Wie schnell wir vergessen

Lesedauer 3 Minuten

Ich bin im Vorstand eines Vereins, und der hielt gerade seinen grössten Anlass des Jahres ab. Leider konnte ich an dieser Sommerkonferenz nicht teilnehmen.

Vielleicht ist das aber auch gut so. Bereits am Abend nach den drei Tagen wurde klar: es gab ein paar Ansteckungen mit Covid. Wie viele es sind, können wir natürlich noch nicht sagen.

Covid? Da war doch mal was.

Die momentane Situation lässt mich staunen, erinnert mich aber auch wieder daran, wie wenig multitasking-fähig wir sind.

Wir wünschen uns die Pandemie weg, und als der Krieg in der Ukraine ausbrach, hatten wir etwas Neues, das unsere volle Aufmerksamkeit brauchte. Vergessen war die Krankheit, und wenn sie doch immer wieder am Rande auftaucht – eine Sommerwelle, neue Varianten, Warnungen des vorsichtigen Gesundheitsministers unseres grossen Nachbarn -, dann reagieren wir … nicht.

Ich durfte in letzter Zeit an ein paar Anlässen dabei sein, sei es ein Konzert, der Geburtstag meines Sohnes oder ein Fest für 200 freiwillige und bezahlte Mitarbeiter einer Kirche.

Nirgendwo war Corona ein Thema.

Vergessen ist eine wunderbare Eigenschaft, ein Vorrecht von uns Menschen. Vergessen ist nämlich dann möglich, wenn man sich Dinge überhaupt bewusst merken kann.

Vergessen schafft Raum für Neues, hilft uns aber auch, nach negativen Erlebnissen zu heilen.

Vergessen ist ein zweischneidiges Schwert. Es kann uns helfen, mit Veränderung umzugehen, oder es kann Veränderung blockieren. Dasselbe gilt natürlich auch für das Erinnern.

Als Corona kam, war ich sehr hoffnungsvoll, ohne natürlich das Leid zu vergessen, das mit dieser Krankheit einher ging. Aber ich sah die Möglichkeiten, die sich boten.

Leider verändern wir Menschen uns im Allgemeinen nur, wenn wir dazu gezwungen werden. Die Voraussetzungen waren – und sind – gut.

Wir haben einen Kulturkrieg in den USA und England, der langsam auf Europa übergreift und der die Kommunikation ganzer Teile der Bevölkerung verunmöglicht. Wie bei der Geschichte vom Turmbau zu Babel sprechen sie keine gemeinsame Sprache mehr, unterstützt von – und das ist fast schon ironisch – den modernsten Kommunikationsmitteln, die der Menschheit je zur Verfügung standen.

Wir haben eine Pandemie. Das erinnert mich an die Reformation, die begleitet war von einer Pest.

Und die Parallele geht weiter: auch zur Zeit der Reformation folgte ein Krieg.

Zusätzlich haben wir den Klimawandel, ein weiteres Problem, das wir schon fast vergessen haben. Der Krieg zwingt uns sogar, zu tun, was wir eigentlich vermeiden wollen: die Atmosphäre noch mehr zu belasten.

So rund um die Reformation war schon einmal ein Klimaphänomen zu beobachten: die kleine Eiszeit.

Die Parallelität ist verblüffend. Auch zur Zeit um die beiden Weltkriege, mit der spanischen Grippe und dem Anfang einer neuen Weltanschauung.

Die Reformation steht am Anfang der Moderne, die Weltkriege am Anfang der Postmoderne. Was geschieht den nun?

Es gibt noch viele solche Konstellationen, die nicht zu einem Umdenken von Teilen der Gesellschaft geführt haben. Schaffen wir es diesmal, einen weiteren Schritt zu machen, oder bleiben wir stehen, weil wir vergessen und zurück zum alten Normalen wollen? Oder fallen wir sogar zurück, weil wir nicht mehr miteinander können?

Unser momentanes Verhalten zeigt eher Richtung Rückschritt. Wir packen unser Kriegerdenken aus, sei es im Kampf zwischen Weltanschauungen, oder im Ukrainekrieg.

Wir negieren die Pandemie und den Klimawandel und wünschen uns nichts mehr als einfach unser Leben leben zu dürfen. Doch, eines vielleicht: dass alle Andersdenkenden doch endlich begreifen würden, dass unsere Art zu denken die Lösung bringen wird.

Traditionell Evangelikale vertrauen darauf, dass Jesus zurückkehrt und die Lösung bringt und hoffen, dass möglichst viele noch ihren Glauben annehmen.

Moderne Menschen setzen auf Technologie: Elektrofahrzeuge, eine multiplanetarische Gesellschaft, Extraktion von CO2 aus der Luft. Wenn nur nicht alle anderen dem Fortschritt im Wege stünden.

Und die Postmodernen sehen die Lösung in neuen Gesellschaftsformen und im Verzicht, bis die Realpolitik etwas anderes fordert.

Das zeigt sich im Kleinen: man möchte sich wieder treffen, und darum vergisst man die einfachsten Regeln der Pandemie: Handschlag und Umarmung sind zurück, die Maske ist weg, der Abstand wird nicht mehr eingehalten. Vergessen und verdrängt.

Und das zeigt sich im Grossen: um ja nicht verzichten zu müssen, wird Benzin subventioniert, Kohlekraftwerke werden hochgefahren. Mindestabstände bei Windrädern ins Gesetz geschrieben.

Wenn Krieg, Pandemie, Kulturkampf und Klimawandel nicht reichen, um uns zum Umdenken zu bewegen, was hilft dann?

Beitrag veröffentlicht

in

von