Prägung und existenzielle Kompetenz

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Einstein und von Neumann hatten Kindermädchen, die hervorragend waren in Mathematik. Darum hatten beide Männer bereits gewisse Denkmuster verinnerlicht, als sie in den Kindergarten kamen.

Einstein hatte es nicht einfach im normalen Schulunterricht, weil er unterfordert war durch die durchschnittlichen Lehrer und einfachen Denkmustern. Seine Noten aber waren hervorragend–ausser in Französisch, was ich nachvollziehen kann.

Fast alle herausragenden Mathematiker wurden von herausragenden Mathematikern ausgebildet.

Ich sehe hier ein Muster. Könnte es in der Gemeinde gleich laufen?

Menschen mit einer hohen existenziellen Kompetenz, Menschen also, die begreifen, wie diese Welt funktioniert, die geistliche Muster erkennen können, profitieren davon, von Menschen mit einer hohen existenziellen Kompetenz betreut zu werden.

Es ist wichtig, die Denk-, Fühl- und Handlungsmuster zu beobachten und zu erleben, die in uns potenziell angelegt sind. So können sie sich am Beispiel nähren und entfalten.

Die jüdische Kultur hat im Bereich Bildung einen Vorsprung gegenüber allen anderen Kulturen. Sowohl die durchschnittliche als auch die Mindestausbildung, ja die ganze Gauss’sche Glockenkurve ist gegenüber anderen Kulturen versetzt. So brachte diese Kultur auch die anteilig meisten Nobelpreisträger hervor.

Und genau um diese Denkmuster und Prägungen geht es auch beim Glauben. Wie sagt es schon Paulus in Römer 12:2?

Verändert euer Denken!

Ist es wichtig, dass Kinder in die Sonntagsschule gehen? Nur, wenn ihnen da wirklich Glauben und existenzielle Kompetenz vorgelebt wird. Nur, wenn sie gelehrt werden, so zu denken, zu fühlen und zu handeln. Nicht, wenn ihnen da nur biblische Geschichten dargeboten werden und sie ein sicheres Umfeld mit anderen christlichen Kindern haben.

Allerdings ist das viel zu wenig. Ein bis zwei Stunden pro Woche sind selbst bei der besten Sonntagsschule einfach ein Tropfen auf einen heissen Stein.

Und unsere heutige Ausrichtung in der Gemeinde auf einen bekannten, von aussen durch die Bibel und die Pastoren vorgegebenen Lebensentwurf ist das Gegenteil von existenzieller Kompetenz.

Wäre das nicht der Fall, hätten wir Gemeinden voller selbstverwalteter, selbstständiger Menschen, die nicht abhängig wären von einem Pastor, um eine Beziehung mit Gott zu haben, die Bibel zu verstehen, und ein Gemeinschaftsleben zu organisieren.

Wir würden Gemeinde leben, ja sein, statt in eine Gemeinde zu gehen. Und nein, die rhetorische Aussage, wir seien die Gemeinde, genügt nicht. Leben wir es auch? Und damit meine ich nicht Evangelisation, gutes Benehmen, Gastfreundschaft, Freundlichkeit und moralische Erwartungen.

Wenn wir uns in unseren Gemeinden umsehen, begegnen uns heute zur Hauptsache Menschen, die ihre existenzielle Kompetenz delegiert haben und sich damit begnügen, einen fremden, von ihnen erwarteten Lebensentwurf zu leben, gestört nur durch ihre eigenen niederen Bedürfnisse.

Letzteres bestätigt das Prinzip, die Art und Weise, wie wir Gemeinde leben: Offensichtlich sind die Menschen nicht in der Lage, ihre niederen Bedürfnisse und Triebe, ihre Natur in Zaum zu halten.

Wir definieren dies dann mit der Interaktion teuflischer Verführung mit schwachem Fleisch und proklamieren vorgefertigte geistliche Übungen als Lösung: regelmässige Gemeindebesuche, Lesen der Bibel, unter das Wort kommen und Predigten hören, mehr beten, Stille Zeit, und das Gehörte im Leben umsetzen.

Wir lehren die Leute, was zu tun ist, und erwarten, dass sie es tun.

Weil aber in diesem System nicht die Menschen leiten, welche selbst eine hohe existenzielle Kompetenz haben, wissen sie auch nicht, wie man die Leute in dieser Kompetenz fördert.

Und so konzentrieren wir uns auf Methoden, Werkzeuge und Regeln, statt zu leben und zu lehren, wie wir lernen und suchen.

Kinder durchschnittlichen Menschen anzuvertrauen, die kulturell dazu gebracht werden, ihnen Methoden, Werkzeuge und Regeln beizubringen, und zu glauben, dass sich hier ein reifer Glaube ergeben wird, ist naiv und fatal.

Was wir viel eher erleben, ist, dass Christen aus diesen Kindern werden, die die Enge von Tradition und richtig und falsch an die nächste Generation unreflektiert weitergeben.

Was es braucht, sind Gemeinschaften, in denen eine offene, tiefe, freie und forschende Beziehung zwischen Gott und den Menschen und zwischen Menschen vorgelebt wird, geprägt durch Vorbilder, die in den verschiedensten Facetten solcher Beziehungsbildung kompetent sind. Oder sagen wir, Menschen, die weise sind.

Gemeinde, die sich wöchentlich trifft, um gemeinsam in eine Richtung zu blicken und den Worten eines durchschnittlich begabten Predigers beim Wiederholen der alten Doktrin zuzuhören, nachdem wir zusammen gesungen haben, leistet das nicht.

Die Kinder einmal in der Woche in eine Kinderstunde zu schicken, in denen sie mit vorgefertigten Programmen die ewig gleichen Geschichten hören und zusammen basteln, leistet das nicht.

In der eigenen Familie diesen Glauben, diese Suche nach dem ewig Neuen und dem ewig Vertrauten jenseits von einfachen Regeln und Methoden zu leben, kommt dem schon näher.

Die Kinder zu fördern, selbst zu suchen, selbst diese Beziehung zu formen, selbst sich auszustrecken nach dem Etwas in ihrem Leben, das ihnen einen transzendenten Sinn gibt, ihnen zu zeigen, wie sie Gott finden, statt wie sie Gott gefallen, ist ein wichtiger erster Schritt.

Wir tun übrigens dasselbe in allen Lebensbereichen. Die Schule bringt unseren Schülern eine Menge von Fakten bei, aber sie lehrt sie nicht, zu lernen und neugierig zu sein. Im Gegenteil. Es kann gezeigt werden, dass unser Schulsystem die Kreativität und den Forschergeist in unseren Kindern erfolgreich in den ersten Jahren abtötet.

Wenn ich hier keine Patentrezepte habe, wie dies in der Gemeinschaft der Gemeinde auszusehen hätte, dann aus zwei Gründen: Wir sind so geprägt, dass wir es nicht wissen, ja nicht einmal zulassen können, denn es widerspräche unserer regelbasierten Vorstellung eines christlichen Lebens, und die Art und Weise der Umsetzung wird sich von Gemeinde zu Gemeinde, von Mensch zu Mensch unterscheiden.

Es gibt nicht umsonst so wenig Einsteine. Von den 0,2 % hoch, aussergewöhnlich und profund Begabten hatten die wenigsten ein Kindermädchen, das selbst in diese Kategorie gehörte. Vielen wurde die Neugier abtrainiert, sie wurden domestiziert, entmutigt, eingesperrt in Tradition, Doktrin und Fakten, und erreichten so ihr Potenzial nicht.

Genauso ist es im Bereich der existenziellen Kompetenz. Die Tradition, welche als eine der Voraussetzungen für eine neugierige Reise ins Unbekannte eine wichtige Rolle spielt, wurde zur Verhinderin genau dieser Reise.

Das zeigt übrigens schon die Wortwahl. Neugier ist ganz sicher kein positiv besetztes Wort. Es ist die Gier nach Neuem, und Gier ist eine Sünde, gehört sogar zu den sieben Todsünden.

Im Englischen und Französischen ist es nicht besser. Curious und curieux stammen beide vom Wort Cura (Heilung) ab, als ob da etwas kuriert werden müsste, und bezeichnen neben der Neugier auch Dinge wie bizarr, lustig, fremd, im Französischen sogar indiskret.

Wir sehen, dass Menschen, die auf der Suche sind und sich nach mehr sehnen, von unseren Kulturen als fremdartig, drollig, bizarr oder als gierig betrachtet werden. Ganz sicher sind sie ausserhalb der Norm.

Wir sehen das in unserer Theologie. Das Thompson Kettenverzeichnis listet hauptsächlich Verse mit negativen Folgen von Neugier auf. Dies vor allem, weil das Wort für Begehren, Begierde mit Neugier gleichgesetzt wird. Hier sehen wir den deutschen Einfluss auf die Theologie durch Luther.

Die jüdische Kultur sieht dies anders. Neugier ist eine Tugend im Jüdischen. Darum weichen sie positiv von anderen Kulturen ab, was intellektuelle Neugier und intellektuellen Erfolg angeht.

Neugierig im Hebräischen würde besser mit inquisitiv übersetzt. Inquisitiv heisst nach etwas suchen, etwas untersuchen, Fragen stellen. Vergessen wir für den Moment den schlechten Beigeschmack, den das Wort durch die Inquisition erhalten hat.

Jesus sagt uns: „Wer sucht, der findet.“ Neugier ist ein essenzieller Bestandteil unseres Glaubens.

Und leider ist sie weitestgehend tot. Ist das der Grund, warum sich Jesus fragt, ob er noch Glauben finden wird, wenn er zurückkehrt?

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