Introversion

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Was eigentlich ist Introversion? Mir selber gefällt die Erklärung am besten, dass introvertierte Personen ihre Batterien im Alleinsein oder Zusammensein mit ganz wenigen Anderen aufladen, während Extravertierte dazu Action und viele Menschen brauchen.

Warum ist das so? Studien haben gezeigt, dass Introvertierte gegenüber Dopamin empfindlicher sind, dass heisst, sie brauchen weniger von dem Hormon, um genügend stimuliert zu sein und erfahren bei entsprechenden Aktivitäten häufig eine Reizüberflutung.

Eine Party, eine Fahrt auf der Achterbahn können so zu Herausforderung werden.

Hirnchemie

Wir Introvertierten arbeiten dafür mehr mit Azetylcholin. Azetylcholin ist ein Hormon, welches z.B. verhindert, dass wir beim Träumen unsere Bewegungen auch ausleben. So wird der Schlaf sicherer. Aber es erklärt auch, warum Introvertierte weniger Bewegungsdrang zu haben scheinen.

Dopamin und Azetylcholin werden auch beim Abspeichern und Suchen von Informationen als Botenstoffe in unserem Hirn verwendet. Dabei ist der Dopamin-Speicherzyklus kürzer, was erklärt, warum Extravertierte im Normalfall schneller eine Antwort bereit haben, ihre Suche aber auch weniger tief geht.

Scheu hat also wenig bis gar nicht mit der ruhigen, zurückgezogenen Art eines Introvertierten zu tun – ausser er besitzt auch diese Eigenschaft. Introvertierte sind ruhiger, weil sie der Lärm, die Aktivität, der Trubel oft überfordert, und weil ihr Suchalgorithmus im Hirn breiter und tiefer sucht, mehr Assoziationen folgt, und manchmal, aber auch nur manchmal etwas mehr Zeit braucht.

Introversion in der Gemeinde

Warum schreibe ich darüber in einem Blog über den Glauben?

Ich glaube, dass die Erwartungen an einen Christen, die unsere Gemeinden heute an uns stellen, für Introvertierte nicht optimal sind.

Der folgende Text scheint an gewissen Stellen etwas dick aufzutragen. Ich bin mir bewusst: ich gehe hier in die Vollen, aber wirklich übertrieben ist das aus Sicht einer stark introvertierten Person nicht.

Die Predigt

Jetzt werden Extravertierte sicher erst mal auf die Organisation von Gottesdiensten als Frontalunterricht hinweisen, denn Stillsitzen und Zuhören sollte uns Introvertierten doch gefallen.

Die Predigt ist allerdings für gar niemanden geeignet, ausser für den Prediger. Frontalunterricht hat sich als eine der unwirksamsten Formen des Lehrens gezeigt, die es gibt. Diese Methode kann nur in autoritären Systemen erfolgreich sein, wenn das Ziel ist, folgsame Mitarbeiter zu erschaffen. Aber wir wurden über 1700 Jahre dahingehend konditioniert, wir wissen es nicht besser.

Die Grösse

Aber schauen wir das Ganze etwas tiefer an:

Gemeinden haben eine gewisse Grösse. Das ist wichtig, denn die Infrastruktur und der Pastor wollen bezahlt werden.

Nehmen wir an, dass die durchschnittliche Haushaltsgrösse bei drei Personen liegt, und ungefähr ein Fünftel aller Haushalte den Zehnten gibt. Es braucht den zehnten Teil von zehn Haushalten für den Lohn des Pastors, und vielleicht noch einmal halb so viel für die Infrastruktur, wobei das natürlich sehr von den Aktivitäten und dem Gebäude abhängig ist. Fünfzehn Haushalte müssen also zehnten. Dafür braucht es 75 Haushalte, also 225 Personen. Zum Glück haben die meisten Gemeinden noch andere Einnahmequellen, höhere Zehntenquoten und bezahlen kleine Löhne. Sagen wir einmal, dass 60 Personen das absolute Minimum sind, um langfristig mit unserem heutigen Modell zu überleben.

Die Gottesdienste werden also in etwa dieser Grössenordnung auch Besucher haben. Das sind für einen Introvertierten viele Leute. Zu viele Leute.

Interaktivität und Mitdenken

Die Predigt ist eigentlich nie interaktiv. Vielleicht gibt es die sporadische Frage, die kaum jemand beantwortet. Die Antwort ist so banal, dass Introvertierte – und hoffentlich auch ein paar Extravertierte – sie keiner Antwort für würdig halten. Sie gehen davon aus, dass der Prediger mit Sicherheit ein rhetorisches Stilmittel verwendet hat, weil es sonst schon fast beleidigend wäre, erwachsenen Menschen eine solche Frage zu stellen.

Insbesondere deshalb, weil unsere Gedanken während der Predigt nicht gefragt sind. Vielleicht darf man eine Verständnisfrage stellen, oft darf man den Prediger mit Halleluja und Amen bestätigen. Aber dass die Gedanken nicht geäussert werde dürfen, ist nur der kleinere Teil des Problems. Es bleibt uns auch zu wenig Zeit, ihnen nachzugehen. Eine Predigt ist deshalb so etwas wie ein Anschlag auf unser Denken.

Der Lobpreis

Ganz anders beim Lobpreis: da geht es um Lautstärke und um Mitmachen. Die Tonart ist eher egal, wichtig ist die Hingabe, die sich hauptsächlich durch Bewegung und Lautstärke ausdrückt. Stehen ist zwar besser als Sitzenbleiben, aber eigentlich wäre Tanzen und Hände Hochhalten gefragt. Natürlich nicht Tanzen im landesüblichen Sinne, eher ein sittliches hin und her schwingen, mehr oder weniger rhythmische Schritte.

Das Gebet

Beim Gebet wird oft gemeinsam in Sprachen gebetet. Auch dies soll laut geschehen, damit andere es hören – wobei sie doch damit beschäftigt sind, selbst gehört zu werden.

Bei all dem Lärm ist es kaum möglich, sich auf Gott zu konzentrieren.

Das Danach

Und nach dem Gottesdienst beginnt es erst. Endlich wäre die Zeit gekommen, sich über die Predigt zu unterhalten, doch das interessiert niemanden mehr. Es geht um Smalltalk. Smalltalk, so sagt man uns, ist wichtig, um Beziehung zu bauen. Und auch wenn wir Introvertierten Beziehungen lieber langsam angehen, so brauchen wir doch nicht 10 Jahre lang jeden Sonntag Smalltalk, um uns kennen zu lernen. Aber irgendwann stellen wir fest, dass Extravertierte gar nie tiefer gehen wollen. Der Smalltalk ist die Beziehung. Und da nennen sie uns beziehungsunfähig.

Der Hauskreis

Hauskreise kommen uns Introvertierten schon näher. Ein kleiner Kreis, oft mit jahrelang den gleichen Personen. Es kommt zum Austausch, es wird persönlich.

Hier muss ich eine Einschränkung machen: viele Introvertierte fühlen sich in den Hauskreisen sehr wohl. Andere, so wie ich, wünschen sich wesentlich mehr.

Zu oft verkommen Hauskreise zu biblisch angehauchten Smalltalk-Runden mit Kaffee und Kuchen und dem Hauptaugenmerk auf Gemeinschaft. Auch hier sind die tiefen Gedanken oft nicht erwünscht.

Das Gebetstreffen

Gebetstreffen kommen Introvertierten noch am ehesten entgegen. Erstens kommen normalerweise recht Wenige zum Gebetstreffen, und der Lobpreis ist kurz.

Doch dann geschieht es: die Themen werden vorgegeben, man betet laut und gleichzeitig, oder man reiht individuelle Gebete aneinander, ohne aufeinander einzugehen. Es sind geführte, sequentielle oder parallele, einseitige Monologe mit Gott, vielleicht einmal kurz unterbrochen durch eine Zeit des Hörens.

Ich liebe den Dialog mit Gott, aber dann möchte ich ihm Respekt erweisen und mich auf ihn konzentrieren, mehr hören als reden.

Persönlich bete ich nicht so gerne für Leute, aber wenn, dann möchte ich mich auf sie konzentrieren.

Wie geht das in der Gruppe? Das Gebetstreffen ist, wie mir schon öfters im Vertrauen mitgeteilt wurde, für zwei Dinge da: damit die Menschen zu beten lernen, und damit die meisten es wenigsten in diesen Treffen tun, weil sie zu Hause nicht beten.

Der Bibelabend

Normalerweise ist der Bibelabend eine Neuauflage des Sonntagsgottesdienstes mit viel weniger Teilnehmern, kürzerem Lobpreis, vielleicht der Erwartung, dass jemand anders als der Leiter einen Bibelvers vorliest, und eventuell einer kurzen Runde des Gedankenaustauschs.

Die Themen sind wahrscheinlich seit Beginn der Gemeinde die Gleichen: es geht darum, allen die Bibelinterpretation nahezubringen, die in der jeweiligen Gemeinde geglaubt wird.

Tatsächlicher Gedankenaustausch zu kontroversen Themen geschieht nicht. Zu gross ist die Angst vor eigenständigem Denken, davor, jemanden zu verwirren.

Gemeinschaft

Die Menschen in einer Gemeinde sind normalerweise keine echte Gemeinschaft. Solange man sich fragt, über welche Themen man in einer Gruppe nicht sprechen darf, ist eine Gruppe keine Gemeinschaft. Und ich spreche hier nicht davon, mein Intimleben vor der Gemeinde auszubreiten. Es geht mir um alternative Bibelinterpretationen, oder auch um persönliche Probleme.

Alternative Bibelinterpretationen werden oft nicht diskutiert, sondern abgeschmettert, und man wird belehrt.

Persönliche Probleme werden zu Gebetsanliegen, und zu oft bringt man die nicht ein, weil man nicht als bedürftig und schwach und als der mit zu wenig Glauben gelten möchte.

Auch existiert meist ein zum Teil geschriebener, zum Teil ungeschriebener Kodex der Zugehörigkeit. Zugehörigkeit ist das grosse Thema des christlichen Glaubens. Er spricht gezielt dieses Grundbedürfnis des Menschen an. Wer würde das aufs Spiel setzen?

Gemeinschaft ist daher eher ein Synonym für gemeinsames Essen und Trinken. Kaffee und Tee natürlich.

Fazit

Eine so gestaltete Gemeinde bietet kaum Platz für Introvertierte.

Die Lösung

Eine Lösung kenne ich nicht. Natürlich gibt es Flicken: Meditation, kontemplatives Gebet, z.B. in Gebetsstationen, persönliche Besuche unter der Woche, zusammenarbeiten an gemeinsamen Projekten, zusammen leben.

Doch die eigentliche Lösung besteht darin, die Gemeinde zusammen mit allen Gemeindemitgliedern zu gestalten, Initiativen zu fördern, und offen zu werden für eigenständiges Denken, Tiefe, langsames Kommunizieren, Dialoge.

Vielleicht ist es an der Zeit, die Anstellungsverhältnisse von Pastoren und die Notwendigkeit von Gebäuden zu hinterfragen.

Redet miteinander, nicht übereinander. Lasst allen Zeit, und kommuniziert auch über Email und Zweiergespräche.

Es ist Zeit, die Gemeinde für alle ansprechend zu machen. Und ja: schaffen wir endlich die Predigt ab.

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