Was sollen die Begriffe bedeuten: reflexive und restaurierende Nostalgie.
Eigentlich ist es ganz einfach: jemand mit reflexiver Nostalgie denkt über die Vergangenheit nach, schaut gern zurück, erinnert sich gern, weiss aber genau, dass es vorbei ist.
Jemand mit restaurierender Nostalgie hingegen möchte nichts mehr als zurückzukehren, das Alte wieder erhalten.
Nostalgie selbst ist kein anstrebenswerter Zustand. Der Duden definiert sie so:
Nostalgie: vom Unbehagen an der Gegenwart ausgelöste, von unbestimmter Sehnsucht erfüllte Gestimmtheit, die sich in der Rückwendung zu einer vergangenen, in der Vorstellung verklärten Zeit äußert, deren Mode, Kunst, Musik o. Ä. man wieder belebt.
Und doch gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen reflexiver und restaurierender Nostalgie. Restaurierende Nostalgie leidet of unter Realitätsverlust und Abspaltung vom Jetzt.
Während reflexive Nostalgie eine Sehnsucht darstellt, die durch die grundsätzliche Realitätsverbundenheit sogar ein Treiber für die Schaffung und Erhaltung von Neuem, aber grundsätzlich Machbarem sein kann, will die restaurierende Nostalgie nur das Rad der Zeit zurückdrehen und lehnt alle Veränderung ab, ausser sie stellt wieder her, was früher war.
Oft habe ich in meiner Gemeinde gehört, dass Stillstand Rückschritt bedeute. Es gibt bei Gott kein Rückwärts. Jesus selbst sagt, dass, wer die Hand an den Pflug legt und zurückschaut, nicht für das Königreich Gottes gemacht ist.
Und trotzdem wünscht sich die Gemeinde im Allgemeinen nichts mehr als die Rückkehr der früheren Zeit. Einer Zeit, in der Moral noch wichtig war, es noch Werte gab.
Hier begeht die Gemeinde ein paar Denkfehler:
Heute gibt es ebenfalls Werte. Es sind nur nicht die, die wir aus unserer eigenen Weltanschauung heraus als biblisch betrachten. Biblisch, weil sie unserer Auslegung der Schrift entsprechen.
Und zweitens gab es nie ein Zeitalter, in dem die sogenannt biblischen Werte wirklich gelebt wurden. Dieser Gedanke nennt sich Golden Age Fallacy. Die gute, alte Zeit war nie gut, aber eines ist sie: alt.
Leidet die Gemeinde nun an reflexiver oder restaurativer Nostalgie?
Ich denke, dass es beides gibt, und drittens gibt es noch die Gemeinde, die gar nicht nostalgisch ist.
Fundamentalistische Gemeinden tendieren zu restaurativer Nostalgie. Sie wollen zurück in die gute, alte Zeit, und alle notfalls zwingen, die Gesellschaft in diesem Sinne umzubauen.
Doch welche Zeit wäre das? Interessanterweise ist es oft die Zeit der eigenen Jugend, wenn die Familie intakt war, und wenn nicht, ein bis zwei Generationen davor, als dies noch der Fall war. Sicher vor 1968 und der sexuellen Revolution.
Oder es ist, und hier wird es abstrakt, die Zeit der ersten Gemeinde, aber ohne die Annehmlichkeiten der heutigen Zeit loszulassen, und sicher ohne die Verfolgung bis zum Tode?
Mit etwas Geschichtsverständnis wird aber jedem klar, dass die gewählten Zeitabschnitte, ganz gleich, welche es sind, alles andere als perfekt waren, ja wahrscheinlich nicht einmal moralisch besser.
Nehmen wir noch einmal Jesu Wort vom Pflug. Sich zurückzusehnen in eine vergangene Zeit heisst, den Prozess, den Gott mit der Menschheit vor hat, zu untergraben und sich ihm zu verweigern. Gott geht grundsätzlich vorwärts mit uns.
Das können wir auch daran sehen, dass Gott die Zeit als halbe Dimension, die nur in eine Richtung durchlaufen werden kann, geschaffen hat.
Mit der Vergangenheit hat es so etwas an sich: wenn es sich um die eigene Vergangenheit handelt, dann erinnern wir uns nicht daran, wie etwas geschehen ist, ja unsere Erinnerung verändert sich sogar jedes Mal, wenn wir darauf zurückgreifen. Wenn wir mit Nostalgie darauf zurückschauen, wird sich die Erinnerung immer besser und besser, verklärter und verklärter präsentieren.
Bei der Rückerinnerung auf die Zeit unserer Eltern oder Grosseltern multipliziert sich das mit der Anzahl der involvierten Erzähler.
Wenn wir auf irgend eine Epoche in der Weltgeschichte zurückschauen, dann wissen wir viel zu wenig und blenden die wirklich herausfordernden Umstände aus: die Gesundheitszustände, Lebenserwartung, die hygienischen Voraussetzung, die fehlende Bildung und so weiter, von Kriegen und sozialen Ungerechtigkeiten gar nicht zu sprechen.
Von der Vergangenheit zu lernen ist natürlich etwas ganz anderes. Reflexive Nostalgie kann das leisten, aber Nostalgie ist nicht notwendig für den Lernprozess. Vielmehr geht es um Kontext, das Einbetten heutiger Herausforderungen in einen historischen Kontext, das Nichtvergessen der Geschichte, früherer Lösungsansätze und Misserfolge.
Die heutige Lehre in der Gemeinde sieht für die Menschheit keine Entwicklung vor – wir sind und bleiben Sünder, und schon Adam und Eva waren wie wir. Daher gibt es natürlich auch keinen Grund, nicht zurückzugehen. Die Probleme der Menschen, durch die Gemeinde auf das Sündenproblem reduziert, waren dieselben, nur waren wir nicht so abgelenkt und haben noch an etwas geglaubt.
Gott aber ist ein Gott der Generationen. Isaak baut auf dem auf, was Abraham gelernt hat. Und da Jakob vieles mit der Muttermilch ausgesogen hat, kann auch er wieder weiter gehen.
Bleiben gewisse Probleme die gleichen? Aber natürlich. Ansonsten hätte die Bibel keinen Wert, denn sie könnte uns keine archetypischen Verhaltensweisen und unseren Umgang damit aufzeigen.
Und gerade die Bibel zeigt uns auf, dass gewisse Weltanschauungen und Lösungsansätze sich verändern, kam doch Jesus als die Zeit gekommen war: der Mensch war bereit, ein neues Entwicklungsziel vor Augen gesetzt zu bekommen. An die Stelle von Gehorsam gegenüber einem Gesetz auf Steintafeln trat die Eigenverantwortung, Gnade und Vergebung.
Doch die Gemeinde schliesst gerne einen Kompromiss: wir haben uns entwickelt, bis Jesus. Seither bleibt alles beim Alten. Darum auch der Aufruf: zurück zum Kreuz. WWJD – what would Jesus do?
Jesus lebte in einer bestimmten Zeit und reagierte auf diese Zeit. Er forderte die Menschen damals auch manchmal heraus, ja überforderte sie mit Konzepten, die sie noch gar nicht begreifen konnten, aber in Massen, um sie auf eine Wurfbahn zu bringen, eine Entwicklung einzuleiten, die uns dahin gebracht haben, wo wir heute sind: die liberale Inklusivität denkt nur das Verhalten Jesu gegenüber dem Fremden weiter, sei es im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, die Begegnung mit der sido-phönizischen Frau, oder die vielen Essen mit Sündern und Ausgestossenen.
WWJD funktioniert nur, wenn wir die Geschichten archetypisch verstehen. Wer ist heute unser Samariter, unsere sido-phönizische Frau, unser Sünder und Ausgestossener? Oder gar der Andersdenkende?
Jörg Zink sagt in seinem Buch Gotteswahrnehmungen Folgendes:
Inzwischen sind wir längst in eine andere Epoche eingetreten. Soll es für unsere Kirche heute und morgen noch etwas anderes geben als ihr Beharren auf dem gegenwärtigen Stand ihres Nachdenkens und ihr allmähliches Absinken in die Bedeutungslosigkeit, so wird sie dem, was sich heute abspielt, anders begegnen müssen als bisher.
Anders ausgedrückt: erst wenn sich die Gemeinde aus der restaurierenden Nostalgie befreit, wird sie wieder bedeutungsvoll und weltverändernd, zum Träger des Auftrages Gottes.