Gedanken zur Abtreibung

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Vor ein paar Tagen hat ein texanisches Gericht das sogenannte Herzschlaggesetz vorläufig gestoppt. Die Regierung in Washington hatte geklagt.

Das Herzschlaggesetz sagt hauptsächlich zwei Dinge: sobald das Herz des Kindes hörbar schlägt, darf nicht mehr abgetrieben werden, und alle, die jemandem bei einer Abtreibung helfen, dürfen von jedem in einem Zivilprozess verklagt werden. Es reicht schon, wenn ich jemanden zu einem Abtreibungstermin fahre.

Ich werde jetzt nicht politisch, keine Angst.

Ich empfinde Abtreibung als ein komplexes Thema. Was ich heute darüber schreibe, soll nicht meine eigene Meinung darstellen, sondern eine Sammlung von Gedanken, die meiner Meinung nach in die Meinungsbildung einfliessen müssen.

Die einfachste Art, mit Abtreibung umzugehen, ist sie als von Gott verboten darzustellen. Dann muss ich nicht weiter darüber nachdenken.

Die Gegenseite hat es nicht so einfach. Wenn Gott nicht existiert, dann haben wir als Menschen wohl doch eine moralisch-ethische Verpflichtung gegenüber dem Leben.

Selbst wenn wir dies leugnen, dann sollte doch die evolutionäre Arterhaltung dafür sprechen, dem Kind einen höheren Stellenwert zu geben als der älteren Generation, speziell der Mutter. Das Kind hat die grössere Chance und mehr Zeit, die Art weiter zu verbreiten und am Leben zu halten.

Natürlich ist dies hauptsächlich dann der Fall, wenn das Kind gesund ist. Pränatale Diagnostik könnte demnach beigezogen werden, um diese Chancen zu bewerten.

Allerdings müsste eine solche Bewertung sehr selektiv und in wenigen Fällen dem Wohl der Mutter mehr Gewicht beimessen, ist es doch wichtig, einen diversen Genpool sicherzustellen. Insofern sind Mutationen und Abweichungen von der Norm wünschenswert.

Bei einer moralisch-ethischen Verpflichtung geht es um den Schutz des Lebens in Abwägung zu hedonistisch egoistischen Betrachtungen oder der Überzeugung, dass es unverantwortlich ist, überhaupt Leben in diese Welt zu setzen.

Letzteres kann einfach gelöst werden, entweder radikal durch Unterbinden oder mit einem gewissen Risiko durch Verhütung. Diese Lösungen ermöglichen es auch, Sex einfach aus Spass zu haben, ohne die Folgen fürchten zu müssen. Natürlich besteht bei der Verhütung ein durchaus respektables Restrisiko.

Die Möglichkeit, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden, hat zur Folge, dass die radikale Lösung der Unterbindung weniger gewählt wird, und wir uns so die Möglichkeit erhalten, in der Zukunft unsere Meinung über Nachkommenschaft zu ändern.

Sie hat natürlich auch zur Folge, dass die Achtsamkeit beim Sex tendenziell nachlässt. Sex verliert seinen primären Sinn der Fortpflanzung, wird enttabuisiert, und verliert so auch an Wert oder, wie gläubige Menschen es ausdrücken würden, an Heiligkeit.

Monogamie scheint evolutionäre Vorteile zu haben, speziell für die Frau. Die Sicherheit einer Beziehung in Bezug auf Versorgung, körperlichen Schutz, Krankheiten, und Unterstützung bei der Erziehung steht der Vielfalt des Genpools gegenüber. Auch der Mann hat einen evolutionären Vorteil in der Sicherheit, dass seine Gene weitergegeben werden.

Zusätzlich führt die Monogamie dazu, dass mehr Männer eine Partnerin finden. Das hat wiederum zur Folge, dass weniger aggressives Potential vorhanden ist und in Kriegen ausgelebt wird. Monogamie führt zu friedlicheren Zeiten.

Die Vorteile intakter Beziehungen ergeben sich hauptsächlich aus der Tatsache, dass ein menschliches Kind eigentlich zu früh geboren wird. Die Grösse des Kopfes macht eine frühe Geburt und die daraus folgende jahrelange Pflege des Kindes notwendig.

Monogamie scheint auch moralisch-ethische Vorteile zu haben, und sie liegen in denselben Bereichen: die gegenseitige Unterstützung beim Erziehen der Nachkommen, die Treue.

Natürlich wird es bei den moralisch-ethischen Gründen schon schwieriger, denn diese sind abhängig von der Weltanschauung der Partner und der Gesellschaft.

Hier geht es um die Gestaltung der Wertehierarchie: wird persönliche Freiheit höher gewertet als Treue oder das Recht des anderen?

Nach Auffassung der meisten hat der Staat die Aufgabe, das Leben seiner Bürger zu schützen. Er tut das militärisch gegen Angriffe von Aussen, durch medizinische Versorgung, soziale Aufgaben, Strafverfolgung und vieles mehr.

Eine mögliche Aufgabe ist der Schutz der Schwächsten, und dazu zählen viele das ungeborene Kind.

Jetzt kann man geteilter Auffassung sein, wann Leben beginnt. Ist eine befruchtete Zelle bereits Leben, oder nur das Potential dazu? Wie steht es mit einem Zellhaufen? Die katholische Kirche hat bereits Samen und Ei als potentielles Leben betrachtet und daher die Verhütung verboten. Das alte Testament der Bibel allerdings legt fest, dass das Leben im Blut liegt, welches erst nach Tagen gebildet wird. So die traditionelle Auslegung.

Es sind einige Betrachtungsweisen möglich: der Moment der Zeugung, die 12. Woche, der Moment der Geburt. Allerdings könnte man durchaus auch sagen, dass ein Kind erst dann schützenswert ist, wenn es selbständig überleben kann. Das ist, je nach Betrachtungsweise, nach ein paar Monaten Schwangerschaft oder erst einige Zeit nach der Geburt möglich.

Über eine Betrachtungsweise scheint im Allgemeinen eine einheitliche Meinung zu bestehen: ein Kind, welches geboren wurde, ist ein Mensch und daher schützenswert.

Eine andere Frage ergibt sich aus der Aufgabenstellung des Staates: wenn es darum geht, Leben zu schützen, dann sollte dies vom Staat her ab dem Zeitpunkt geschehen, an dem Leben besteht. Dazu sollte ein bestmöglicher Konsens gefunden werden.

Vorher allerdings sollte der Staat sich nicht einmischen. Allerdings liesse sich durchaus einwenden, dass eine nicht verbotene Abtreibung möglichst sicher sein sollte für die Mutter. Eine entsprechende medizinische Versorgung sollte zugänglich sein. Dies entfällt natürlich nicht, wenn Abtreibung verboten ist, denn nicht alle halten sich an die Gesetze, und es wird möglicherweise aus moralisch-etischen Gründen Situationen geben, in denen eine Abtreibung durchaus wünschenswert ist. Dann sollte diese sicher und zugänglich sein.

Ist eine Versicherungslösung richtig? Private Versicherungen haben immer eine Maximierung des Gewinns vor Augen, und sie finden im Gesundheitswesen heute einen durchaus willigen Partner. Was also ist gewinnversprechender: Abtreibung oder Austragen des Kindes? Das kommt auf die Ausgestaltung der Kosten, die Betrachtung der Folgekosten, und den zeitlichen Betrachtungshorizont an.

Leider sind Versicherungen, wie fast alle Unternehmen heute, durch ihre Ausrichtung auf die Shareholder zu kurzfristigem Denken verurteilt. Auch ist der Markt durchaus gross genug und durch die wachsende Lebenserwartung mit entsprechenden Krankheiten auch lukrativ genug, so dass ein Fötus nicht als potentieller lebenslanger Kunde betrachtet werden muss.

Die Ausgestaltung der Kosten wird häufig teilweise staatlich gelenkt und nur teilweise vom Markt bestimmt. Hier hat die Gesellschaft durch die staatliche Lenkung einen Hebel, aber auch durch Angebot und Nachfrage.

Leider entfällt heute häufig ein weiterer Hebel: dem Personal im Gesundheitswesen wird oft die persönliche Freiheit abgesprochen, sich gegen oder für die Teilnahme an Abtreibungen zu entscheiden.

Staatliche Versicherung scheint auf den ersten Blick also besser, da nicht von Marktkräften gesteuert. Alternativ kann der Staat die Umstände beschreiben, unter welchen eine Abtreibung von den Versicherungen übernommen werden muss, so dass legal vorgenommene Abtreibungen unter bestmöglichen Umständen durchgeführt werden können.

Wieder sind wir bei der Gestaltung der Wertehierarchie angelangt: was bestimmt die Legalität einer Abtreibung. Mögliche Kriterien sind Krankheit der Mutter oder des Fötus, Vergewaltigung, Lebensqualität, Bevölkerungsdichte, persönlicher Glauben.

Der Staat oder der Markt können durchaus alternative Lösungen zur Abtreibung anbieten: private oder staatliche Adoption, Babyfenster, aber vielleicht wird es sogar einmal möglich sein, früh erkannte Schwangerschaften von anderen Müttern austragen zu lassen (anstelle von In-Vitro-Schwangerschaften), verbesserte Verhütungsmethoden, finanzielle Unterstützung, verbesserten Kündigungsschutz, Kindertagesstätten usw.

Die Gesellschaft könnte einen Wertewandel erleben hin zu alternativen Lebensmodellen und Abbau von Tabus und Diskriminierung.

Wir sehen, Abtreibung ist ein heikles, vielschichtiges Thema, und ich bin noch nicht einmal auf Vergewaltigung, Inzest und Überlebenssicherung der Mutter zum Beispiel bei Immunreaktionen eingegangen.

Aber ich habe implizit eines aufgezeigt, das ich jetzt nicht explizit machen will: der Staat ist nicht per se eine religiöse Instanz, welche die göttlichen Gesetze, so sie dann eindeutig interpretiert werden können, durchzusetzen hat. Der Staat organisiert gewisse Teilbereiche des kommunalen Zusammenlebens.

In einer Demokratie ist die ausschlaggebende Moral, die die Gesetze schreibt, die Moral der Mehrheit. Vom Fundamentalisten bis zum Egoisten haben alle das Recht auf ihre eigene Meinung und ihre Stimme.

Eine Lösung kann nur im Dialog gefunden werden, welcher gegenseitiges Verständnis voraussetzt. Dialog heisst nicht von vornherein Kompromiss, aber auch nicht Sturheit. Im Dialog ist das Hören wichtiger als das Reden. Demonstrationen und Gegendemonstrationen sind kein Dialog.

Abtreibung ist ein kontroverses Thema, das nur mit Liebe angegangen werden kann. Liebe zur Mutter, zum Kind, zum Mitmenschen, zum Leben, zum Andersdenkenden. Wie so Vieles im Leben.

Unsere Gesellschaft ist weltanschaulich tief gespalten. Im Gegensatz zu den USA ist diese Spaltung weniger sichtbar, weniger gewaltbereit, weniger radikal, aber genauso vorhanden und bestimmend in unserem Zusammenleben.

Wie zeigt sich diese Spaltung am Thema Abtreibung?

Traditionell wird der Schutz des Lebens betont. Vor allem das ungeborene Kind, welches keine eigene Stimme hat, braucht diesen Schutz. Dazu kommt der Wille Gottes, dass jedes Leben schützenswert und jeder Mord verboten ist.

Modern geht es um das individuelle Selbstbestimmungsrecht. Der Staat hat sich nicht einzumischen in meine persönlichen Angelegenheiten. Zusätzlich lässt sich mit Abtreibung doch Geld verdienen. Wie kann das schlecht sein?

Postmodern geht es um die Gleichstellung von Minderheiten, insbesondere der Frau. Die durch das Patriarchat zur Gebärmaschine reduzierte Frau soll emanzipiert werden, auch durch das Recht, eigene Entscheidungen über ihren Körper fällen zu dürfen, ohne auf Spass verzichten zu müssen.

Alle diese Gründe und Betrachtungsweisen haben ihre Berechtigung und ihre Auswüchse. Solange diese drei Weltanschauungen einander Berechtigung und Wert absprechen, werden wir immer eine oder zwei Bevölkerung links liegen lassen.

Die Lösung eines paradoxen Problems mit sich widersprechenden Bedürfnissen kann nur integral gelöst werden. Und wieder landen wir bei der Liebe. Oder, für den modernen Menschen etwas weniger gefühlsduselig definiert, beim unbedingten gegenseitigen Verständnis.

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