War Jesu Tod notwendig

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Es ist eine schwierige Frage, ob Jesu Tod notwendig war. Sie beruht sowohl aus unserem Verständnis der Welt als auch auf unserer Auslegung der Bibel.

Ein wichtiger Aspekt zur Beantwortung dieser Frage, oder besser zur Begründung der von mir momentan geglaubten Antwort, ist, ob die Welt deterministisch ist. Dies ist für sich schon eine Streitfrage der Theologie.

Ein wichtiger Aspekt dabei ist, dass eine deterministische Welt keinen freien Willen kennt.

Doch was ist überhaupt Determinismus?

Hier eine Definition der Studienstiftung Schweiz:

Fundamentale physikalische Gesetze – im Gegensatz zu phänomenologischen Gesetzen, die sich aus den fundamentalen physikalischen Gesetzen ergeben – gelten für das Universum als Ganzes und sind in der Regel deterministische Gesetze. In Idealisierungen gelten diese Gesetze auch für genügend isolierte Teilsysteme des Universums. Determinismus bedeutet: Gegeben den Zustand des Universums oder des isolierten Teilsystems zu einer beliebigen Zeit, ist durch die Gesetze die zeitliche Entwicklung in die Zukunft wie auch in die Vergangenheit vollständig festgelegt. – Werner Siemens Programm: Wahrscheinlichkeiten, Determinismus und freier Wille in Naturwissenschaften und Philosophie

Natürlich ist diese Definition erst einmal materialistisch zu verstehen. Um daraus ein nicht-materialistisches, christliches Verständnis zu entwickeln, muss Gott als Gesetzgeber und Handelnder mit einbezogen werden.

Dies ist insofern wichtig, als dass Determinismus wohl im rein materiellen Bereich nicht möglich ist. In der Physik scheint es notwenig, den Ursprung in unendlicher Genauigkeit zu kennen, um mit den physikalischen Gesetzen die sich zwingendermassen entwickelnde Kausalkette voraussagen zu können.

Das können wir als Menschen nicht. Kann es das Universum?

Die Physik geht davon aus, dass Materie endlich ist. Endliche Materie kann aber keine unendlichen Daten speichern, da der Platz dafür nicht vorhanden ist. Wir können also, ausgehend von einem Ursprung, die Zukunft nicht berechnen. Dabei ist die auf Wahrscheinlichkeit beruhende Quantenmechanik nicht einmal wichtig, weil auch ohne dieses Verkomplizieren wir es bereits nicht schaffen.

Dies ist nicht unbedingt richtig, wenn wir Gott in die Gleichung bringen, denn er kann sich unendliche Daten merken. Oder zu mindestens gehen wir davon aus, wenn wir Gott allwissend nennen.

Allerdings eröffnet sich dann die ganze Diskussion um den freien Willen.

Doch erst mal weiter: Wie aber steht es mit der Vergangenheit?

Die Vergangenheit ist endlich. Sie kann mit einer gewissen, recht kruden Auflösung nachvollzogen werden. Sie ist Geschichte und im Speicher, im Gedächtnis des Universums enthalten.

Nehmen wir eine Schachspiel. Das Schachbrett ist endlich, die Regeln sind klar. Und trotzdem ist die Zukunft eines Schachspiels nur mit Wahrscheinlichkeiten im voraus berechenbar. Kurz, es gibt (bis jetzt) kein zwingendes Schach.

Die Vergangenheit ist auch nicht berechenbar, denn allein aus der Stellung können wir nicht ableiten, wieviele unsinnige, nicht notwendige, repetitive Züge die Spielfiguren gemacht haben. Wie oft sprang zum Beispiel ein Springer im Kreis, um wieder dort zu landen, wo er jetzt steht?

Wir können aber aus dem Protokoll der Partie genau ablesen, was geschehen ist. Und wir können wahrscheinlich eine endliche Anzahl von minimalen Zugabfolgen berechnen, die zu dieser Stellung führten.

Ich muss der Physik glauben, dass die Vergangenheit deterministisch ist. Diese Diskussion übersteigt mein Wissen, aber das oben Gesagte macht es für mich plausibel und glaubwürdig.

Gehen wir zurück zu unserer Frage: War Jesu Tod notwendig?

Aus unserer Sicht muss die Antwort ein klares Ja sein. Wir wären nicht, wo wir heute sind, ohne den Tod Jesu. Zu viele Entscheidungen weltpolitischer und persönlicher Natur sind auf der Tatsache gefällt worden, dass Jesus gestorben und auferstanden ist.

Die Frage ist, ob es Alternativen gegeben hätte, welche genauso zielführend nach Gottes Plan gewesen wären. Dies können wir nicht wissen, und es greift Aslans grosse Weisheit: „Frage nicht, was wäre gewesen, wenn … .“

Interessant ist die Frage, ob Jesu Tod unausweichlich, notwendig oder zwingend war, bevor er stattfand.

Wir kennen viele Begründungen für seinen Tod. Sei es, dass Gott wütend war und ein stellvertretendes Opfer brauchte, um seine Wut vorübergehend abzuleiten bis zum Tag des jüngsten Gerichts. Sei es, dass die Folgen des Falls, die Sünde, übermächtig waren und Jesu Tod das einzige Mittel war, sie zu überwinden. Diese Ansätze heissen z.B. Penal Substitution (stellvertretende Bestrafung), stellvertretendes Sühneopfer oder Christus Victor (Christus ist Sieger).

Interessant ist, dass alle diese Ansätze natürlich erst entstanden, nachdem Jesus gestorben ist. Sie sind Erklärungen im Nachhinein.

Wir Menschen sind dafür bekannt, dies zu tun. Die Neurologie hat gezeigt, dass wir oft (oder meist) intuitiv handeln und eine Begründung unserer Handlung nachschieben. Es ist geschehen – warum ist es geschehen?

Gibt es einen geschichtlichen Zeitpunkt, ab dem Jesu Tod unausweichlich wurde?

Das könnte der Sündenfall sein. Aber seien wir ehrlich: die Interpretation von 1. Mose 3 als Sündenfall geschieht, indem wir durch das Kreuz darauf zurückschauen. Im Alten Testament bleibt der Sündenfall weitgehend unbeachtet. Es gibt Geschichten, wie diejenige von Henoch, die aufzeigen, dass es Menschen gibt, die ein gottgefälliges Leben ohne Gesetz und ohne Jesus leben können.

Auch das Gesetz könnte als Ausgangspunkt genommen werden. Die Definition eines göttlichen Lebensstils als Beachtung des Gesetzes, als Gehorsam ermöglicht erst die Rückschau auf den Sündenfall als Ungehorsam. Oder wie Paulus es ausdrückt: ohne Gesetz keine Sünde.

Die Verschriftlichung der Schöpfungsgeschichte in dieser Zeit des Gesetzes, wahrscheinlich während oder nach dem babylonischen Exil, verstärkt diesen Eindruck. Bei der Edition der uralten Mythen floss die Weltanschauung mit ein, die zu dieser Zeit herrschte. Unter dem Eindruck, dass Israel für die Sünden der Vergangenheit bestraft wurde mit dem Exil, wurden die Aspekte in der Geschichte betont, welche sich um Gut und Böse drehen.

Wenn wir die Geschichte aber genau betrachten, sehen wir, dass Adam und Eva sich für eine Weltanschauung gemäss dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse entschieden haben. Dies war und ist nicht die Weltanschauung Gottes. Warum sollte er eine Lösung anbieten, die in diesem System verankert ist?

Wenn aber Jesu Tod keine Notwendigkeit war, um das Böse zu besiegen, sondern eine Liebestat, um uns von einer unreifen Weltanschauung zu befreien, dann gab es keinen zwingenden Grund für seinen Tod. Dann war Jesu Tod eine freiwillige Entscheidung. Denn Liebe ist nie erzwungen. Sie wird geschenkt.

Wie das Beispiel Henochs beweist, kann der Mensch ein gottgefälliges Leben führen. Ob es dabei um die Überwindung der Sünde ging, wissen wir nicht. Im Gegenteil, die Bibel betont den Beziehungsaspekt, nicht das Leben nach gewissen Standards.

Jesus widerspricht auch dem jungen reichen Mann nicht, der sagt, dass er alle Gebote gehalten hätte. Es war also möglich, ein nach dem Gesetz gerechtes Leben zu führen. Aber Jesus betont die soziale Beziehungskomponente.

Und zum Opfer: Gott hat nie Opfer verlangt. Auch im Gesetz hat er nur die vorherrschende Opferkultur geordnet. Bald jedoch hat er den Menschen erklärt, dass er ihre Opfer nicht wolle, sondern lieber Gehorsam hätte – eine Aussage, die die Gesellschaft zu der Zeit nachvollziehen konnte, war doch Gehorsam der Lehrblätz, mit dem sie sich im Moment beschäftigte, wie ein Kind (einst) in der Grundschule.

Jesus machte klar, dass es Gott nicht um Gehorsam ging, sondern um Liebe. Er nannte uns nicht mehr Knechte, die zum Gehorsam verpflichtet sind, sondern Freunde. Eine revolutionäre Aussage, wenn man das Konzept von Freundschaft zu Jesu Zeit mit einbezieht. Nur so viel: Es ging wesentlich tiefer als eine Freundschaftsanfrage auf Facebook.

All dies deutet darauf hin, dass die Vergangenheit vor Christus ein stellvertretendes Opfer nicht zwingend notwendig machte.

Natürlich gibt es Prophetien, welche wir als Vorhersage dieses Todes deuten. Und wenn unsere Interpretation, welche wir wiederum nach dem Ereignis machen, stimmt, dann sind es eben Prophetien. Gott hat auf ein bevorstehendes Ereignis hingewiesen, zu dem er sich entschieden hatte. Auch das machte den Tod Jesu nicht zwingend notwendig.

Das Kreuz war demnach wahrscheinlich keine Konsequenz menschlicher Handlung in der Vergangenheit. Was war es dann?

In vielen Völkern gibt es den Brauch eines Übergangsrituals von der Kindheit ins Erwachsenenleben. Dieses findet meist zu Beginn der Pubertät statt. Wir empfinden das heute als zu früh. Gönnen wir doch den Kindern ihre Kindheit. Aber es hat einen gesunden Zug vorwärts in der Gemeinschaft der Erwachsenen geschaffen. Die Menschen um einen herum wurden zum Vorbild für die eigene Entwicklung. Gleichzeitig werden einige Dinge zugänglich, die man vorher nicht durfte.

Was, wenn Jesu Tod nicht rückwärts gerichtet war, sondern vorwärts? Was, wenn es darum ging, der Menschheit, die am Anfang ihrer Pubertät war, neue Wege aufzuzeigen? Jesus als Beispiel, als Vorbild der Gemeinschaft der Erstgeborenen.

Er lebte die Liebesbeziehung eigenständiger Menschen vorbildhaft aus, von welcher er selbst gesagt hatte, dass sein Leben für den anderen hinzugeben der höchste Liebesbeweis sei. Und so tat er es. Aber auch das machte seinen Tod nicht notwendig.

Gott wählte diesen Weg vielleicht, weil er symbolisch war. Er holte die Menschen da ab, wo sie waren.

Sie waren von der Notwendigkeit von Opfern überzeugt. Und so opferte er sich ein und für alle Mal, um dieses Denken zu überwinden.

Sie waren überzeugt, dass Ungehorsam gegenüber dem Gesetz zu Strafen führen muss. Darum nahm er schon einmal alle Strafen auf sich, um dieses Denken zu überwinden.

Sie waren überzeugt, von Gott getrennt zu sein. Darum sprach er davon, dass wir in ihm sind und er in uns und dass er uns nie verlassen werde, um dieses Denken zu überwinden.

Hat Gott diesen Weg gewählt, weil wir ihn verstehen würden? Weil er sah, dass der Mensch dadurch auf eine Wurfbahn gebracht würde, die eine Entwicklung hin zu Gottes Ziel auslöst?

Ob dies die einzig mögliche Lösung war, wissen wir nicht. Wir wissen, dass es die liebevolle Möglichkeit war, die Gott gewählt hat. Daher wissen wir konsequenterweise nicht, ob Jesu Tod notwendig war.

Wenn die Zukunft deterministisch wäre, gäbe es keinen freien Willen. Da die Zukunft nicht deterministisch zu sein und es freien Willen zu geben scheint, traut es sich Gott offensichtlich zu, auf jede unserer Entscheidungen eine liebende Antwort und Lösung zu haben.

Da Gott kreativ ist und die Vielfalt liebt, ist es wahrscheinlich, dass er sogar mehrere solche Antworten und Lösungen bereithält.

Nach Alfred North Whitehead versucht er, uns diese Möglichkeiten schmackhaft zu machen, lässt uns aber frei entscheiden.

In Abstraktion hatte Gott wahrscheinlich mehrere Wege bereit, mit der Menschheit sein Ziel zu erreichen. Er wählte seinen Tod aus Liebe, nicht weil er dazu gezwungen war.

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