Die Erbschaft des Funda­menta­lismus

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Auf seine eigene Art zu denken ist nicht selbstsüchtig. Wer nicht auf seine eigene Art denkt, denkt überhaupt nicht.

Oscar Wild

Vor ungefähr fünf Jahren habe ich entdeckt, dass die Gedanken, die ich mir über Gott machte, nicht so daneben sind, wie es mir immer wieder gesagt wurde.

Das hat dazu geführt, dass ich vor etwa einem Jahr endlich den Mut hatte, den Stecker zu ziehen und mich aus dem fundamentalistisch-evangelikalen Umfeld zu verabschieden.

Heute habe ich erfahren, wie gut diese Entscheidung war.

Die Gemeinde, in der ich über 17 Jahre war, hat offenbar entschieden, dass die CoViD-19-Impfung das Zeichen 666 aus der Offenbarung ist. Sie sagen, dass jeder, der sich impfen lässt, an Abtreibungen schuld sei und fötale Stammzellen gespritzt bekomme.

Für sie ist der Beginn der Trübsalszeit gekommen, und sich impfen zu lassen ist gleichbedeutend mit dem möglichen Verlust der Errettung, zu wenig Glauben in den Schutz Gottes gegen CoViD-19, und ein Zeichen von Bequemlichkeit und fehlender Hingabe.

Ich kann verstehen, wo sie herkommen. In der Offenbarung steht, dass wir ohne das Zeichen keinen Handel mehr betreiben dürfen. Die Zertifikatspflicht ist für sie die Erfüllung dieser Prophezeiung. Obwohl wir immer noch Handel treiben können, sowohl online als auch mit Maske in allen Geschäften.

Auch frage ich mich, wie eine Impfung am Oberarm ein Zeichen sein kann, das laut Bibel an der Hand oder auf der Stirn angebracht wird.

Diese Auslegung der Offenbarung im wörtlichen Sinne ist ein Erbe von Darby. Er hat im ausgehenden 19. Jahrhundert die Lehre populär gemacht, dass es eine siebenjährige Trübsalszeit mit Entrückung geben werde.

Seither lesen die meisten Christen die Offenbarung durch diese Brille. Diese Voreingenommenheit und Prägung ist so stark, dass sie sich immer wieder durch einzelne Verse bestätigt sieht. Verse, die durchaus anders ausgelegt werden könnten und werden, aber durch die tief verankerte Lehre immer nur wieder genau diese Lehre bestätigen.

Leider hat sich in der heutigen Christenheit das Gedankengut verfestigt, dass andere Auslegungen nur zu denken schon Blasphemie sei. Es steht doch geschrieben, wie kann es denn anders sein. Wer das anders sieht, will sich nur etwas zurechtlegen.

Oft werden auch persönliche Prophezeiungen, Träume und Visionen ins Feld gebracht, um die Auslegung zu untermauern. Doch wird es oft so sein, dass wir diese in genau dem Denken interpretieren, das wir vorher schon hatten. Auch Gott wird uns immer wieder da begegnen, wo er weiss, dass er etwas in uns bewegen kann.

Die Gefahr ist nämlich, dass allzu starke Korrekturen als Reden Satans aufgefasst werden, entweder vom Träumenden selbst oder dann spätestens von den Personen, denen er das alles erzählt.

Doch schauen wir einmal an, was das Weltbild ist, das hinter dem Glauben steht, dass die Impfung das Zeichen des Biests sei.

Erstens bedeutet das, dass wir in der Endzeit schon sehr fortgeschritten sind. Das Zeichen des Biests begegnet uns in Offenbarung 13, nach den ersten Plagen.

Ich muss dazu gerechterweise sagen, dass es durchaus Ausleger gibt, die sagen, dass mit Kapitel 12 wieder von Vorne begonnen wird.

Es bedeutet aber auch, dass die Entrückung nicht vor der Trübsalszeit geschehen wird. Hier habe ich mich immer gewundert, wie Christen eine frühe Entrückung annehmen und gleichzeitig daran glauben konnten, dass sie das Zeichen 666 noch erleben würden.

Es bedeutet aber auch, dass die Gnadenzeit abgelaufen ist. In der Offenbarung kommt nach gewissen Auslegungen niemand mehr zum Glauben, denn es heisst, dass niemand umkehren wird.

Alles in allem ist es ein rechtes Durcheinander.

Das Erbe des Fundamentalismus ist damit eine gewisse Angst. Wie das?

Der alttestamentliche Gott war im fundamentalistischen Verständnis ein Gott von Belohnung und Bestrafung. Er rächte sich durchaus von Zeit zu Zeit. Mit Jesus aber begann die Gnadenzeit, ein zeitlich begrenzter Abschnitt im Heilsplan Gottes, während dem Gott, besänftigt durch den stellvertretenden Tod seines Sohnes Jesus, den Menschen gnädig begegnet. Danach, so zeigt uns die Offenbarung, wird er zu seinem alten Wesen zurückkehren. Der Gläubige wird belohnt, der Ungläubige bestraft. Drakonisch bestraft, mit Ewigkeitswert.

So oder ähnlich sieht der evangelikale Fundamentalismus den Heilsplan Gottes.

Die Folge davon: auch wenn der Tod Jesus natürlich genügt, muss dieser doch als persönlich notwendig akzeptiert, um Vergebung gebeten, und Jesus als Herr ins eigene Leben gerufen werden.

Die Tatsache, dass etwas getan werden muss, um von Gott angenommen zu sein, und dieses etwas die Herrschaft Gottes im eigenen Leben umfasst, bringt gewisse Konsequenzen mit sich. Wenn ich durch erneute Sünde diesen Herrschaftsbereich verlasse, muss ich Busse tun und umkehren.

Solange Sünde aber definiert ist durch einen Katalog von Taten und Gedanken, der sich beliebig erweitern lässt, und der wächst und sich verfeinert, je länger jemand mit Jesus unterwegs ist, und sich erst noch von Gemeinde zu Gemeinde unterscheidet, bin ich mir nie absolut sicher, ob was ich tue mich für die Annahme Gottes qualifiziert.

Diese latente Angst äussert sich in Rechtfertigung und dem Aufstellen von Listen, welche Früchte Zeichen für den rechten Glauben seien. Natürlich wird das kein Mitglied einer fundamentalistischen Gemeinde zugeben.

Allein schon die möglichst wörtliche Auslegung der Bibel zeigt aber auf, dass diese latente Angst immer mitschwingt. Natürlich ist eine wörtliche Auslegung eines Buches, welches in einer symbolbehafteten Sprache mit einem vollständig anderen Sprachverständnis geschrieben wurde, als die Sprache, in die es durch Menschen basierend auf mehreren sich widersprechenden Quellen übersetzt wurde, eigentlich gar nicht möglich.

Wörtliche Auslegung ist ja noch nicht einmal bei einem Text möglich, der uns in unserer eigenen Sprache vorliegt, was unsere Gerichtsbarkeit, die Probleme bei der Softwareentwicklung, und heute auch die verschiedenen Auslegungen der Corona-Massnahmen des Bundes eindrücklich beweisen. Sprache ist bei grösstmöglicher angestrebter Objektivität immer noch subjektiv.

Warum aber wünscht man sich eine möglichst wörtliche Auslegung? Weil wir dann keine Angst haben müssen, durch unsere Interpretation aus dem Willen Gottes und seinem Herrschaftsbereich herausgetreten zu sein.

Natürlich legt heute niemand mehr den Text wörtlich aus, auch wenn das überhaupt möglich wäre. Pastoren tragen Mischgewebe, aufsässige Kinder werden nicht gesteinigt, man isst Blutwurst und Rahmschnitzel. Die Grenze dessen, was kulturell oder alttestamentarisch verstanden werden muss und daher heute nicht mehr gilt, ist aber eine Interpretation. Genauso verhält es sich, wenn ein Zeichen auf Hand oder Stirn dann plötzlich doch am Oberarm oder auf dem Smartphone sein kann.

Bei all den auf persönlicher Meinung und Inspiration gründenden Ausnahmen und Interpretationen tendiert man aber dazu, möglichst nahe an der Schrift zu bleiben. Man hat dafür das Wort „bibeltreu“ erfunden.

Massgebliche Instanz für die gewählte Interpretation ist der Heilige Geist. Interessanterweise inspiriert er viele Pastoren und Gemeinden anders, so dass über die Jahrhunderte Tausende von wörtlichen Auslegungen gefunden wurden.

Diese latente Angst führt auch dazu, dass kaum jemand Verantwortung übernehmen will. So übernimmt ein Pastor die Meinung seines geistlichen Vaters oder seiner Denomination. Anpassungen gibt es in den seltensten Fällen, aus Angst, aus dem Netzwerk oder der Denomination ausgeschlossen zu werden und, weil ja diese Institution den wahren Heilsweg verkündigt, auch gleich den Herrschaftsbereich Gottes zu verlassen.

Mitglieder übernehmen das Glaubenssystem ihrer Leiter, ausser dort, wo sie es persönlich besser wissen.

Gemeinden werden also geprägt durch Gruppendruck und egoistische Triebe, und beides wird als die Inspiration des Heiligen Geistes, eine bibeltreue Doktrin und ein biblisches Gemeindemodell verkauft. All dies aus Angst.

Ich möchte damit nicht sagen, dass nichts in den Gemeinden seinen Ursprung beim Heiligen Geist hat. Ich denke, dass es aber viel weniger ist, als wir glauben.

Wie sähe eine Alternative aus? Wie, wenn Gott bereits alles getan, alle angenommen, ja uns nie verstossen hat? Was wenn nur wir meinten, verstossen zu sein, und er diesen Graben überwunden hat?

Dann könnten wir in aller Freiheit nach Wachstum, Inspiration, Gemeinschaft und Beziehung streben, ohne Angst, verstossen zu werden. Eine gegenseitige Bewegung und Begegnung der Liebe.

Bin ich böse über das Erbe der fundamentalistischen Gemeinden? Nein, eher traurig. Mein Herz blutet für jeden, der unter diesem Joch leidet. Ich bin den Gemeinden, die ich besucht habe, auch dankbar. Ich wäre nicht der, der ich heute bin, ohne sie.

Daher meine ausgestreckte Hand. Ich möchte helfen.

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