Hochbegabt und Christ

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Ja, das gibt es: hochbegabte Menschen, und sie können sogar eine Beziehung zu Gott haben.

Aber hat die Bibel über sie nicht folgendes gesagt?

Wo bleiben da die Weisen, die Schriftgelehrten, die glänzenden Redner? Gott hat sie zu Narren gemacht und ihre Weisheit als nutzlosen Unsinn entlarvt. (1. Korinther 1:20)

Wo sind die Sophos, Graphos und Suzetetes? Die sich weise nennen, die Schreiber und Debattierer?

Der Brief des Paulus geht an die Korinther. Das waren Griechen. Paulus bediente sich immer Bilder, die seine Leser verstehen konnten. Es geht hier also nicht um die Pharisäer, die Schriftgelehrten und die Rabbis, wie so oft vorgeschlagen.

Viel eher geht es um die Philosophen, die Gelehrten und die Sophisten der Griechen. Es geht auch nicht primär um die Menschen in der Gemeinde, obwohl wir von manchen Theologen, Schriftstellern und Apologeten oft dasselbe sagen könnten:

Obwohl die Welt von der Weisheit Gottes durchdrungen ist, konnten sie ihn durch ihre Weisheit nicht finden. (1. Korinther 1:21a)

Und obwohl das so ist, habe ich es oft erleben müssen, dass diese Verse als Waffe gegen intelligente Menschen in der Gemeinde verwendet wurden.

Im alten Griechenland hätte man mich wohl als Suzetetes bezeichnet, als einer, der ständig Fragen stellt und vieles hinterfragt. Auch einer guten Debatte gehe ich nicht aus dem Weg.

Die Antwort, die ich meist bekam, war eine von zweien:

„Gott hat uns nicht gebeten, das zu verstehen, er hat uns befohlen, das zu glauben.“

Die Zweite?

„Es steht geschrieben.“

Dieser Aussage folgten ein paar Verse mit der gemeindekonformen Auslegung, welche dann bewies, dass der Fragende falsch lag. Alternative Auslegungen gab es nicht, denn so wurde das Gegenüber gelehrt und Verwirrung verhindert.

Doch sagen diese Verse nichts über Intelligenz aus, höchstens über deren Verwendung. Intelligenz kommt in der Bibel nicht vor, jedenfalls nicht in Reinform. Weisheit ist etwas anderes.

Gehen wir also für den Moment davon aus, dass es in der Gemeinde intelligente Personen geben kann.

Was aber ist Hochbegabung?

In den letzten Jahrzehnten wurde der Intelligenzbegriff auf verschiedene Gebiete ausgeweitet. Er gilt nicht mehr nur im intellektuellen Bereich, sondern es gibt emotionale, kreative, sensorische, physische und existenzielle Intelligenz.

Ich benenne diese Bereiche lieber mit dem Begriff Kompetenz, weil Intelligenz sehr stark mit der intellektuellen Kompetenz verhaftet ist.

In all diesen Bereichen gibt es Menschen, die eher unbedarft durchs Leben gehen: Ich selbst bin staksig und absolut sport-avers. Meine physische Kompetenz ist sehr unterdurchschnittlich, was man von einem Hochleistungssportler sicher nicht sagen kann.

Ausgehend von der intellektuellen Intelligenz wurden nun grobe Kategorien geschaffen. Die reichen von eher unbegabt über normal begabt, milde, moderat, hoch, aussergewöhnlich bis zu profund.

Wir könnten den einzelnen Kategorien für die intellektuelle Intelligenz jetzt IQ-Bereiche zuordnen, aber ich lass das für den Moment, denn für die anderen Kompetenzen gibt es keine solch genaue Metrik.

Wichtig aber ist, dass die meisten Menschen linear denken, also Schritt für Schritt vorgehen. Mild und moderat begabte Menschen fassen mehrere Schritte zusammen und überspringen gewisse davon. Man sagt dem „skip thinking“. Ab der Hochbegabung allerdings wird nicht nur schneller, sondern qualitativ anders gedacht.

Man nennt das „Meta-Denken“. Hier eine Definition von Jennifer Harvey Sallin von InterGifted:

Meta-Denken besteht darin, einfache Muster in komplexen Informationen zu finden, Beziehungen zwischen verschiedenen, scheinbar unzusammenhängenden Aspekten zu erkennen und logische Diskrepanzen und praktische Probleme auf nichtlineare Weise zu entdecken und kreativ zu lösen.

Beim Meta-Denken kann man über das eigene Denken nachdenken, über die Art und Weise, wie man lernt, weiss, sich erinnert und versteht, und man kann seine Gedanken auf das „grosse Ganze“ oder auf „nicht-lineare“ Visionen und Erkenntnisse anwenden.

Ungefähr ein Hundertstel der Bevölkerung sind intellektuelle Meta-Denker.

Ähnliche Kategorien gibt es für alle Kompetenzen, auch wenn sie von der Wissenschaft noch nicht so exakt erforscht wurden.

Interessant für die Gemeinde ist vor allem auch die existenzielle Kompetenz. Sie umfasst die Bereiche Sinn, Werte, Ethik, Moral, ökologische Zusammenhänge und die Natur der Realität.

Abgesehen von den ökologischen Zusammenhängen sind dies genau die Bereiche, mit denen sich Religion und damit auch das Christentum befassen. Sind also alle Christen existenziell begabt? Ist ein Pastor, der in der Bibel, einem komplexen Buch, gewisse Zusammenhänge und Muster entdeckt, also mindestens existenziell hochbegabt, ein existenzieller Meta-Denker?

Leider funktionieren unsere Gemeinden heute nicht so.

Lasst mich das an meiner eigenen Erfahrung deutlich machen: Unser Pastor hatte seine Überzeugungen durch seine Pastoren erhalten. Die Denomination, oder in unserem Fall, das apostolische Netzwerk wusste, wie die Bibel zu verstehen war. Abweichungen waren selten, und noch seltener gern gesehen.

Ein Meta-Denker lässt es zu, vorgefasste Meinungen, auch Lehrmeinungen, zu hinterfragen, denn er weiss, dass die Bibel allein und eine Interpretation der Bibel auf keinen Fall das grosse Ganze darstellt.

Nicht die Bibel ist das Wort Gottes. Gemäss der Bibel ist Christus das Wort Gottes.

Sind dann wenigstens Theologen existenzielle Meta-Denker? Ihr ahnt es schon: in den wenigsten Fällen. Die heutigen theologischen Methoden und die Korsette der allgemein anerkannten Doktrin erlauben es den wenigsten, in diesen Kategorien zu denken.

Im Gegenteil. Die Gemeinde heute scheint sich an Schritt-Denker zu wenden, Menschen, die gern von jemand anderem erfahren, wie die Dinge sich verhalten. Und das umfasst die Lehrer genauso wie die Hörer. Es gibt sogar erschreckende Ergebnisse, die zeigen, dass der durchschnittliche IQ in den Gemeinden und Kirchen niedriger ist als in der Gesamtbevölkerung.

Wie kann eine solche Gemeinschaft die Heimat sein für intellektuelle und existenzielle Meta-Denker? Kurz gesagt, sie kann es nicht, oder nur zum Schaden des hochbegabten Meta-Denkers.

Wir kennen das von introvertierten Personen. Wenn sie sich zu lange an die im Allgemeinen extravertierte Gemeinde anpassen, werden sie krank. Das reicht vom Burn-out über Depressionen bis zu physischen Krankheiten, nämlich dann, wenn der Körper sich meldet und ganz einfach nicht mehr mitmacht.

Die Anzeichen bei Meta-Denkern sind ähnlich. Hier sind es Boreout, Depressionen, Einsamkeit, Rebellion und physische Krankheiten.

Ich selbst bin intellektuell und existenziell hoch+-begabt (hoch+ bedeutet im Bereich von hoch, aussergewöhnlich oder profund).

Lange Zeit versuchte ich, die fehlende Herausforderung und die gesetzten Grenzen in der Gemeinde in meinem Beruf zu kompensieren. Für eine gewisse Zeit war das im intellektuellen Bereich auch möglich: als Programmierer und Softwarearchitekt, im Studium der Computerwissenschaften und der Mathematik.

Doch zwei Dinge geschahen: erstens wurde die Informatik sogenannt „reif“. Das heisst, sie wurde langweilig. Standards, Best Practices, all das vermieste uns Meta-Denkern die Freude.

Zweitens wurde mir aber auch ein schlechtes Gewissen gemacht. All das, was mich an der Informatik faszinierte, wurde in der Gemeinde als „alte Natur“, als „sich auf den eigenen Verstand verlassen“ und als weltliche Versuchung, und mein Spezialgebiet, die künstliche Intelligenz, sogar als Technologie vom Teufel verstanden.

Introvertierten wird oft ein gutes Christenleben abgesprochen, da sie Schwierigkeiten haben, den Erwartungen an Gemeinschaftsleben, Evangelisation, und Ausdruck von Emotionen als Beweis der Hingabe gerecht zu werden.

Meta-Denkern wird oft der Glauben abgesprochen.

Solange wir in der Gemeinde Zweifel als das Gegenteil von Glauben betrachten, wird das so bleiben.

Das Gegenteil von Glauben aber ist es, sich sicher zu sein. Glauben bedeutet, trotz Zweifel, trotz Unsicherheit, trotz Unbeweisbarkeit an etwas festzuhalten.

Sich sicher zu sein schliesst Fragen aus, verhindert eine weitere Suche, und damit auch Wachstum.

Sich sicher sein zu müssen, bedeutet, sich auf externe Quellen zu verlassen. Da jeder gesunde Mensch Zweifel hat und sich seiner mangelnden Kompetenz bewusst ist, den Glauben wirklich zu verstehen, verlässt man sich auf die Menschen, die Gott dazu gesalbt hat.

Jetzt ist die Wahl wesentlich vereinfacht: Es geht nur noch darum, diejenigen gesalbten Personen zu finden, die wirklich gesalbt sind. Auch hier verlassen wir uns auf eine externe Quelle: Gott hat mich in diese Gemeinde geführt.

Dass diese Aussage nur dann hinterfragt wird, wenn ich mit der Persönlichkeit oder der Lehre der Gemeinde nicht mehr einverstanden bin, deutet jedoch in den meisten Fällen darauf hin, dass wir uns doch eher eine Gemeinde ausgesucht haben, die uns gefiel.

Doch zurück zum Zweifel. Zweifel als Wachstumshormon? Durch die ganze Kirchengeschichte hindurch haben wir immer wieder ein Umdenken erlebt. Verse wurden neu interpretiert und es entstanden neue Strömungen. Ohne Zweifel an der Tradition ist dies gar nicht möglich, wie uns Luthers Leben eindrücklich zeigt.

Genauso, wie ich überzeugt bin, dass die Gemeinde introvertierten Mitgliedern entgegenkommen, den erwarteten christlichen Lebensstil und die Angebote erweitern sollte, bin ich überzeugt, dass dies auch für Meta-Denker geschehen sollte.

Streaming-Angebote erlauben es introvertierten Menschen, von zu Hause aus an der Predigt teilzunehmen, wenn die Energie nicht reicht.

Die Erlaubnis, erst nach der oft lauten, überfordernden Anbetungszeit in den Gottesdienst zu kommen, ohne dafür schief angesehen zu werden, ist oft für Hochsensible wichtig.

Gar nicht am Gottesdienst teilnehmen und der Predigt für Schritt-Denker folgen zu müssen, ohne in der nachfolgenden Gemeinschaftszeit im Dialog mit anderen tiefer gehen zu können, ist eine Erleichterung für Meta-Denker.

Introvertierte werden andere Angebote der Gemeinde lieben, sei es die Betreuung einzelner Menschen oder interessante neue Angebote wie zeitlich abgesprochenes Gebet zu Hause, allein in der Synchronizität mit anderen.

Meta-Denker lieben es, im Dialog mit anderen neuen Gedanken nachzugehen. Sie tauschen diese mündlich oder schriftlich aus und können die Gedanken anderer sowie die eigenen aperspektivisch, von verschiedenen Seiten und ohne Wertung betrachten.

Ich denke an Kleinstgruppen, mit der Freiheit, weit über die Grenzen der anerkannten Doktrin und der erlaubten Themen zu sprechen, ohne Kontrolle, aber vielleicht mit der Beteiligung der Gemeindeleitung, und oft mit einer Reichweite über die Denomination hinaus.

Die traditionelle Gemeinde hat es noch nicht gelernt, die verschiedensten Persönlichkeiten zu integrieren. Früher, als das Konzept der Persönlichkeit noch nicht allgemein bekannt war und ein Dasein hinter universitären und Klostermauern fristete, brauchte es dies auch noch nicht.

Doch spätestens in der Reformation hat Gott uns gezeigt, dass wir Individuen sind, und in der Ausgiessung des Heiligen Geistes, dass wir verschiedene Persönlichkeiten haben.

Gott selbst hat die Aufmerksamkeit auf dieses Gebiet gelenkt. Er ist überzeugt, dass die Gemeinde, dass der Mensch reif genug ist, tiefer zu gehen.

Es genügt heute nicht mehr, einer Gemeinschaft anzugehören, um geistlich zu wachsen, wie es vor der Reformation der Fall war. Wir dürfen eine individuelle Beziehung mit Gott haben. Genau so dürfen wir heute mit unserer Persönlichkeit, unserer Verschiedenheit, unseren Gaben dienen.

Und die Gemeinde darf und soll auf die unterschiedlichen Bedürfnisse eingehen können, was sie auch kann, denn sie hat die dazu begabten Personen in ihren Reihen.

Ich habe jetzt nicht über die kreative Kompetenz gesprochen. Auch da gibt es Meta-Denker. Vielleicht ist es an der Zeit, diese intellektuellen, kreativen und existenziellen Meta-Denker in die Gestaltung von Gemeinde, der Doktrin einzubeziehen.

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