Links und Rechts

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Schließlich kamen sie an einen Ort, der Schädelstätte heisst. Dort wurden alle drei gekreuzigt – Jesus in der Mitte und die zwei Verbrecher rechts und links von ihm.

Luk 23:33

Wie manche von Euch wissen, habe ich ein Buch geschrieben. Die ungefilterten Gedanken eines Pastors im Exil. Der Untertitel lautet: Werkzeuge für eine erfolgreiche Dekonstruktion des Glaubens ohne ihn aufzugeben.

Ich habe noch ein Werkzeug, das ich in dem Buch noch nicht verarbeitet habe. Es ist die Erkenntnis, die Iain McGilchrist bei der Untersuchung der interessanterweise nicht symmetrischen Hirnhälften erlangt hat.

Es ist nicht nur unser Hirn, sondern jedes einzelne Hirn, das uns bekannt ist, bei welchem sich die rechte von der linken Hirnhälfte rein von der Form her unterscheidet.

Doch auch die Frage ist interessant, warum wir überhaupt zwei Hirnhälften haben. Einen Aufschluss dafür gewinnen wir bei der Vogelbeobachtung.

Bei Vögeln ist die linke Hirnhälfte für das rechte Auge zuständig, und die rechte für das linke Auge. Das ist bei uns nicht mehr so, auch wenn im Allgemeinen die linke Hirnhälfte die rechte Körperseite steuert und umgekehrt.

Wir können also bei den Vögeln etwas in Reinform beobachten, was uns beim Menschen verwehrt bleibt.

Vögel verwenden das rechte Auge für die Nahrungssuche. Die linke Hirnhälfte erlaubt es also, gezielt Mustererkennung im Detail, in der engen Fokussierung zu machen.

Das linke Auge, und damit die rechte Hirnhälfte, hat eine ganz andere Aufgabe. Es beobachtet die Umgebung, um Freund oder Feind zu entdecken.

Das eine fokussiert sich auf das Erwartete, Gesuchte, das andere auf das Unerwartete.

Untersuchungen mit Menschen, die aufgrund von Krankheit oder Unfall Ausfälle in einer der beiden Hirnhälften haben, zeigten Ähnliches für den Menschen.

Es scheint, als ob zwei unterschiedliche Formen des Bewusstseins in uns leben.

Die linke Hirnhälfte erstellt eine Karte der Realität und orientiert sich daran. Dies erlaubt es uns, die Umwelt zu manipulieren, von einfachen Aktionen, wie ein Buch aus dem Regal zu nehmen, bis hin zur Manipulation im übertragenen Sinne. Diese Hirnhälfte hat auch das Ausdrucksmittel der gesprochenen Sprache zur Verfügung.

Die rechte Hirnhälfte denkt nicht in Sprache, in Details, will nicht teilen und herrschen, sondern konzentriert sich auf das grössere Bild. Hier finden wir die Intuition, die Vorstellungskraft, das ganzheitliche Denken.

Um der Vollständigkeit willen: viele Hirnfunktionen sind natürlich über beide Hälften verteilt.

Für das tiefe Verstehen ist es nun notwendig, dass beide Hälften zusammenarbeiten. Rechts erhascht, links ordnet ein im Bekannten und erkennt, und rechts versteht den grösseren Sinn, damit links wiederum handeln kann.

Oft überspringen wir in unserer analytischen Gesellschaft den dritten Schritt: links weigert sich, rechts noch einmal einzubeziehen, und handelt sofort.

Mit diesem Basisverständnis möchte ich nun zurück zu dieser Szene auf Golgatha, der Schädelstätte.

Warum überhaupt Schädelstätte? Könnte es sein, dass es beim Tod Jesu auch um unser Denken geht, um unsere Weltvorstellung?

Die beiden Diebe links und rechts sind für mich Metaphern für unsere beiden Hirnhälften.

Der Eine sieht die weltliche, detaillierte Realität und verspottet Jesus, wie es auch die meisten um ihn herum tun. Auch am Kreuz kann er sich noch nicht von seiner integrierten, von anderen abhängigen, kleinlichen Weltanschauung lösen.

Der Andere erkennt das grössere Bild, nimmt ganzheitlich wahr. Er erkennt, was er selbst ist, wer Jesus ist, und handelt entsprechend.

Und Jesus holt ihn da ab, wo der Dieb sich befindet. In seinem Weltbild ist das Paradies das nächste Ziel.

Der Dieb hat eine Vision, erkennt das ganze Bild, aber er hat nicht die Sprache dafür, weil seine Weltanschauung diese noch nicht entwickelt hat. Und so spielt sich der nachfolgende Dialog in der Weltanschauung ab, zu der der Dieb fähig ist.

Die linke Hirnhälfte hat sich nun entschieden, daraus eine Karte anzulegen:

Nach dem Tod kommt das Paradies, und zwar sofort, denn „noch heute wirst Du mit mir im Paradies sein“.

Dieses Paradies wird oft mit dem Schoss Abrahams in Verbindung gebracht, denn Jesus ging an dem Tag nicht in den Himmel, sondern ins Grab, in die Unterwelt.

Ist das Paradies ein Übergangsort, ein Seelenschlaf, oder doch der Himmel?

Diese Detailfragen werden für die linke Hirnhälfte wichtig, und sie muss sich für eine Variante entscheiden, oder sich verweigern und darauf hinweisen, dass wir es nicht wissen. Oft wird die Variante, für die man sich entschieden hat, dann verteidigt, aber auch für die Erklärung theologischer Prinzipien herangezogen.

Wir verbleiben in der linken Hirnhälfte und verwechseln die Karte mit der Realität.

Wir machen grundsätzliche Denkfehler, wie der Dieb zu Jesu linken Seite:

  • Jesus wird gekreuzigt. Das muss heissen, dass er etwas Schlimmes angestellt hat.
  • Jesus behauptet, er sei Gottes Sohn, scheint jetzt aber ohnmächtig zu sein. Er muss also gelogen haben oder grössenwahnsinning sein, und verdient daher Spott.

Die beiden Gedanken kommen aus einem falschen Verständnis von Gut und Böse, der Unfähigkeit, Paradoxa zu erkennen und zu ertragen, und dem Unwillen, das grössere Bild zu sehen.

Nicht jeder, dem etwas Schlimmes geschieht, hat Schuld auf sich geladen.

Und nicht jeder, der ohnmächtig scheint, ist es auch.

Weil wir uns auf unsere linke Hirnhälfte verlassen, geschehen uns viele solche Denkfehler.

Der Schlimmste aber ist, dass wir an unserer Karte festhalten. „Es steht geschrieben“, „alle denken so“, „wir haben das schon immer so getan“, „wer bist Du, dass Du denkst, es besser zu wissen“. Überlege, welche Aussagen in diese Richtung Du schon gemacht hast.

Zurück zum Dieb zu Jesu Rechten.

Es genügt nicht, die Situation nur mit der linken Hirnhälfte zu analysieren und zu sagen: „Wenn ich nur glaube, was in der Bibel steht, dann komme ich auch ins Paradies.“

Es geht vielmehr darum, in allen, selbst den schlimmsten Situationen das grössere Bild zu sehen, das Unerwartete zu erkennen, intuitiv die tiefere Wahrheit zu erkennen.

Paulus sagt uns, dass diese Wahrheit nicht in der Bibel liegt, denn das Geschriebene tötet. Jesus sagt uns, dass wir die Bibel durchforsten, ja täglich darin lesen können, und doch nicht erkennen, dass sie von ihm spricht. Es ist der Geist, der uns das zeigt. Es ist die rechte Hirnhälfte, die das Unerwartete erwartet, die das wahrnimmt.

Aber ich gehe noch weiter:

Was hilft es mir, zu erkennen, dass die ganze Bibel von Jesus spricht? Das gibt mir nur wieder eine Karte, an der ich mich dann fast sklavisch orientiere. So sein wie Jesus. WWJD.

Die ganze Bibel spricht von mir. Das hat Jesus erkannt. Das darf ich erkennen: von mir!

Anfangs wird mir das helfen, mich selbst, Jesus und Gott besser kennen zu lernen. Doch dann werde ich tun, was Jesus tat.

Jesus sagte nicht: „Ich tue nur, was geschrieben steht.“ Er sagte: „Ich tue, was ich den Vater im Himmel tun sehe.“

Jesus löste sich von der Schrift und lebte eine Beziehung. Er löste sich vom Erwarteten und erwartete auch das Unerwartete.

Beim Fokussieren auf das Erwartete, wie es die linke Hirnhälfte tut, finden wir auch nur das Bekannte, Erwartete. Da ist kein Wachstum, da ist nur Überleben.

Im Fragen, Suchen, Anklopfen hingegen, im Erwarten des Unerwarteten liegt Wachstum, ja liegt das Paradies.

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