Ich habe ein neues Wort gelernt: Parakosmos.
Wikipedia (aus dem Englischen) definiert es so:
Einfach ausgedrückt, ist ein Parakosmos eine detaillierte, imaginäre Welt, die typischerweise in der Kindheit erfunden wurde und im Laufe der Zeit im Geist ihres Schöpfers lebt und wächst.
Wir kennen die Parakosmen verschiedener Personen, wie z.B. J.R.R. Tolkiens Mittelerde, C.S. Lewis‘ Narnia oder die Matrix aus den entsprechenden Filmen.
Mein Parakosmos ist eine Welt rund um ein Kloster mit einer riesigen Klosterbibliothek, in der ich neue Parakosmen entwickeln kann.
Es gibt aber einen wesentlich grösseren Parakosmos: die Welt Gottes. Gott umschliesst den Kosmos vollständig, ist aber so viel mehr.
Vielleicht kommt unser Drang, Parakosmen zu entwickeln, gerade daher: wir wissen, dass diese Wirklichkeit nicht alles sein kann.
Wie sagt es Hermann Hesse:
Ich finde die Wirklichkeit ist das, worum man sich am wenigsten zu kümmern braucht, denn sie ist, lästig genug, ja immerzu vorhanden, während schönere und nötigere Dinge unsere Aufmerksamkeit und Sorge fordern.
Doch gehen wir einen Schritt zurück:
Nicht jeder hat den Wunsch, einen Parakosmos zu entwickeln. Die meisten Menschen sind zufrieden mit der Wirklichkeit. Mit Elan stürzen sie sich in das Leben, das sie als real empfinden. Oder sie haben genug damit, sich dieser Realität zu stellen.
Doch wie steht es um die, welche in dieser Realität keinen Platz finden?
Intuitive kreative Menschen zum Beispiel. Menschen, die alles hinterfragen, die sich nicht mit der erst besten Antwort zufrieden geben. Menschen, die einen starken inneren Drang nach Authentizität haben?
Wir finden diese Menschen in den heutigen Kategorien Hochbegabt, Hochsensibel, Künstler, aber leider viel zu oft auch in den pathologischen Kategorien der Psychiatrie.
Ein Parakosmos kann zweierlei sein: eine Weltflucht oder ein Blick hinter die Kulissen. Hermann Hesse meint Zweiteres, wenn er von schöneren und nötigeren Dingen spricht, die unsere Aufmerksamkeit und Sorge fordern.
Während die meisten Christen Mittelerde als Weltflucht, den Glauben aber als Blick hinter die Kulisse definieren würden, leben sie genau das Gegenteil.
Die Abschottung der meisten Christen in Kirchengebäuden, die Verweigerung, an grossen Teilen der kulturellen Wirklichkeit teilzunehmen, das Vokabular, das die Welt in zwei Lager der Geretteten und Verlorenen unterteilt, aber vor allem die Doktrin, dass wir in den Himmel kommen und dass Jesus bei seiner Wiederkunft Gerechtigkeit herstellen wird, ist eher der Wunsch nach Weltflucht als ein Blick hinter die Kulissen.
Das drückt sich aus im sehnsüchtigen Warten auf das Ende dieser Welt. Das kann im Moment wieder festgestellt werden: die Impfung als Zeichen des Antichristen, die Pandemie als Beginn der Endzeit.
Aber wie kommt man dazu, einen solchen Parakosmos überhaupt zu entwickeln?
Ja, es gibt diejenigen, welche sich aus Furcht vor der realen Welt in eine Fantasiewelt zurückziehen. Aber viel öfter geht es darum, dass sie wahrnehmen, dass es mehr geben muss als die jeweilige Kultur, in der sie leben, als die Werte, die ihnen gelehrt werden.
Der einfache Weg aus diesem Dilemma ist die Annahme, dass die reale Welt zweigeteilt sei: eine Minderheit, welche der Mehrheit etwas vorspielt und sie manipuliert.
Basierend auf tatsächlich vorkommenden Verschwörungen wird ein Szenario entworfen, wie wir es tausendfach in gerade dieser Zeit erfahren: die Menschen mistrauen der herrschenden Kultur mit ihrer Hierarchie und Werten so sehr, dass sie alles glauben, was aus anderen Quellen stammt.
Es gibt ja nur richtig oder falsch, und die herrschende Hierarchie ist mit Sicherheit falsch, weil sie sich an ihrer Macht festklammern will. Dies erreicht sie nur dadurch, dass sie uns die Wahrheit verschweigt.
Und so werden die abstrusesten Verschwörungstheorien geboren. Einzige Legitimation: der, der sie entwickelt, ist ausserhalb der herrschenden Hierarchie, also muss er die Wahrheit sagen.
Im Grunde genommen ist die Matrix genau so ein Parakosmos: die Herrschaft der Maschinen über die Menschheit.
Doch es gibt auch andere Parakosmen. Parakosmen, bei denen nicht die Befreiung von Unterdrückung im Zentrum steht, sondern ein Idealbild uns zur weiteren Entwicklung unserer selbst animiert.
Mittelerde zum Beispiel, oder die Bibel sind archetypische Geschichten, welche durch eine gewisse Distanz einen Blick auf die Realität erlauben, ohne uns zu nahe zu treten.
Parakosmen also, welche es uns erlauben, den Sinn der Realität zu erhaschen, wo dieser Sinn zu komplex ist, um ihn im täglichen Leben zu erkennen, oder uns auf unsere Schattenseiten aufmerksam zu machen, ohne sie direkt ansprechen zu müssen.
So zeigt uns die Welt der Bibel nicht, wie die Realität sein muss, sondern wie sie ganz tief in ihrem Innersten ist. Es geht nicht um Regeln, um etwas zu erreichen, sondern um Prinzipien, um etwas zu verstehen.
Facebook und Microsoft möchten einen solchen Parakosmos erschaffen, das Metaverse. Die Beschreibungen, welche wir davon haben, lassen uns aber erahnen, dass es sich dabei mehr um eine Augmented Reality handeln soll (nicht nur im technischen Sinne). Ein Abbild der Realität mit gewissen Änderungen, wo ich mich z.B. als Avatar geben kann, wie ich will, um das zu tun, was wir schon in dieser Welt tun: konsumieren und Geheimnisse über uns preisgeben.
Ein Parakosmos ist für mich allerdings ein Platz, an dem ich verstehen lerne, nicht ein Ort, an dem ich tue, was ich in der Realität tun könnte, nur mehr, schneller, einsamer.
Auf eine ganz praktische Art hilft ein Parakosmos bei der persönlichen Entwicklung. Sei es das ideale Selbstbild, das mich zur Veränderung motiviert und durch die fünf Ebenen der positiven Desintegration führt, oder das grössere Bild der rechten Hirnhälfte, welches sozusagen als alternatives Bewusstsein eine bessere Erklärung der Welt schafft, oder das nächste Wertemem von Spiral Dynamics. Oder unsere ganz persönliche Fantasiewelt.
Oft erscheint uns der Wunsch, Elemente unseres Parakosmos in der Realität zu integrieren, oder gar unser Verständnis der Welt entsprechend anzupassen, als weltfremde Fantasterei – bis es jemand tut.
Leider ist es so, dass der Parakosmos schlechthin, das Reich Gottes, mit seinem Erzählbuch, der Bibel, nicht in diese Richtung angewandt wird, sondern mit den Regeln dieser Welt erklärt werden soll.
Natürlich wird jetzt jeder Christ aufschreien: das tun wir gerade nicht. Wir wollen ja, dass sich alle anders benehmen, als es im Moment geschieht, als es die Welt (sprich die anderen) jetzt tun.
Das ist richtig, aber das Modell, welches verwendet wird, ist eine mit den moralischen Vorstellungen der traditionellen Weltanschauung idealisierte Realität durch die Sicht der Erkenntnis von Gut und Böse. Die Realität ist eine Wirklichkeit, verstanden durch die Polarisierung, die Kategorisierung. Und so interpretieren wir die Bibel als Massstab im Sinne eines Gesetzeswerkes, einer Verfassung, einer Regelsammlung, entlang derer wir die Welt kategorisieren.
Kurz gesagt, wir wenden die Regeln der Realität auf den Parakosmos an.
Parakosmen helfen uns, die Regeln dieser Realität zu sprengen. Unsere eigenen Parakosmen sind ein Übungsfeld, damit wir immer wieder die Regeln und unsere Sicht auf diese Welt anpassen und sprengen können.
Hast Du einen Parakosmos?