Halacha und Aggada

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Das Wandeln und Erzählen.

Das heissen diese beiden Begriffe.

Wenn ich dies höre, ohne genau zu wissen, was damit gemeint ist, sehe ich einen Rabbi, wie er langsam durch die Landschaft wandelt und erzählt. Dieser Rabbi könnte durchaus Jesus sein, umgeben von seinen Jüngern.

Gleichzeitig erinnert mich das Wort Wandeln nicht nur ans Gehen, sondern auch an Bewegung und Veränderung.

Und schon sind wir mitten drin.

Die Halacha ist die Auslegung des Gesetzes, die normgebende Tradition, die Aggada ist die Ansammlung von erklärenden Erzählungen, die veranschaulicht, aber nicht verbindlich ist.

Theorie und Praxisbeispiel, Ordnung und Chaos, Tradition und Abenteuerbericht, der Weg und das Erlebnis, Norm und Umsetzung, Doktrin und Leben.

Es scheint mir wichtig, dass sich die Halacha wandelt. Im Christentum wandelt sich die Theologie, die Lehre ebenfalls. Die Tradition des Dialogs im Judentum zeigt diesen Wandel über die Zeit wesentlich deutlicher als die griechisch geprägte, eher philosophische Theologie des Christentums.

Während ich im Christentum die für sich allein stehenden Bücher verschiedener Theologen lesen, verstehen und vergleichen muss, gibt es im Talmud eine Schrift, die die Lehrmeinungen zu bestimmten Themen in Dialogen, die sich zum Teil über Jahrhunderte erstrecken, zusammenfassen und so den Wandel sichtbar machen.

Geschichten, Parabeln, Sagen, Legenden verdeutlichen, was die Gesetzesauslegung oft nicht leisten kann. Das Leben ist nicht schwarz oder weiss, es ist farbig, ein bunter Strauss mit Farbverläufen und Graustufen.

Die mehr fühl- als erkennbaren Erzählungen geben uns Beispiele, wie die Halacha im Alltag umsetzbar ist.

Die Bibel selbst ist Halacha und Aggada, wobei die Aggada den wesentlich grösseren Teil einnimmt. Selbst in der Thora, den fünf Büchern Mose, herrscht die Aggada vor.

Evangelikaler Fundamentalismus nimmt nun diese Aggada und destilliert daraus eine oft versteinerte, sich nicht wandelnde Halacha: es steht geschrieben.

Das zeigt sich schon im neuen Testament. Hier hat die Aggada einen kleineren Anteil am Gesamtvolumen mit den vier Evangelien und der Apostelgeschichte. Die Briefe werden fast vollständig als Halacha empfunden.

Paulus hat es uns also vorgemacht. Er destilliert aus dem Tanach, dem alten Testament, den Erzählungen über Jesus und seinem eigenen Erleben eine Halacha. Warum?

Für mich gibt es dafür mehrere Gründe.

Die junge Kirche braucht Normen, aber diese Kirche ist nicht jüdisch, sondern griechisch. Im griechischen Denken hatte sich das Lehren über eine normative Doktrin langsam durchgesetzt. Dazu kam, dass Paulus selbst ein Pharisäer war. Die Pharisäer tendierten mehr zur Halacha als zur Aggada, waren die Fundamentalisten ihrer Zeit.

Paulus ist also ein Produkt seiner Zeit, seiner Ausbildung, und des soziokulturellen Umfeldes, in das er hineinwirkte.

Und doch wusste Paulus sehr wohl, dass sich Halacha wandelt. Nehmen wir seine eigenen Briefe. Heute sagen die Theologen, dass Paulus seine Theologie über die Jahre hinweg entwickelte, und das stimmt. Man könnte es auch so sagen: seine Halacha befand sich im Wandel.

Ein Bruch geschah im vierten Jahrhundert, als die Konzile den Umfang und Aufbau der Bibel festlegten. Interessanterweise wurde auch der Kanon des jüdischen Tanach erst weit nach Jesu Lebenszeit festgelegt. Aber im Christentum geschah etwas, was im Judentum nicht geschehen konnte.

Das Judentum befand sich in der Diaspora. Es gab keine normsetzende Instanz, und das Judentum entwickelte sich im Dialog der Juden untereinander und mit ihrer Umwelt. Genau so hatte sich das Christentum vor den Konzilen entwickelt. Verschiedenste Strömungen lebten nebeneinander, im Dialog miteinander, und reagierten auf ihre Umwelt.

Dadurch, dass das Christentum zur römischen Staatsreligion wurde, wurde es hierarchisch mit einer normsetzenden Instanz im römischen Kaiser und dem römischen Bischof, dem Papst.

Die Bedürfnisse des römischen Reiches bestimmten fortan die Halacha und lieferten die Aggada.

Ein Beispiel einer Erzählung: Konstantin hatte in der Nacht vor einer Schlacht einen Traum. Wenn er alle seine Soldaten unter dem Zeichen des Kreuzes kämpfen lassen würde, wäre ihm der Sieg gewiss. Und so geschah es.

Daraus ergab sich der Glaube, dass wir auf der Seite Jesu siegreich sein werden, wobei es genügte, sein Zeichen zu tragen, Teil seines Heeres zu sein. Und über Jahrhunderte reichte es, der Kirche seines Kreuzes anzugehören, um gerettet zu sein. Eine neue Halacha war geboren, die bis 1515 und darüber hinaus Gültigkeit behielt.

Während die hebräische Aggada uns zeigt, dass das Judentum eine Grassroots-Bewegung ist, von unten, vom Leben gesteuert und darauf reagierend, wurde die christliche Aggada eine hierarchische, kopfgesteuerte.

Das zeigt sich schon an der Logik, die wir für die Auslegung der Aggada verwenden. Sie ist geprägt von der griechischen linearen kausalen Logik, verfeinert durch die Wissenschaft. Die erzählerische nahöstliche Kultur, und im Speziellen die hebräische, verwenden die Blocklogik.

Während die lineare Logik im Muster Ursache – Wirkung denkt, schaut sich die Blocklogik einen Sachverhalt von allen Seiten an. Wir Westler suchen nach dem Gesetz, dass einer Sache zu Grunde liegt. In der Blocklogik wird ein Bild gemalt. Lineare Logik versucht durch Reduktion zu verstehen, Blocklogik versucht, Raum zu erschaffen, Raum, um darin zu leben und zu weben.

Die christliche Theologie kommt durch ihre lineare Betrachtungsweise auf Prinzipien wie das Gesetz der ersten Nennung. Ein theologisches Prinzip wird bei seiner ersten Nennung grundlegend beschrieben und festgelegt.

Eine hebräische Betrachtungsweise sieht den Wandel, die Facetten je nach Betrachtungswinkel.

Hat Israel es immer richtig gemacht? Natürlich nicht. Nehmen wir nur das Beispiel der Schlange auf dem Stab, welche Moses aufrichtete gegen die Folgen der Schlangenplage in der Wüste. Später wurde dieses eherne Zeichen selbst zum linearen Prinzip, zur konkretisierten, versteinerten Halacha und damit im Sprachgebrauch des alten Testaments zum Götzen, der zerstört werden musste.

Die Aggada, die Erzählung wurde zum Gesetz. Damals waren es noch nicht die Prinzipien, sondern die Gegenstände, die plötzlich zum Träger und Auslöser der Handlung wurden. Man wollte sich an etwas Konkretem festhalten.

Könnte es sein, dass sich diese Geschichte im Christentum wiederholt? Da wird die Aggada der Bibel über die Jahrhunderte zur Halacha und versteinert sogar teilweise. Die Bibel wird zum Massstab unseres Gottesverständnisses, die Bibeltreue zum Kriterium unseres rechten Glaubens.

Die eherne Schlange hatte ihren Auftritt, die Bundeslade, der Tempel ihre Zeit. Ich stelle eine ketzerische Frage: wie steht es mit der Bibel?

Ich plädiere nicht dafür, die Bibel zu zerstören. Ich glaube, dass die konkrete Vergötterung der ehernen Schlange die konkrete Zerstörung der Schlange nach sich ziehen musste.

Wir vergöttern nicht die Bibel. Wir vergöttern die Halacha, in die wir unsere Bibel verwandelt haben. Eine Halacha ohne Wandel, eine Halacha ohne Aggada, denn unsere Aggada dient nur dazu, Halacha zu produzieren. Lineare, kausale, kalte Halacha. Die Bibel sagt.

Es ist diese Interpretation der Bibel, die auf den Scheiterhaufen gehört. Stellen wir Gott in die Mitte und erleben wir die Aggada der Bibel neu, inspiriert wie eh und je, um im Spannungsfeld zwischen Halacha und Aggada ein Bild, einen Raum aufzuspannen, der uns Leben bringt.

Rabbi Abraham Heschel sagte, dass Halacha immer der Diener von Aggada sein soll. Wir haben das umgedreht.

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