Die Folgen der Schöpfungsgeschichte

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Immer wieder überlege ich mir, welche Folgen unsere Bibelinterpretationen für uns haben.

Bei der Offenbarung ist klar: die Naherwartung führt in massiven Krisensituationen zu einer Kurzsichtigkeit in der Gemeinde, weil sie jetzt die Wiederkunft Jesu, die Entrückung, das grosse Aufräumen und das Ende erwarten.

Dies führt dazu, dass die meisten Christen sich keine Gedanken um das Danach machen, sich auch keine Lösungsansätze überlegen, und oft sogar die Lösungen boykottieren, welche vorgeschlagen werden, um dem Plan Gottes nicht zuwider zu handeln und dem Feind nicht in die Hände zu spielen. Siehe aktuell die Impf-Diskussion.

Wie steht es mit dem anderen Ende der Geschichte?

Die Schöpfungsgeschichte geht davon aus, dass alles perfekt begann und dass der Mensch es verbockte. Seither ist das Ziel, den Menschen zurückzuführen in die verlorenen paradiesischen Verhältnisse.

Nimmt man beide Auslegungen zusammen, folgt die Aussage, die so manch bibeltreuer Christ verinnerlicht hat: es wird alles immer schlimmer.

Das darin verborgene Prinzip ist Folgendes: Früher war alles besser. Würden wir nur zur Moral und Ethik von früher zurückkehren, wären wir mindestens einen Schritt näher am Paradies, am Himmel.

Natürlich hat der durchschnittliche Christ frustriert aufgegeben, resigniert, kapituliert, denn die meisten Menschen werden nie zurückkehren und Gottes Wort akzeptieren. So steht es geschrieben.

Zum Glück gibt es die Auslegung, dass vor der Trübsalszeit die grosse Erweckung komme, die grosse Ernte. Zwar geht dies in Krisenzeiten oft vergessen, denn jetzt sind wir ja in der Trübsalszeit angekommen, ohne dass diese grosse Ernte geschah, aber dann wird einem klar: was jetzt geschieht, sind nur die Vorwehen der unmittelbar bevorstehenden Trübsalszeit, die Ernte ist also noch möglich.

Doch wie wird diese Ernte hervorgebracht: Gott muss es machen, aber es wird auch ein Zurück zu den alten Werten beinhalten.

So werden die alten Werte gepredigt.

Was ich hier sehr überspitzt gezeichnet habe, macht klar, dass das Christentum aufgrund seiner Bibelinterpretation ein an und für sich zukunftsloses, rückwärts gewandtes Weltbild vertritt. Die Zukunft findet nur in der Ewigkeit statt.

Der Auftrag, dass wir uns um diese Erde kümmern sollen, ist vergessen. Wir legen die Hände an den Pflug und schauen wehmütig zurück. Wir schauen zurück in diese Zeit, die es wieder herzustellen bedarf, und reden uns ein, dass Jesus mit der Rückschau die Sehnsucht nach dem alten Leben vor der Bekehrung gemeint hat, dort in dem Vers, der das Zurückschauen als nicht geeignet für das Königreich Gottes beschreibt.

Alle unsere Probleme werden reduziert auf den Kampf zwischen Gut und Böse aufgrund unserer Fehlentscheidung im Garten Eden.

Wenn wir aber die Schöpfungsgeschichte als archetypische Erzählung unseres Erwachens als bewusste und selbstbewusste Kreaturen, erschaffen von Gott in einer Evolution über Milliarden von Jahren verstehen, als Gedicht, welches die Erinnerung wachhält an diesen wunderbaren Moment der Bewusstwerdung, an die Tatsache, dass Gott hinter all dem steckt, sieht alles anders aus.

Sehen wir die Offenbarung zusätzlich als Beschreibung unseres inneren Kampfes zwischen wahrem Selbst und Ego, ergibt sich ein ganz anderes Bild.

Es ergibt sich ein wunderbares Gemälde von im Trend anhaltendem Fortschritt mit Auf und Ab, aber stetiger Entwicklung.

Gott, der Unfassbare, Unbegreifliche, grösser als all unser Verständnis, inkarniert sich selbst in der Schöpfung und lässt sie wachsen. Er durchwebt alles und schenkt stetig Leben.

An einem bestimmten Zeitpunkt schenkt er freien Willen und Bewusstsein, welches sich in ihm, durch ihn, und trotzdem frei entwickelt und zu seinem Ansprechpartner wird.

Gott wird in der Schöpfung zum Du, zum Gegenüber, zum sichtbaren und begreifbaren Wesen, ohne seine erste Natur des Allumfassenden, Unbegreiflichen loszulassen.

Und Gott ist die Schöpfung, ohne dass die Schöpfung alles von Gott wäre. Er ist so viel grösser als alles. Und doch wird er im Menschen zum Ich. Jeder Mensch ist Ausdruck Gottes, wie ein Sohn ein Ausdruck des Vaters ist, bewusst oder unbewusst.

Gott inkarniert ein weiteres Mal in Jesus. So wird Jesus zum Vorbild für menschliches Leben, dafür, was möglich ist.

In diesem Bild hat Gott drei Gesichter: das unbegreifliche Es, das erlebbare Du, das werdende Ich.

In diesem Gemälde hat die Menschheit eine neue Richtung: vorwärts, aufwärts, tiefer hinein und höher hinauf, um wieder einmal mit C. S. Lewis zu sprechen.

Und dieses tiefer hinein und höher hinauf ist nun nicht mehr nur individueller moralischer Natur, sondern zeigt eine Entwicklung auf vom Big Bang über den Einzeller zum zukünftigen Menschensohn. Und damit meine ich nicht nur den wiederkehrenden Jesus.

Durch die traditionelle Auslegung der beiden Geschichten als historisch-faktische Beschreibungen des Anfangs und des Endes der Schöpfung in diesem Raum wird die fundamentalistisch-evangelikale Gemeinde und ein Grossteil des übrigen Christentums nicht Treibkraft und Hoffnungsträger dieser Entwicklung, sondern Bremsklotz und Verhinderer.

Um es klar auszudrücken: dieses Christentum verpasst seinen göttlichen Auftrag.

Versteht mich nicht falsch: vieles an der Gemeinde ist positiv, und es gibt eine Zeit und einen Ort für ihre grundsätzliche Art, ihr Menschenbild, ihre Struktur, ihr Wesen.

Gott selbst hat diese Struktur ins Leben gerufen, damit der Mensch eine bestimmte Entwicklungsstufe überhaupt erreichen und durchleben kann.

Das einfache, ja sogar simplizistische Weltbild der Gemeinde ist dafür geeignet, Kinder aus der Trotzphase in einen grösseren Gemeinschaftssinn hinein zu führen. Es ist das, was die Schule heute leistet, vom Kindergarten bis zur Pubertät.

Es ist das, was das Gesetz geleistet hat vom Auszug aus Ägypten bis hin zu Jesus.

Es ist das, was traditionell denkenden Menschen heute Halt gibt und ihnen einfache, verständliche Erklärungen bietet für das, was sie erleben und sehen.

Es ist aber kein Weltbild, das hilft, die heutigen Probleme zu lösen und die nächsten Schritte auf unserem Weg, in unserer Entwicklung zu gehen. Es ist eine notwendige Voraussetzung, genügt aber nicht.

Wie sehr unser Weltbild uns beeinflusst, ist mit jedem Thema sichtbar, dass eine moralische Komponente enthält. Sei es die Ehe für alle, Abtreibung, die Genderpolitik im Allgemeinen, wir reduzieren alles auf richtig oder falsch.

Interessanterweise sollte doch gerade die traditionelle Sicht der Schöpfungsgeschichte uns eines besseren belehren: die Entscheidung für den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse war dort die falsche Entscheidung. Warum nur reduzieren wir die Probleme der Menschheit dann immer noch entlang dieser Dimension?

Jesus selbst lehrt uns, nicht zu richten, nicht in richtig oder falsch zu kategorisieren, sondern in Liebe auf den Menschen einzugehen.

Doch zurück zum neuen Interpretationsansatz: hatte die Schöpfung, hatte die Menschheit den eine Wahl?

Die Schöpfung hat zu jeder Zeit die Wahl. Gott ist das Reservoir der Möglichkeiten, der uns berät und dahin führen möchte, die bestmögliche Wahl zu treffen. Die Schöpfung und damit wir treffen die Wahl und schaffen so eine neue Ausgangssituation für die nächste Wahl, mit neuen Möglichkeiten.

Die Schöpfung hat sich entschieden. Der noch unbewusste Mensch hat die Entscheidung getroffen, sich seiner selbst und seiner Umgebung bewusst zu werden. Jetzt leben wir alle, inklusive Gott, mit dieser Wahl.

Wir wissen nicht, ob andere Wege einfacher gewesen wären, wir wissen nur, dass sie existiert hätten, wie uns die Schöpfungsgeschichte erklärt. Aber wieder einmal möchte ich mit C. S. Lewis antworten: „Frage nie, was wäre wenn.“

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