhaupt durch das Messinstrument Auge erfasst. Sichtbares Licht nennen wir das, und gehen hier ganz bescheiden von unseren eigenen Fähigkeiten aus.

Von diesem Signal werden grosse Teile gleich mal herausgefiltert.

Was also im visuellen Zentrum ankommt, entspricht schon einer wesentlichen Vereinfachung der Realität. Das macht nichts, denn es ist ja nicht Sinn und Zweck, die Wahrheit zu sehen, obwohl es Wahrnehmung heisst, sondern in der Realität überleben zu können.

Diesen Teil der Interpretation nennen wir übrigens Bottom-Up, vom konkreten Signal zum abstrakter Verständnis.

Jetzt geht es aber erst los:

Jetzt wird nämlich nicht versucht, diese Teilwahrheit zu verstehen. Das braucht viel zu viel Energie. Wir suchen nach Dingen, die wir wieder-erkennen. Das genügt schon meist, um der Szene, in der wir uns befinden, Sinn zu geben. Ein Stuhl zum Sitzen, ein Tisch davor, ein Teller mit Essen. Jetzt noch Besteck, und es kann losgehen. Ich kann die Subroutine Nahrungsaufnahme starten. Ich weiss also, wie ich die Umwelt manipulieren kann.

Der Ansatz, der hier verwendet wird, ist Top-Down. Wir vergleichen die Szene mit bekannten gespeicherten Inhalten und früher erworbenem Verständnis. Bei genügend Übereinstimmung, gewinnen die bekannten Muster.

Der Top-Down-Ansatz ist übrigens viel stärker und hat den bei Weitem grösseren Anteil an unserer Interpretation von Sinneswahrnehmungen. (Und auch von Konzepten und Abstraktionen.)

Natürlich gab es eine Zeit, in der wir gerade diese Subroutinen erlernen mussten, aber auch die Mustererkennung. Diese war sehr aufwändig und brauchte sehr viel Energie, und es gibt immer mal wieder neue Dinge, die eine Erweiterung meiner Algorithmen benötigt. Je mehr ich bereits an Vorwissen mitbringe, je besser meine Interpretation zu passen scheint, je mehr das Vorherige meinen Werten entspricht, desto schwerer wird das Erlernen neuer Dinge.

Was kommt bei diesem Lernen zusammen? Erstens gibt es instinktive Muster und Handlungen, die wir mitbekommen haben, und auf denen wir aufbauen können. Darauf konstruieren wir unser Wissen basierend auf Erfahrung und Imitation, und immer mehr auch auf abstrakten Lernmethoden auf. Nature and nurture.

Wir bauen auf dem Gelernten auf, wachsen vom Konkreten ins Abstrakte, und verfestigen unsere Erfahrungen und Konzepte stetig. Oder besser: stückweise stetig, denn immer wieder einmal kommt es zu grossen Veränderungssprüngen.

Es gibt zwei Arten von Veränderung: die erste Art erweitert unser Wissen innerhalb des Frameworks, das wir uns erarbeitet haben, die zweite verlangt nach einer Anpassung unserer Kategorisierung, unserer Konzepte, unserer Weltanschauung. Wir nennen diese Veränderung erster und zweiter Ordnung.

Veränderungen zweiter Ordnung sind sehr schwierig, energiehungrig, und verunsichernd.

Ich möchte dafür ein Beispiel machen: die Pubertät. Der Körper verändert sich, der Hormonhaushalt stellt über ein paar Jahre hinweg um auf den Erwachsenenbetrieb. Unsere Weltanschauung verändert sich radikal, vom niederen Trieb bis hin zur Interpretation abstrakter Konzepte ist alles schockierend neu, im Fluss, verwirrend. Unsere automatischen Algorithmen, Subroutinen und Mustererkennungen funktionieren in vielen Bereichen nicht mehr und bringen fehlerhafte oder unerwünschte Ergebnisse. Unsere Werte verändern sich.

Bis dahin haben wir schon ein paar solche Veränderungen durchgemacht, waren uns derer aber nicht im gleichen Masse bewusst. Nicht immer war der Auslöser übrigens ein interner oder biologischer. Denken wir nur an den Übergang vom Familienleben in den Schulalltag. Unsere Umwelt hatte plötzlich ganz andere Anforderungen an uns – was natürlich bei der Pubertät ebenfalls der Fall ist.

In den meisten dieser Veränderungen zweiter Ordnung haben wir Beispiele, an denen wir uns mimetisch orientieren können, d.h. Menschen, die wir imitieren können. Sei dies die Peer Group, die das gleiche ebenfalls durchmacht, oder die Menschen, die uns darin vorangegangen sind, aber leider oft vergessen haben, wie es war, als sie diese Veränderungen durchmachen mussten.

Sehr selten finden wir uns in der Situation wieder, in der wir keine solchen Vorbilder haben. Menschen, die sich dann verändern und neue Weltbilder entwerfen, nennen wir oft Utopisten, Spinner, Visionäre oder Vorläufer.

Wir sind für beide Situationen bestens ausgerüstet. In normalen Zeiten kann unsere linke Hirnhälfte die automatischen Subroutinen und Mustererkennungen aktivieren und der Umgebung so eine Karte zuweisen, mit der wir darin navigieren können. Unser Hirn sieht nur die Karte, aber das genügt, um zu überleben. Sogar für bekannte Überraschungen haben wir automatische Reaktionen bereit.

Doch dann geschieht, was den südamerikanischen Ureinwohner geschah, als die Konquistadoren aus Spanien kamen. Sie sahen die gewaltigen Schiffe nicht, die in der Bucht ankerten, weil sie kein Konzept dafür hatten. Es brauchte Zeit, diese neuen Muster erkennen zu können, einen Lernprozess, einen Erfahrungsprozess.

In solchen Situationen – hier war übrigens nur eine Veränderung erster Ordnung notwendig, denn das Konzept Boot oder Kanu konnte im bestehenden Weltbild angepasst werden – ist es die rechte Hirnhälfte, die die entsprechenden Fähigkeiten einbringt. Versteh mich nicht falsch: wir brauchen immer beide Hirnhälften, bis eine Situation interpretiert ist, aber bei bekannten Situationen unterbindet die linke Seite weitere Energieverschwendung durch in ihrer Sicht unnötige Zyklen. Leider weiss die linke Seite aber nicht, was sie nicht weiss. Sie ist blind für die spanischen Segelschiffe.

So geschieht es immer wieder, dass wir Menschen auf neue Anforderungen treffen und diese schlicht ausblenden.

Ein typisches Beispiel dafür ist das Verständnis der evangelikalen Kirche, dass der Mensch sich nicht wesentlich verändert. Sie sehen die Veränderungen, die ich oben besprochen habe, als rein biologische Vorgänge, die seit Urzeiten gleich sind. Da für sie keine anderen wesentlichen Veränderungen vorkommen ausser beim Entscheid, Christus anzunehmen, sehen sie den Menschen von Beginn weg als moralisches Wesen mit denselben Herausforderungen wie immer: gehorchen oder rebellieren, gerettet oder verloren. Sie sind blind für andere Veränderungen, weil sie andere Veränderungen verneinen.

Aber auch die Moderne erklärt den Menschen auf die immer gleiche Art und Weise. Entwicklung heisst hier, neue Tricks und Fähigkeiten zu lernen. Im Wesentlichen geht es aber um das Funktionieren des Individuums in einer beherrschbaren, formbaren Welt der Machbarkeit und des persönlichen Erfolgs.

Für die Meisten muss der Druck derart steigen, dass eine Desintegration vorliegt: die Welt bricht zusammen, und unsere Automatismen greifen nicht mehr. Zeit, unsere Karte anzupassen.

Es gibt übrigens drei Arten, aus einer solchen Diskrepanz zwischen Karte und Realität herauszukommen:

  • Wir können abstürzen, uns verweigern, auf uralte, z.T. überwunden geglaubte Mittel wie Krieg zurückgreifen, ins Chaos stürzen.
  • Wir können das Chaos zum Feind erklären, Resilienz zeigen, ein paar notwendige Veränderungen erster Ordnung durchführen, und weitermachen, als ob nichts gewesen wäre, und die alten Muster verteidigen, rechtfertigen, als einzige Wahrheit deklarieren.
  • Wir können das Chaos zulassen, es konfrontieren, Ordnung bringen, unsere Karte anpassen, und wachsen.

So sind wir geschaffen, und das weiss Gott. Er weiss, dass wir im Normalfall nur erkennen, was wir kennen, glauben, was wir wissen. Er weiss, welche Anstrengung es braucht, ein über Jahre funktionierendes Weltbild zu verlassen und ein neues zu ergreifen. Oft ist das zu viel für eine Generation. Wir schaffen es manchmal, bis zu dem Weltbild zu wachsen, für das es schon genügend Vorbilder in unserer Umgebung gibt. In der nächsten Generation sind es dann ein paar mehr. Und dann gibt es diese Ausreisser, die neue Entwicklungen vorausnehmen, neue Herausforderungen frühzeitig spüren und darauf reagieren. Sie bilden die potentiellen Keimzellen für eine neue Entwicklung, die Generationen später einen signifikanten Anteil an der Bevölkerung haben werden, um zum Ziel Vieler zu werden.

Die Reformation begann im 12. Jahrhundert, fand im Humanismus einen ersten kleineren Durchbruch mit Francesco Petrarca im 14. Jahrhundert, setzte sich fort über Leute wie Huss und Wycliff, brach durch unter Luther, Zwingli, Calvin, und etablierte sich in der industriellen Revolution mehr als 500 Jahre später.

Wenn Gott dies aber weiss, dann sagt das unter anderem etwas aus über die Bibel. Gott geht es nicht darum, dass wir die Realität in faktischer Wahrheit erkennen. Ihm geht es darum, dass wir in Beziehung mit unserer Umwelt stehen und darin leben. Leben im Sinne des ganzen Spektrums von Überleben bis übersprudelnd Leben, von Sein bis Wachsen und Werden.

Wird er uns dann ein Buch geben, welches faktische Wahrheit enthält, und ist dies der wichtigste Aspekt dieses Buches? Es sagt uns, wie die Dinge sind und wie wir handeln, denken, fühlen sollen, dann ist alles geritzt?

Wir können die Realität der Bibel so wahrnehmen, aber das sagt mehr über unser Verständnis der Welt, unsere Karte aus, als über die Bibel und Gott. Er lässt es zu, denn für eine Zeit können wir so überleben, sogar leben. Für eine Zeit in unserer Entwicklung brauchen wir den festen Rahmen der Gewissheit, und so wird die Bibel für uns dieser Rahmen. Unser Weltbild, unsere Werte, unsere automatischen Mustererkennungen und Subroutinen lassen nichts anderes zu.

Und dann kommt Gott und verändert die Parameter, oder unser eigenes Handeln zwingt uns dazu, uns neuen Herausforderungen zu stellen. Es kommt der Klimawandel, Corona, der Kulturkrieg zwischen Tradition, Moderne und Postmoderne. Und für viele macht die Karte, der sie folgen, keinen Sinn mehr.

Doch wer da Ohren hat zu hören, der höre. Höre richtig zu, und nimm nicht einfach an, dass Du weisst, was es heisst.

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