Niemand kommt zum Vater

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„Ich bin der Weg!“, antwortete Jesus. „Ich bin die Wahrheit und das Leben! Zum Vater kommt man nur durch mich.“ 

Joh 14:6

Wenn wir diesen Vers lesen, dann löst dies eine ganze Landschaft von Gedanken aus, ein ganzes Gebäude von Vorstellungen und Erklärungen, welche in dem Vers gar nicht vorhanden sind.

Was hören wir? Und was könnte damit auch gemeint sein?

Ich bin der Weg

Für viele wird der Anfang des Verses mit „ich bin der Weg“ ein Bild von zwei Wegen hervorrufen. Der breite und der schmale Weg, von welchen einer in das Verderben, der andere ins Himmelreich führt.

Ganz ähnlich ist vielleicht eine andere Assoziation, die schon etwas tiefer geht:

Gewöhne den Knaben an den Weg, den er gehen soll, so wird er nicht davon weichen, wenn er alt wird!

Sprüche 22:6

Dieser zweite Vers ist insofern interessant, als dass er aus dem Hebräischen kommt. Hebräisch ist dem Aramäischen, welches Jesus gesprochen hat, verwandt. Die Denkart ist die selbe und so anders vom griechischen Denken.

Das Wort, welches in den meisten Übersetzungen von Sprüche 22:6 mit „Weg“ wiedergegeben wird, ist „derek„. Die Elberfelder übersetzt den Vers so:

Erziehe den Knaben seiner Natur angemessen; er wird nicht davon weichen, auch wenn er alt wird.

Sprüche 22:6

Übertragen wir das auf unseren Vers, erhalten wir etwas wie:

Ich bin das Vorbild, die Vorlage, die Natur des Menschen.

Eigene Übersetzung

Ich bin die Wahrheit

Zur Wahrheit. Da hören wir sofort etwas im Sinne von Richtig und Falsch, und finden uns bestätigt in der Assoziation zum ersten Teil mit den beiden Wegen.

Das Wort aletheia, welches die Bibel hier und auch sonst im Neuen Testament verwendet, gibt das allerdings nicht her. Es heisst „nicht zurückhalten, nicht verstecken“. Übertragen wir das auf unseren Vers:

Ich halte nichts vor Euch zurück.

Eigene Übersetzung

Ich bin das Leben

Jetzt kommen wir zu einer weiteren Assoziation, die nur im Zusammenhang mit der Denkrichtung, die wir für den Vers bis jetzt eingeschlagen haben, überhaupt nachzuvollziehen ist.

Die Argumentation geht in etwa so: Wenn wir hier über die zwei Wege reden, den breiten und den schmalen Weg, und über die richtige Art zu leben, dann geht es als Nächstes um das ewige Leben.

„Zoe“ aber heisst erst einmal „Leben“. Es betont ausserhalb der Bibel die Lebensdauer und den Lebensunterhalt, wird in der Bibel aber als Bild für das göttliche Leben verwendet.

In Kommentaren wird das göttliche Leben als das ewige Leben beschrieben, als den Anteil, der nicht stirbt. Das ungeschaffene, unverderbliche, unzerstörbare, ewige Leben Gottes, das zoe Leben.

Die Verwendung des Wortes „ewig“ in der Beschreibung macht den Gedankensprung möglich, daraus das ewige Leben eines jeden Individuums zu machen, und die Gedanken rund um den Anfang des Verses machen daraus das bedingte ewige Leben im Himmel, welches ich erlange, wenn ich auf dem rechten Weg wandle und das Richtige tue.

Nichts davon steht hier.

„Zoe“ heisst auch „Existenz“ oder „Art zu leben“. Zwar wird in unserem Verständnis der Begriff „Art zu leben“ gleich wieder moralisch gedeutet und mit Begrifflichkeit wie Richtig und Falsch gefüllt, er ist aber erst einmal wertfrei.

Übertragen auf unseren Vers könnte das heissen:

Ich bin und verkörpere die Art zu leben.

Eigene Übersetzung

Niemand kommt zum Vater denn durch mich

Mit all den Freiheiten, die wir uns gedanklich bereits erlaubt haben, all den Interpretationen, die wir bereits mitgelesen haben, ist es jetzt klar: „Niemand kommt zum Vater denn durch mich“ bedeutet, dass niemand in den Himmel kommt, ausser wenn er Jesus kennt, als Herrn angenommen hat, und jetzt einen göttlichen Lebensstil pflegt.

Lesen wir den Vers aber anders, ergibt sich ein ganz anderes Bild.

Setzen wir mal zusammen. Ich behaupte nicht, dass diese Interpretation nicht genau das ist – eine Interpretation. Sie ist aber meiner Meinung nach freier von theologischen Assoziationen.

Ich bin das Vorbild für die Natur des Menschen, ich halte nichts von Euch zurück und verkörpere für Euch die Art zu leben.

Eigene Übersetzung

Hier komme ich nicht mehr automatisch auf diese Bedeutung für den Rest des Verses.

Nehmen wir noch einen theologischen Gedanken dazu. Das Johannesevangelium betont gerade das Hier und Jetzt und nicht das Leben nach dem Tod. Der Fachbegriff ist eine Gegenwartseschatologie. Sichtbar wird das zum Beispiel darin, dass Johannes betont, das Königreich sei mitten unter uns.

Daraus ergibt sich eine neue Interpretation. Es geht Jesus möglicherweise darum, dass wir nur dann bereits hier auf Erden zu einem Bewusstsein des Vaters kommen können, wenn wir seinem Vorbild folgen, einem Vorbild, von dem er nichts zurückhält.

Eine weitere Interpretation ist, dass wir sehr wohl ein göttliches Leben ohne Jesu Vorbild leben können. Das taten bereits Henoch vor der Sintflut, Abraham vor dem Gesetz und David unter dem Gesetz.

Aber sie konnten nicht zu einem Gottesbild des Vaters kommen. Diese Dimension war ihnen noch verborgen, aber Jesus hält sie nicht zurück.

Wir können also zusammenfassend sagen, dass wir durch das Vorbild Jesu, der uns die Art zu leben rückhaltlos aufgezeigt hat, schon hier und jetzt Gott als unseren Vater erkennen können. Was ohne sein Beispiel nicht geht.

Wenn wir aber Jesu Art zu leben unter die Lupe nehmen, würde ich nicht sagen, dass es in erster Linie um Gesetzestreue ging. Es ging um Beziehung. Es ging nicht um Richtig oder Falsch. Es ging um Liebe.

Meine Assoziationen

Jesus kam auf diese Welt, um uns zu zeigen, wie menschliches Leben wirklich geht: sich selbst zu sein, seiner Mission treu zu sein, kompromisslos bis in den Tod.

Kazimierz Dabrowski zeigt uns, dass die Wenigsten sich selbst sind. Auch Vertreter der Entwicklungspsychologie sprechen davon, dass die meisten Menschen Stufen wie Self-Authoring und Self-Transforming nicht erreichen. Wir sprechen hier von niedrigen einstelligen Prozentbereichen.

Könnte dies der schmale Weg sein?

Ich fühle mich erinnert an Robert Frosts „The road not taken“.

Two roads diverged in a yellow wood,
And sorry I could not travel both
And be one traveler, long I stood
And looked down one as far as I could
To where it bent in the undergrowth;
Then took the other, as just as fair,
And having perhaps the better claim,
Because it was grassy and wanted wear;
Though as for that the passing there
Had worn them really about the same,
And both that morning equally lay
In leaves no step had trodden black.
Oh, I kept the first for another day!
Yet knowing how way leads on to way,
I doubted if I should ever come back.
I shall be telling this with a sigh
Somewhere ages and ages hence:
Two roads diverged in a wood, and I—
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.

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