Kategorie: Weltanschauung

  • Abraham und Isaak

    Heute werde ich über eine der grundlegenden Geschichten aller drei monotheistischen Religionen sprechen: Christentum, Judentum und Islam.

    Gott fordert Abram eines Tages auf, seinen Sohn als Menschenopfer darzubringen. Er tut dies mit viel Gehorsam und Vertrauen, vielleicht sogar mit prophetischer Einsicht. In letzter Minute hält Gott ihn davon ab, Isaak zu töten und bietet stattdessen einen Widder als Opfer an.

    Auch wenn der Islam Isaak durch Ismael ersetzt, bleibt die Geschichte dieselbe.

    Das ist die Haupthandlung, aber es gibt noch viel mehr Details dazu. Du kannst sie in 1. Mose 22 nachlesen. Ich gebe dir ein paar Hinweise, worüber du nachdenken könntest:

    • Kann Gott jemandem befehlen, Böses zu tun? In dieser Geschichte tut er es. Wie passt das zu deinem Bild von Gott als liebendem Vater?
    • Abram erwartet ein Lamm als Opfer, aber er bekommt einen Widder, ein ausgewachsenes Tier, einen Vater. Könnte der Vater sein Leben für uns geben?
    • Je nach deiner Übersetzung, aber auf jeden Fall im Hebräischen wirst du feststellen, dass Abram allein zu den wartenden Dienern hinabsteigt. Was geschah mit Isaak?
    • Wenn wir noch ein bisschen weiter schauen, sehen wir Sara von diesem Tag an nie wieder mit Abram sprechen. Sie stirbt an einem anderen Ort als Abram lebt, und Isaak und Abram werden nicht mehr zusammen erwähnt. Was ist passiert?

    Die Geschichte wurde als notwendiges Beispiel für den Tod Jesu erklärt: ein Vater, der seinen Sohn opfert. Notwendig, weil Gott hier auf Erden nichts tun konnte und wollte als durch den Menschen. Der Typus war die Erlaubnis für die Realität.

    Diese Erklärung ist zutiefst christlich und hängt von der Historizität der Geschichte ab. Aber was ist, wenn die Geschichte archetypisch ist?

    Was ist, wenn diese Geschichte eine Vielzahl ähnlicher Geschichten zusammenfasst, die sich ähnlich zu allen Zeiten und an allen Orten ereignet haben und in irgendeiner Form immer noch ereignen? Was ist, wenn sie darauf abzielt, einen neuen Gedanken zu etablieren und ihn in eine Geschichte einzubetten, die die Folgen und Auswirkungen des Geschehens zeigt?

    Stell dir vor, was passieren würde, wenn du deinen erstgeborenen Sohn oder den Sohn der Verheissung opfern würdest? Damals war das kulturell akzeptiert und wurde getan, um sich weitere Fruchtbarkeit oder gutes Ansehen bei den Göttern und sogar Gott zu sichern.

    Aber ich kann mir vorstellen, dass das Ergebnis zu jeder Zeit traumatisch gewesen ist. Schildert die Geschichte die Reaktion von Sara darauf, wie Abram damit umgegangen ist? Erzählt sie die Geschichte von Tausenden von Müttern und Familien, die von ihren Ehemännern und Vätern zerrissen wurden, die ihre Kinder und Geschwister im Namen der Religion töteten?

    Wenn dein Ehepartner dein Kind im Namen der Religion töten würde, würdest du dann jemals wieder mit ihm reden? Würdest du das Bett mit ihm teilen und deine Tage mit ihm verbringen?

    Was wäre, wenn dein Vater sich darauf vorbereiten würde, bis hin zu dem Punkt, an dem er das Messer schwingt, um dich zu töten, es aber nicht durchzieht? Wenn es jemals einen traumatischen Moment gab, dann ist es dieser.

    Dein Vater war nicht nur bereit, dich zu töten, und dein Gott hat es ihm befohlen, sondern dieser Gott, eine äussere Macht, hat es sich später scheinbar anders überlegt und es verhindert. Es war nicht dein Vater, der zur Vernunft kam. Würdest du deinem Vater oder diesem Gott jemals wieder vertrauen? Würdest du wieder mit ihnen reden?

    Das würde eine Familie in Schutt und Asche legen. Ausserdem wäre ihr Bild von Gott bis ins Mark erschüttert und müsste vorsichtig wieder aufgebaut werden, ohne Erfolgsgarantie.

    Ich kann die Geschichte von Abram und Isaak als eine komprimierte Nacherzählung eines Erwachens, einer Reformation sehen. Viele Menschen, die durch ihre Gefühle und Erfahrungen, aber auch durch den Heiligen Geist aufgerüttelt wurden, erkannten, dass ihr Gottesbild fehlerhaft, sozusagen unmenschlich, grausam und schlichtweg falsch war.

    Gott würde keine Menschenopfer verlangen. Punkt.

    Heute würden wir die Geschichte so erzählen: Ich dachte, wir hätten recht. Ich hatte das Gefühl, dass Gott wollte, dass wir unsere Kinder opfern, um seinen Zorn zu besänftigen, wenn wir harte Zeiten erlebten. Unser Gehorsam war das A und O, um unsere Beziehung zu Gott wiederherzustellen. Aber wir haben uns geirrt, also haben wir aufgehört.

    Das macht Sinn. Aber dieses Thema wurde schon vor langer Zeit geklärt, und es ist einfach für uns, darüber zu diskutieren, da wir bereits auf der anderen Seite leben.

    Nehmen wir mal an, in dieser Geschichte ginge es um Gender oder Abtreibung. Würdest du sie immer noch so rational erzählen, wenn du eine Veränderung herbeiführen wolltest?

    Heute könnten wir mit historischen Erkenntnissen und einem besseren Sprachverständnis, höheren moralischen Standards und so weiter argumentieren.

    Aber denk daran, dass sie damals in einer anderen Zeit lebten. Wissenschaft und Vernunft standen ihnen nicht zur Verfügung. Sie argumentierten mit dem „Willen Gottes“. Das kannst du auch heute noch in den Kirchen auf der ganzen Welt beobachten. Mit prophetischen Einsichten, Bibelauslegungen und Beweistexten haben wir eine Fülle von Werkzeugen, um Gottes Willen zu verkünden und Menschen in die gewünschte Richtung zu lehren oder zu manipulieren.

    Die Geschichte scheint uns zu zeigen, wie verheerend Kinderopfer, aber auch die Änderung deines Glaubenssystems für eine Familie sind. Sie sagt uns auch, dass Kinderopfer nicht im Sinne Gottes sind.

    Es bleibt die Frage, warum Gott es überhaupt befohlen hat? Die Antwort darauf könnte sein, dass er es nicht getan hat.

    Nirgendwo sonst in der Bibel finden wir, dass Gott Menschenopfer befohlen hat. Mehr noch, es gibt überhaupt keinen Befehl zum Opfern.

    Aber wir finden, dass Gott Ordnung in das Opfersystem bringt, das der Mensch eingeführt hat. Er kümmerte sich zuerst um die Menschenopfer, um das Schlimmste aus dem Weg zu räumen, und konzentrierte sich dann auf die Tieropfer. Er ging immer so weit, wie es für die Menschen möglich war, und führte sie langsam in eine opferfreie Zeit. Keine Opfer sind mehr nötig um ihn zu besänftigen.

    Um die gegenkulturelle Wahrheit in den Köpfen der Menschen zu verankern, verdichteten die Schreiber der Genesis den Prozess der Veränderung von Glaubenssystemen in eine starke, krasse Geschichte von wenigen hundert Worten.

    Diese Auslegung steht im Einklang mit Jesus: Euch ist gesagt worden, aber ich sage es euch. Er korrigiert das Alte Testament ziemlich direkt in der Bergpredigt.

    Jesus sagte auch, er sei nicht gekommen, um das Gesetz abzuschaffen, sondern um es zu erfüllen. Das ist eine hebräische Redewendung. Die Menschen schafften das Gesetz ab, wenn sie es falsch auslegten, aber sie erfüllten es, indem sie eine gültige Auslegung gaben.

    Die Schreiber der Genesis haben eine uralte Geschichte niedergeschrieben, die das Glaubenssystem der Vergangenheit korrigierte und dabei die gleichen Werkzeuge verwendete: ihr habt geglaubt, aber wir sagen euch.

    Ich sage nicht, dass Abram nicht gelebt hat. Ich sage auch nicht, dass er nicht eine Erfahrung gemacht hat, die in der Geschichte beschrieben wird. Ich sage nur: Diese Geschichte könnte genauso gut wie ein Gedicht sein, sogar wahrer als ein einzelner Bericht, der die Erfahrungen vieler während einer Bewusstseinsverschiebung des Spirituellen vereint.

    Können wir aus der Geschichte lernen, wie wir den Menschen in traditionellen Umgebungen neue Offenbarungen vermitteln können? Wir können. Und können wir daraus lernen, wie wir Menschen jeder Weltanschauung unterrichten können? Ich denke schon. Wir müssen das Muster anpassen.

    Vielleicht ersetzen wir „ein Kind auf einem Altar für Gott opfern“ durch „deine Familie auf dem Altar deiner Karriere vernachlässigen“, um ein Beispiel zu nennen.

    Es gibt noch viel mehr in dieser Geschichte. Im Moment ist das Wichtigste, was wir daraus lernen können, Folgendes: Wie können wir mit Menschen reden, wenn sich unser Weltbild verändert?

  • Autismus

    Ich habe es schon lange vermutet. Vor ein paar Monaten wurde bei mir eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert.

    Als ich vor Jahren mit meiner Mutter darüber sprach, lachte sie über den Gedanken, denn sie hatte das alte Bild im Kopf, wie Autismus auszusehen hat: Kinder, die sich in ihre eigene Welt zurückziehen, die bei allem Unerwarteten oder Intensiven Wutanfälle bekommen, die sich in der Regel nicht mit mehr als ein paar Worten ausdrücken können und die Töne, Wörter oder Handlungen immer wieder wiederholen, um sich zu beruhigen.

    Und dann ist da noch das Aspergersyndrom. Es wird als eine milde Form des Autismus angesehen, die sich in unbeholfenem Sozialverhalten und der Unfähigkeit, soziale Signale zu erkennen und darauf zu reagieren, äussert.

    Ich hatte sicherlich keine dieser Ausprägungen. Mein Vater hingegen war, wie ich heute weiss, ein typischer Fall von Aspi, und man geht davon aus, dass Autismus vererbbar ist.

    Man sagt, dass die Wissenschaft von einem Tod zum anderen fortschreitet, und die Lehre über Autismus, die meine Mutter in ihrer Ausbildung zur Sozialarbeiterin erhielt, wurde von der alten Generation von Psychologen und Psychiatern geprägt.

    Was ist also heute anders?

    Es wird angenommen, dass Autismus ein Spektrum ist, das von sehr leicht bis schwer reicht. Ich würde es eher als ein mehrdimensionales Feld bezeichnen, denn es gibt eine ganze Reihe verschiedener Merkmale, die unabhängig voneinander leicht oder schwer sein können, so dass jeder Autist auf einer anderen Koordinate innerhalb dieses Hyperwürfels liegt.

    Ich bin also mit dem Begriff Spektrum nicht unbedingt einverstanden.

    Auch mit dem Begriff Autismus bin ich nicht glücklich. Er kommt aus dem Griechischen und bedeutet „sehr selbstbezogen sein“. Er lässt sich leicht mit Egoismus und Narzissmus verwechseln, obwohl beides falsch wäre.

    Und was ist mit Störung? Im klinischen Sinne hasse ich den Begriff, weil er die Menschen dazu bringt, Autismus als eine Diagnose und eine Behinderung anzusehen.

    Aber was ist Autismus dann?

    Es ist eine andere Art, die Welt zu erleben.

    Ich werde jetzt über meine eigene Erfahrung sprechen, die vielleicht ein Licht von vielen auf Autismus wirft und einen Ausdruck von vielen zeigt.

    Als ich ein Kind war, hatte ich keine Freunde in meiner Altersgruppe und verbrachte viel Zeit mit Erwachsenen. Meine erste Kirchenerfahrung machte ich mit sieben, und es gefiel mir sehr, weil ich im Grunde die Hauskirche leitete. Die anderen kümmerten sich um die Anbetungsmusik und die Gemeinschaft, aber ich übernahm den grössten Teil der Bibellehre.

    Das ist einer meiner Bewältigungsmechanismen: Teil einer Gruppe zu sein, ist für mich eine Herausforderung, aber wenn ich sie leite, kann ich das Thema und die Atmosphäre bestimmen. Wenn ich eine Gruppe nicht leiten kann, beobachte ich sie.

    Ja, wie du an diesen Beispielen sehen kannst, gibt es einige Defizite, die es mir in sozialen Situationen schwer machen. Ich habe Schwierigkeiten, Hinweise aus der Körpersprache oder der Mimik zu lesen. Was die Mimik angeht, so ist sie mir nicht völlig unbekannt, aber ich interpretiere sie in realen Situationen oft falsch. In klinischen Tests schneide ich gut ab, denn ich bin darauf vorbereitet, aufmerksam zu sein. Wenn du mir ein Bild von einer Person zeigst und mich fragst, ob diese Person wütend oder traurig ist, erkenne ich in den meisten Fällen die richtige Emotion, sogar häufiger als die meisten anderen.

    Aber wenn ich in einer Kirchengemeinde predigen soll, übersehe ich alle Hinweise. Normalerweise erkenne ich, dass du müde bist und genug hast, wenn dein Kopf auf dem Tisch aufschlägt. Und da es in traditionellen Kirchen keine Tische gibt, höre ich vielleicht nie auf.

    Ich liebe das Unbekannte, aber meistens nur in meinem Kopf und in meinen Gedanken. Ich gehe an Orte, an denen noch nie ein Mensch zuvor gewesen ist, solange sie konzeptionell sind. Im wirklichen Leben bin ich von neuen Situationen überwältigt. Ich habe kein Problem damit, spontan zu sein und klammere mich nicht an eine disziplinierte Routine, und selbst der Besuch von Orten, an denen ich noch nie war, macht mir nichts aus. Es sind neue Situationen, vor allem solche, in denen Dopamin ausgeschüttet wird: nachts durch einen Wald zu gehen, Achterbahn zu fahren, in tiefem Wasser zu schwimmen, in dem ich den Boden nicht berühren kann, Menschen zu treffen, die ich nicht kenne, ohne dass das Thema oder der Zweck des Treffens klar ist.

    Es fällt mir schwer, Metaphern zu verstehen. Man hat mich Drax genannt, nach der Figur in The Guardians of the Galaxy. Wenn jemand sagte, dass ihm etwas über den Kopf gewachsen sei, antwortete er: „Nichts geht über meinen Kopf. Ich bin zu schnell und werde es fangen.“ Eigentlich habe ich keine Schwierigkeiten, die Metaphern zu verstehen, das tue ich meistens, aber der erste Gedanke, den ich habe, gilt immer der wörtlichen Auslegung, weil sie lustig ist, indem sie provoziert und das Erwartete sprengt.

    Das ist meine Art von Humor: das Denken zu unterbrechen, indem ich Dinge wörtlich nehme oder die andere Bedeutung wähle, wenn zwei Wörter gleich klingen. Um dir eine Idee zu geben: Das ist oft wie bei Dad Jokes.

    Ich sehe auch konzeptionell mehr als andere. Das mag dem normalen Verständnis von Autismus zuwiderlaufen. Ich muss meine Gedanken zumindest teilweise einbringen, und ich muss versuchen, sie den Leuten verständlich zu machen. Es ist wie ein Zwang. Ich weiss – und habe mich damit abgefunden -, dass die meisten nicht alles verstehen werden, was ich beizutragen habe, also versuche ich gar nicht erst, alles zu sagen, aber ich kann nicht verstehen, dass die Leute oft gar keine weiteren Gedanken hören wollen.

    Ich funktioniere wie ein Schwamm. Ich will alles wissen, was der andere weiss, und zwar in verdaulichen Häppchen, also stundenlangen Gesprächen, die bis weit in die Nacht hinein dauern, und dabei kann ich viele Mahlzeiten verpassen.

    Wenn mich jemand bittet, etwas zu erklären, fühle ich mich verpflichtet, ihm mehrere Perspektiven und zumindest einen Überblick über die möglichen Interpretationen zu geben, die ich kenne, und ihm zu versichern, dass es noch viele weitere gibt. Das kommt in meinem kirchlichen Umfeld nicht gut an, denn die Leute wollen nur wissen, „wie etwas ist“.

    Ich würde sagen, dass ich ein Schwarz-Weis-Denken habe, wie es dem Autismus zugeschrieben wird, aber auf einer Metaebene. Ich bin einem Thema erst dann gerecht geworden, wenn ich es von mehreren Seiten betrachtet und Blocklogik statt linearer Kausallogik verwendet habe. Ich sehe mich als aperspektivischen Denker im Sinne von Jean Gebser.

    Im Bereich der Sinneswahrnehmung habe ich Überlastungen. Diese sind mehr oder weniger stark, je nach meinem allgemeinen Wohlbefinden. Ich bin empfindlich für Licht und, seit ich sie wieder habe, auch für Geruch und Geschmack. Ich liebe mein Schlafzimmer, das mir auch als Büro dient, denn es ist ziemlich dunkel. Es gab Zeiten, in denen ich mich minimalistisch einrichten musste, um meine Sinne zu beruhigen, besonders direkt nach der Wiederherstellung von Geruch und Geschmack.

    Ich scheine sehr detailorientiert zu sein, denn ich baue mir in meinem Kopf ein ziemlich ganzheitliches Netz der Welt und meiner Interpretation davon auf und kommuniziere dann oft nur die Ungereimtheiten oder Löcher in meinem Modell, um es weiterzuentwickeln, und die können ziemlich detailorientiert sein. Ohne den Kontext könnten die Leute denken, dass ich mich nur für diese Details interessiere und das grosse Ganze nicht sehe, und ehrlich gesagt habe ich es aufgegeben, ihnen zu zeigen, dass es genau das Gegenteil ist.

    Ich sage auch gerne die Wahrheit, wohl wissend, dass Wahrheit subjektiv ist, und erwarte, dass andere ihre Meinung sagen oder weitere Fragen stellen. Ich weiss, dass ich damit provoziere, aber ich habe es satt, Dinge zu beschönigen. Ich weiss, wie wichtig es ist, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind, aber ich sehne mich in dieser Hinsicht nach Gegenseitigkeit. Warum kann ich die Dinge nicht einfach so sagen, wie ich sie sehe? „Was wir Gemeinschaften nennen, sind oft gar keine Gemeinschaften, und was wir Dialog nennen, ist meist ein oberflächlicher Abklatsch und eine schlechte Kopie dessen, was Dialog wirklich ist.“ Das sind Sätze, die ich gerne als Kommunikationsstarter aussprechen würde. Sie haben nichts Emotionales an sich, sie sind einfach nur Hypothesen, über die man reden kann. Ich verstehe die Emotionalität nicht, die sie auslösen.

    Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, das meiste davon auszublenden. Ich habe gelernt, mich zurückzuziehen, wenn ich überwältigt bin. Ich habe mir eine Menge Persönlichkeitsanalysen beigebracht, um Menschen besser zu verstehen, und meine Coachees denken, dass ich sie lesen kann, während ich ihnen nur einige Aspekte ihrer Persönlichkeit aus den Büchern spiegele. Aber da ich diesen ganzheitlichen Rahmen aufbaue, ist es anspruchsvoller, als nur Klischees zu äussern. Ich halte mich mit meinem Humor zurück und habe mir selbst eine gewisse Fähigkeit zum Smalltalk beigebracht, obwohl ich immer noch an seiner Notwendigkeit zweifle. Für mich verhindert Smalltalk echte Gemeinschaft, anstatt sie zu ermöglichen, weil wir in der Regel nicht tiefer gehen.

    Man hat mich einen guten Zuhörer genannt, weil ich so tun kann, als wäre ich interessiert, während ich mich in meinen Parakosmos im Kopf zurückziehe.

    In meinem Kopf laufen hundert Dialoge gleichzeitig ab, derer ich mir bewusst bin. Jeder davon arbeitet an einem anderen Teil meiner Ontologie der Welt, de- und rekonstruiert sie, fügt Details oder neue Verbindungen hinzu oder geht sie einfach nur in der Breite oder Tiefe durch, um Fragen zu beantworten, die ich mir selbst gestellt oder aus der Umgebung aufgeschnappt habe. Wenn ich zu dieser Fülle an Kommunikation noch Echtzeitgespräche hinzufüge, fühlt sich das oft als zu viel an.

    Ich sehe Autismus definitiv als meine Superkraft an, zusammen mit einer hohen intellektuellen und existenziellen Intelligenz. Aber wie bei den meisten Superhelden haben die Menschen Angst vor uns, fühlen sich minderwertig und sehen uns als Bedrohung an, die sie stereotyp in die Schublade der neuronalen Störungen stecken müssen.

    Das bringt uns zurück zu dem Begriff Autismus.

    Für mich liegt Autismus einfach am Rande der Möglichkeiten, wie wir die Welt interpretieren. Wie bei der allgemeinen intellektuellen Intelligenz, wo die meisten Menschen zwischen 85 und 115 auf der IQ-Skala liegen, werden diese Randbereiche als ausserhalb der Norm liegend angesehen. Das sind sie auch, denn die Norm wird von der Mehrheit festgelegt. Es mag andere Randfälle geben, wie Empathen oder hochsensible Menschen.

    Aber ich möchte Autismus nicht als abnorme Wahrnehmung der Welt bezeichnen, weil wir dem Wort abnormal einen negativen Wert zugewiesen haben. Im Moment tendiere ich zu dem Begriff neuro-atypisch in der grossen Welt der Neuro-Diversität, der sicherlich all die Arten des Denkens und des Weltverständnisses einschließt, die wir als normal bezeichnen würden und die ich als fade bezeichnen würde, wenn ich meine Meinung sagen würde.

  • Wir haben gewonnen – über den freien Willen

    Alle reden heute über Verschwörungstheorien, den Mangel an Verständnis, aber auch über Rebellion und den Mangel an Unterordnung.

    Kunst und Kultur sind oft der Raum, in dem Probleme offensichtlich und Lösungen zumindest angedeutet werden.

    Das ist mir wieder bewusst geworden, als ich den Film „Assassin’s Creed“ gesehen habe, der auf den gleichnamigen Computerspielen basiert.

    Darin gibt es zwei Gruppen: die Templer und die Assassinen. Während die Templer auf der Suche nach dem Apfel von Eden sind, einem Artefakt, das das Genom des freien Willens enthält und es ermöglicht, Menschen zu kontrollieren, indem es ihnen den freien Willen nimmt, schützen die Assassinen den Apfel mit ihrem Leben.

    Im Film befinden wir uns in der heutigen Zeit. Moderne Technologie wird eingesetzt, um den Apfel in der Vergangenheit zu finden, nämlich im Jahr 1492.

    In einer Besprechung über diese Versuche, in der es um die enorme finanzielle Seite des Experiments geht, findet dieser Dialog statt:

    Wir haben gewonnen. Die Menschen sorgen sich nicht mehr um ihre bürgerlichen Freiheiten, sondern um ihren Lebensstandard. Die moderne Welt ist aus Begriffen wie Freiheit herausgewachsen. Sie begnügen sich damit, zu folgen.

    Die Bedrohung bleibt bestehen, solange der freie Wille existiert. Jahrhundertelang haben wir mit der Religion, der Politik und jetzt mit dem Konsumverhalten versucht, abweichende Meinungen auszuschalten. Ist es nicht an der Zeit, dass wir es mit der Wissenschaft versuchen?“

    Als ich das sah und hörte, wurde ich sofort an viele Dinge erinnert. Zum einen an die Situation, in der wir uns jetzt befinden. Wie leicht könnte dieser Dialog genutzt werden, um zivilen Ungehorsam und Verschwörungstheorien zu rechtfertigen.

    Aber alle Versuche, einfach nur zu rebellieren, spielen den Templern in die Hände und geben ihnen noch mehr Grund, ihr Tun zu rechtfertigen.

    Es ist so einfach. Fordere die Menschen einfach auf, der Wissenschaft zu glauben.

    Dann kamen mir die vier Reiter der Offenbarung in den Sinn. Denkt daran: Religion, Politik, Konsum und Wissenschaft.

    Stell dir die Religion als das erste Pferd vor, den Sieger, der kommt, um noch einmal zu siegen. Klingt das nicht wie Jesus, der den Tod besiegt hat und zurückkommt, um über alle zu siegen, die sich ihm nicht unterwerfen? Das erinnert mich an die vorherrschende Interpretation der Geschichte Gottes.

    Denk an die Politik, die den Frieden von der Erde nimmt und die Rebellion auf jede erdenkliche Weise unterdrückt.

    Denk an den Konsumerismus, der die Märkte zu neuen Höhen treibt. Heute ist eines der Probleme, das die Menschen mit der Pandemie haben, der Mangel an Konsumgütern, weil die Versorgungsketten zusammengebrochen sind.

    Und denk an die Wissenschaft als Tod. Die Wissenschaft ist die treibende Kraft hinter unserem Wachstum und unserer Entwicklung und zerstört den Planeten, auf dem wir leben.

    Die Herausforderung, vor der wir stehen: Alle vier sind wertvolle Teile der Lösung, aber auch die treibenden Kräfte des Problems.

    Zurück zu den Verschwörungstheorien. Sie sind keine Ausübung des freien Willens, sie sind kein Teil der Lösung. Sie sind eine weitere primäre Integration, denn die meisten Menschen folgen einfach einer anderen Erzählung, die ihren egoistischen Instinkten entgegenkommt. In diesen Geschichten steckt keine Kreativität, sondern nur die Verblendung der Massen.

    Im Film will die leitende Wissenschaftlerin, die Tochter eines der führenden Tempelritter, die Gewalt ausrotten und wird von den Tempelrittern und ihrem eigenen Vater verraten, weil diese nur die Kontrolle wollen.

    Am Ende, als die Assassinen gewinnen und ihr Vater getötet wird, schließt sich die Tochter, nachdem sie den Verrat erkannt hat, der dunklen Seite an und schwört Rache. Sie wird die Assassinen bekämpfen.

    Ihre menschlichen Versuche, Freiheit und Frieden herbeizuführen, scheitern, und die Gewalt der Assassinen, die die falschen, absolut menschlichen Mittel zum Schutz der persönlichen Freiheit einsetzen, bringt sie selbst zur Gewalt. Gewalt zieht weitere Gewalt nach sich.

    Das Gleiche sehen wir heute. Sei es der Sturm auf das Kapitol oder woke Proteste wie BLM, seien es fundamentalistische Evangelikale, rechte White Supremacists oder linke Antirassisten. Manchmal wird eine gute Sache zu weit getrieben, mit den falschen Mitteln, und Gewalt, Polarisierung und Dualismus entstehen.

    Werfen wir einen Blick auf das „Assassin’s Creed“:

    Wo andere Menschen blind der Wahrheit folgen,
    Vergiss nicht: Nichts ist wahr.
    Wo andere Menschen durch Moral oder Gesetz eingeschränkt sind,
    Vergiss nicht, dass alles erlaubt ist.
    Wir arbeiten in der Dunkelheit, um dem Licht zu dienen.

    Ich glaube, dass darin viel Wahrheit steckt.

    Die meisten Menschen sind primär integriert und folgen blind dem, was man ihnen zu glauben vorgibt. Es ist so wichtig, die Freiheit zu haben, alles zu hinterfragen und nichts für die absolute Wahrheit zu halten, bis es als wahr erwiesen ist.

    Die meisten Menschen halten sich an soziokulturelle Grenzen, unterwerfen sich bereitwillig dem Gesetz und der Moral. Aber Paulus sagt uns, dass alles erlaubt ist, aber nicht alles nützlich ist.

    Wir finden in diesem „Glaubensbekenntnis“ zwei grundlegende Wahrheiten für unsere Suche nach Gott: Lass nichts unversucht und schließe nichts aus, nur weil es dir gesagt wird.

    Aber was uns zu einer Reise aufruft, die den Drachen des Egos bekämpft, wird, wenn es externalisiert wird, zu einer zerstörerischen Art, für unsere egoistischen Rechte zu kämpfen.

    Freier Wille und persönliche Freiheit sind nicht dazu da, den anderen um jeden Preis zu verletzen und einzuschränken, sondern um in mir das wahre Selbst zu entwickeln, die reife Person, die durch freien Willen integriert ist, nicht durch egoistisches Gedeihen und Gruppendruck.

    Wir arbeiten in der Dunkelheit, um im Licht zu dienen. Ich sehe das als eine jungianische Aussage: Wir arbeiten an unseren Schatten, um Träger des Lichts in unserer Gesellschaft zu sein.

    Kämpfe nicht gegen die Drachen da draußen. Kämpfe gegen den inneren Drachen.

    Das Himmelreich, das Jesus so gut gesehen hat, ist eine Vision dieser Welt, in der es keine Trennung (Dualität) zwischen den Menschen gibt.

    Jim Marion

    Aber nicht die Einheit durch Kontrolle und Zwangskoordination, auf Deutsch Gleichschaltung (ein Begriff der Nazis). Einheit der Individuen aus freiem Willen.

  • Parakosmos

    Ich habe ein neues Wort gelernt: Parakosmos.

    Wikipedia (aus dem Englischen) definiert es so:

    Einfach ausgedrückt, ist ein Parakosmos eine detaillierte, imaginäre Welt, die typischerweise in der Kindheit erfunden wurde und im Laufe der Zeit im Geist ihres Schöpfers lebt und wächst.

    Wir kennen die Parakosmen verschiedener Personen, wie z.B. J.R.R. Tolkiens Mittelerde, C.S. Lewis‘ Narnia oder die Matrix aus den entsprechenden Filmen.

    Mein Parakosmos ist eine Welt rund um ein Kloster mit einer riesigen Klosterbibliothek, in der ich neue Parakosmen entwickeln kann.

    Es gibt aber einen wesentlich grösseren Parakosmos: die Welt Gottes. Gott umschliesst den Kosmos vollständig, ist aber so viel mehr.

    Vielleicht kommt unser Drang, Parakosmen zu entwickeln, gerade daher: wir wissen, dass diese Wirklichkeit nicht alles sein kann.

    Wie sagt es Hermann Hesse:

    Ich finde die Wirklichkeit ist das, worum man sich am wenigsten zu kümmern braucht, denn sie ist, lästig genug, ja immerzu vorhanden, während schönere und nötigere Dinge unsere Aufmerksamkeit und Sorge fordern.

    Doch gehen wir einen Schritt zurück:

    Nicht jeder hat den Wunsch, einen Parakosmos zu entwickeln. Die meisten Menschen sind zufrieden mit der Wirklichkeit. Mit Elan stürzen sie sich in das Leben, das sie als real empfinden. Oder sie haben genug damit, sich dieser Realität zu stellen.

    Doch wie steht es um die, welche in dieser Realität keinen Platz finden?

    Intuitive kreative Menschen zum Beispiel. Menschen, die alles hinterfragen, die sich nicht mit der erst besten Antwort zufrieden geben. Menschen, die einen starken inneren Drang nach Authentizität haben?

    Wir finden diese Menschen in den heutigen Kategorien Hochbegabt, Hochsensibel, Künstler, aber leider viel zu oft auch in den pathologischen Kategorien der Psychiatrie.

    Ein Parakosmos kann zweierlei sein: eine Weltflucht oder ein Blick hinter die Kulissen. Hermann Hesse meint Zweiteres, wenn er von schöneren und nötigeren Dingen spricht, die unsere Aufmerksamkeit und Sorge fordern.

    Während die meisten Christen Mittelerde als Weltflucht, den Glauben aber als Blick hinter die Kulisse definieren würden, leben sie genau das Gegenteil.

    Die Abschottung der meisten Christen in Kirchengebäuden, die Verweigerung, an grossen Teilen der kulturellen Wirklichkeit teilzunehmen, das Vokabular, das die Welt in zwei Lager der Geretteten und Verlorenen unterteilt, aber vor allem die Doktrin, dass wir in den Himmel kommen und dass Jesus bei seiner Wiederkunft Gerechtigkeit herstellen wird, ist eher der Wunsch nach Weltflucht als ein Blick hinter die Kulissen.

    Das drückt sich aus im sehnsüchtigen Warten auf das Ende dieser Welt. Das kann im Moment wieder festgestellt werden: die Impfung als Zeichen des Antichristen, die Pandemie als Beginn der Endzeit.

    Aber wie kommt man dazu, einen solchen Parakosmos überhaupt zu entwickeln?

    Ja, es gibt diejenigen, welche sich aus Furcht vor der realen Welt in eine Fantasiewelt zurückziehen. Aber viel öfter geht es darum, dass sie wahrnehmen, dass es mehr geben muss als die jeweilige Kultur, in der sie leben, als die Werte, die ihnen gelehrt werden.

    Der einfache Weg aus diesem Dilemma ist die Annahme, dass die reale Welt zweigeteilt sei: eine Minderheit, welche der Mehrheit etwas vorspielt und sie manipuliert.

    Basierend auf tatsächlich vorkommenden Verschwörungen wird ein Szenario entworfen, wie wir es tausendfach in gerade dieser Zeit erfahren: die Menschen mistrauen der herrschenden Kultur mit ihrer Hierarchie und Werten so sehr, dass sie alles glauben, was aus anderen Quellen stammt.

    Es gibt ja nur richtig oder falsch, und die herrschende Hierarchie ist mit Sicherheit falsch, weil sie sich an ihrer Macht festklammern will. Dies erreicht sie nur dadurch, dass sie uns die Wahrheit verschweigt.

    Und so werden die abstrusesten Verschwörungstheorien geboren. Einzige Legitimation: der, der sie entwickelt, ist ausserhalb der herrschenden Hierarchie, also muss er die Wahrheit sagen.

    Im Grunde genommen ist die Matrix genau so ein Parakosmos: die Herrschaft der Maschinen über die Menschheit.

    Doch es gibt auch andere Parakosmen. Parakosmen, bei denen nicht die Befreiung von Unterdrückung im Zentrum steht, sondern ein Idealbild uns zur weiteren Entwicklung unserer selbst animiert.

    Mittelerde zum Beispiel, oder die Bibel sind archetypische Geschichten, welche durch eine gewisse Distanz einen Blick auf die Realität erlauben, ohne uns zu nahe zu treten.

    Parakosmen also, welche es uns erlauben, den Sinn der Realität zu erhaschen, wo dieser Sinn zu komplex ist, um ihn im täglichen Leben zu erkennen, oder uns auf unsere Schattenseiten aufmerksam zu machen, ohne sie direkt ansprechen zu müssen.

    So zeigt uns die Welt der Bibel nicht, wie die Realität sein muss, sondern wie sie ganz tief in ihrem Innersten ist. Es geht nicht um Regeln, um etwas zu erreichen, sondern um Prinzipien, um etwas zu verstehen.

    Facebook und Microsoft möchten einen solchen Parakosmos erschaffen, das Metaverse. Die Beschreibungen, welche wir davon haben, lassen uns aber erahnen, dass es sich dabei mehr um eine Augmented Reality handeln soll (nicht nur im technischen Sinne). Ein Abbild der Realität mit gewissen Änderungen, wo ich mich z.B. als Avatar geben kann, wie ich will, um das zu tun, was wir schon in dieser Welt tun: konsumieren und Geheimnisse über uns preisgeben.

    Ein Parakosmos ist für mich allerdings ein Platz, an dem ich verstehen lerne, nicht ein Ort, an dem ich tue, was ich in der Realität tun könnte, nur mehr, schneller, einsamer.

    Auf eine ganz praktische Art hilft ein Parakosmos bei der persönlichen Entwicklung. Sei es das ideale Selbstbild, das mich zur Veränderung motiviert und durch die fünf Ebenen der positiven Desintegration führt, oder das grössere Bild der rechten Hirnhälfte, welches sozusagen als alternatives Bewusstsein eine bessere Erklärung der Welt schafft, oder das nächste Wertemem von Spiral Dynamics. Oder unsere ganz persönliche Fantasiewelt.

    Oft erscheint uns der Wunsch, Elemente unseres Parakosmos in der Realität zu integrieren, oder gar unser Verständnis der Welt entsprechend anzupassen, als weltfremde Fantasterei – bis es jemand tut.

    Leider ist es so, dass der Parakosmos schlechthin, das Reich Gottes, mit seinem Erzählbuch, der Bibel, nicht in diese Richtung angewandt wird, sondern mit den Regeln dieser Welt erklärt werden soll.

    Natürlich wird jetzt jeder Christ aufschreien: das tun wir gerade nicht. Wir wollen ja, dass sich alle anders benehmen, als es im Moment geschieht, als es die Welt (sprich die anderen) jetzt tun.

    Das ist richtig, aber das Modell, welches verwendet wird, ist eine mit den moralischen Vorstellungen der traditionellen Weltanschauung idealisierte Realität durch die Sicht der Erkenntnis von Gut und Böse. Die Realität ist eine Wirklichkeit, verstanden durch die Polarisierung, die Kategorisierung. Und so interpretieren wir die Bibel als Massstab im Sinne eines Gesetzeswerkes, einer Verfassung, einer Regelsammlung, entlang derer wir die Welt kategorisieren.

    Kurz gesagt, wir wenden die Regeln der Realität auf den Parakosmos an.

    Parakosmen helfen uns, die Regeln dieser Realität zu sprengen. Unsere eigenen Parakosmen sind ein Übungsfeld, damit wir immer wieder die Regeln und unsere Sicht auf diese Welt anpassen und sprengen können.

    Hast Du einen Parakosmos?

  • Die Folgen der Schöpfungsgeschichte

    Immer wieder überlege ich mir, welche Folgen unsere Bibelinterpretationen für uns haben.

    Bei der Offenbarung ist klar: die Naherwartung führt in massiven Krisensituationen zu einer Kurzsichtigkeit in der Gemeinde, weil sie jetzt die Wiederkunft Jesu, die Entrückung, das grosse Aufräumen und das Ende erwarten.

    Dies führt dazu, dass die meisten Christen sich keine Gedanken um das Danach machen, sich auch keine Lösungsansätze überlegen, und oft sogar die Lösungen boykottieren, welche vorgeschlagen werden, um dem Plan Gottes nicht zuwider zu handeln und dem Feind nicht in die Hände zu spielen. Siehe aktuell die Impf-Diskussion.

    Wie steht es mit dem anderen Ende der Geschichte?

    Die Schöpfungsgeschichte geht davon aus, dass alles perfekt begann und dass der Mensch es verbockte. Seither ist das Ziel, den Menschen zurückzuführen in die verlorenen paradiesischen Verhältnisse.

    Nimmt man beide Auslegungen zusammen, folgt die Aussage, die so manch bibeltreuer Christ verinnerlicht hat: es wird alles immer schlimmer.

    Das darin verborgene Prinzip ist Folgendes: Früher war alles besser. Würden wir nur zur Moral und Ethik von früher zurückkehren, wären wir mindestens einen Schritt näher am Paradies, am Himmel.

    Natürlich hat der durchschnittliche Christ frustriert aufgegeben, resigniert, kapituliert, denn die meisten Menschen werden nie zurückkehren und Gottes Wort akzeptieren. So steht es geschrieben.

    Zum Glück gibt es die Auslegung, dass vor der Trübsalszeit die grosse Erweckung komme, die grosse Ernte. Zwar geht dies in Krisenzeiten oft vergessen, denn jetzt sind wir ja in der Trübsalszeit angekommen, ohne dass diese grosse Ernte geschah, aber dann wird einem klar: was jetzt geschieht, sind nur die Vorwehen der unmittelbar bevorstehenden Trübsalszeit, die Ernte ist also noch möglich.

    Doch wie wird diese Ernte hervorgebracht: Gott muss es machen, aber es wird auch ein Zurück zu den alten Werten beinhalten.

    So werden die alten Werte gepredigt.

    Was ich hier sehr überspitzt gezeichnet habe, macht klar, dass das Christentum aufgrund seiner Bibelinterpretation ein an und für sich zukunftsloses, rückwärts gewandtes Weltbild vertritt. Die Zukunft findet nur in der Ewigkeit statt.

    Der Auftrag, dass wir uns um diese Erde kümmern sollen, ist vergessen. Wir legen die Hände an den Pflug und schauen wehmütig zurück. Wir schauen zurück in diese Zeit, die es wieder herzustellen bedarf, und reden uns ein, dass Jesus mit der Rückschau die Sehnsucht nach dem alten Leben vor der Bekehrung gemeint hat, dort in dem Vers, der das Zurückschauen als nicht geeignet für das Königreich Gottes beschreibt.

    Alle unsere Probleme werden reduziert auf den Kampf zwischen Gut und Böse aufgrund unserer Fehlentscheidung im Garten Eden.

    Wenn wir aber die Schöpfungsgeschichte als archetypische Erzählung unseres Erwachens als bewusste und selbstbewusste Kreaturen, erschaffen von Gott in einer Evolution über Milliarden von Jahren verstehen, als Gedicht, welches die Erinnerung wachhält an diesen wunderbaren Moment der Bewusstwerdung, an die Tatsache, dass Gott hinter all dem steckt, sieht alles anders aus.

    Sehen wir die Offenbarung zusätzlich als Beschreibung unseres inneren Kampfes zwischen wahrem Selbst und Ego, ergibt sich ein ganz anderes Bild.

    Es ergibt sich ein wunderbares Gemälde von im Trend anhaltendem Fortschritt mit Auf und Ab, aber stetiger Entwicklung.

    Gott, der Unfassbare, Unbegreifliche, grösser als all unser Verständnis, inkarniert sich selbst in der Schöpfung und lässt sie wachsen. Er durchwebt alles und schenkt stetig Leben.

    An einem bestimmten Zeitpunkt schenkt er freien Willen und Bewusstsein, welches sich in ihm, durch ihn, und trotzdem frei entwickelt und zu seinem Ansprechpartner wird.

    Gott wird in der Schöpfung zum Du, zum Gegenüber, zum sichtbaren und begreifbaren Wesen, ohne seine erste Natur des Allumfassenden, Unbegreiflichen loszulassen.

    Und Gott ist die Schöpfung, ohne dass die Schöpfung alles von Gott wäre. Er ist so viel grösser als alles. Und doch wird er im Menschen zum Ich. Jeder Mensch ist Ausdruck Gottes, wie ein Sohn ein Ausdruck des Vaters ist, bewusst oder unbewusst.

    Gott inkarniert ein weiteres Mal in Jesus. So wird Jesus zum Vorbild für menschliches Leben, dafür, was möglich ist.

    In diesem Bild hat Gott drei Gesichter: das unbegreifliche Es, das erlebbare Du, das werdende Ich.

    In diesem Gemälde hat die Menschheit eine neue Richtung: vorwärts, aufwärts, tiefer hinein und höher hinauf, um wieder einmal mit C. S. Lewis zu sprechen.

    Und dieses tiefer hinein und höher hinauf ist nun nicht mehr nur individueller moralischer Natur, sondern zeigt eine Entwicklung auf vom Big Bang über den Einzeller zum zukünftigen Menschensohn. Und damit meine ich nicht nur den wiederkehrenden Jesus.

    Durch die traditionelle Auslegung der beiden Geschichten als historisch-faktische Beschreibungen des Anfangs und des Endes der Schöpfung in diesem Raum wird die fundamentalistisch-evangelikale Gemeinde und ein Grossteil des übrigen Christentums nicht Treibkraft und Hoffnungsträger dieser Entwicklung, sondern Bremsklotz und Verhinderer.

    Um es klar auszudrücken: dieses Christentum verpasst seinen göttlichen Auftrag.

    Versteht mich nicht falsch: vieles an der Gemeinde ist positiv, und es gibt eine Zeit und einen Ort für ihre grundsätzliche Art, ihr Menschenbild, ihre Struktur, ihr Wesen.

    Gott selbst hat diese Struktur ins Leben gerufen, damit der Mensch eine bestimmte Entwicklungsstufe überhaupt erreichen und durchleben kann.

    Das einfache, ja sogar simplizistische Weltbild der Gemeinde ist dafür geeignet, Kinder aus der Trotzphase in einen grösseren Gemeinschaftssinn hinein zu führen. Es ist das, was die Schule heute leistet, vom Kindergarten bis zur Pubertät.

    Es ist das, was das Gesetz geleistet hat vom Auszug aus Ägypten bis hin zu Jesus.

    Es ist das, was traditionell denkenden Menschen heute Halt gibt und ihnen einfache, verständliche Erklärungen bietet für das, was sie erleben und sehen.

    Es ist aber kein Weltbild, das hilft, die heutigen Probleme zu lösen und die nächsten Schritte auf unserem Weg, in unserer Entwicklung zu gehen. Es ist eine notwendige Voraussetzung, genügt aber nicht.

    Wie sehr unser Weltbild uns beeinflusst, ist mit jedem Thema sichtbar, dass eine moralische Komponente enthält. Sei es die Ehe für alle, Abtreibung, die Genderpolitik im Allgemeinen, wir reduzieren alles auf richtig oder falsch.

    Interessanterweise sollte doch gerade die traditionelle Sicht der Schöpfungsgeschichte uns eines besseren belehren: die Entscheidung für den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse war dort die falsche Entscheidung. Warum nur reduzieren wir die Probleme der Menschheit dann immer noch entlang dieser Dimension?

    Jesus selbst lehrt uns, nicht zu richten, nicht in richtig oder falsch zu kategorisieren, sondern in Liebe auf den Menschen einzugehen.

    Doch zurück zum neuen Interpretationsansatz: hatte die Schöpfung, hatte die Menschheit den eine Wahl?

    Die Schöpfung hat zu jeder Zeit die Wahl. Gott ist das Reservoir der Möglichkeiten, der uns berät und dahin führen möchte, die bestmögliche Wahl zu treffen. Die Schöpfung und damit wir treffen die Wahl und schaffen so eine neue Ausgangssituation für die nächste Wahl, mit neuen Möglichkeiten.

    Die Schöpfung hat sich entschieden. Der noch unbewusste Mensch hat die Entscheidung getroffen, sich seiner selbst und seiner Umgebung bewusst zu werden. Jetzt leben wir alle, inklusive Gott, mit dieser Wahl.

    Wir wissen nicht, ob andere Wege einfacher gewesen wären, wir wissen nur, dass sie existiert hätten, wie uns die Schöpfungsgeschichte erklärt. Aber wieder einmal möchte ich mit C. S. Lewis antworten: „Frage nie, was wäre wenn.“

  • Gedanken zur Abtreibung

    Vor ein paar Tagen hat ein texanisches Gericht das sogenannte Herzschlaggesetz vorläufig gestoppt. Die Regierung in Washington hatte geklagt.

    Das Herzschlaggesetz sagt hauptsächlich zwei Dinge: sobald das Herz des Kindes hörbar schlägt, darf nicht mehr abgetrieben werden, und alle, die jemandem bei einer Abtreibung helfen, dürfen von jedem in einem Zivilprozess verklagt werden. Es reicht schon, wenn ich jemanden zu einem Abtreibungstermin fahre.

    Ich werde jetzt nicht politisch, keine Angst.

    Ich empfinde Abtreibung als ein komplexes Thema. Was ich heute darüber schreibe, soll nicht meine eigene Meinung darstellen, sondern eine Sammlung von Gedanken, die meiner Meinung nach in die Meinungsbildung einfliessen müssen.

    Die einfachste Art, mit Abtreibung umzugehen, ist sie als von Gott verboten darzustellen. Dann muss ich nicht weiter darüber nachdenken.

    Die Gegenseite hat es nicht so einfach. Wenn Gott nicht existiert, dann haben wir als Menschen wohl doch eine moralisch-ethische Verpflichtung gegenüber dem Leben.

    Selbst wenn wir dies leugnen, dann sollte doch die evolutionäre Arterhaltung dafür sprechen, dem Kind einen höheren Stellenwert zu geben als der älteren Generation, speziell der Mutter. Das Kind hat die grössere Chance und mehr Zeit, die Art weiter zu verbreiten und am Leben zu halten.

    Natürlich ist dies hauptsächlich dann der Fall, wenn das Kind gesund ist. Pränatale Diagnostik könnte demnach beigezogen werden, um diese Chancen zu bewerten.

    Allerdings müsste eine solche Bewertung sehr selektiv und in wenigen Fällen dem Wohl der Mutter mehr Gewicht beimessen, ist es doch wichtig, einen diversen Genpool sicherzustellen. Insofern sind Mutationen und Abweichungen von der Norm wünschenswert.

    Bei einer moralisch-ethischen Verpflichtung geht es um den Schutz des Lebens in Abwägung zu hedonistisch egoistischen Betrachtungen oder der Überzeugung, dass es unverantwortlich ist, überhaupt Leben in diese Welt zu setzen.

    Letzteres kann einfach gelöst werden, entweder radikal durch Unterbinden oder mit einem gewissen Risiko durch Verhütung. Diese Lösungen ermöglichen es auch, Sex einfach aus Spass zu haben, ohne die Folgen fürchten zu müssen. Natürlich besteht bei der Verhütung ein durchaus respektables Restrisiko.

    Die Möglichkeit, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden, hat zur Folge, dass die radikale Lösung der Unterbindung weniger gewählt wird, und wir uns so die Möglichkeit erhalten, in der Zukunft unsere Meinung über Nachkommenschaft zu ändern.

    Sie hat natürlich auch zur Folge, dass die Achtsamkeit beim Sex tendenziell nachlässt. Sex verliert seinen primären Sinn der Fortpflanzung, wird enttabuisiert, und verliert so auch an Wert oder, wie gläubige Menschen es ausdrücken würden, an Heiligkeit.

    Monogamie scheint evolutionäre Vorteile zu haben, speziell für die Frau. Die Sicherheit einer Beziehung in Bezug auf Versorgung, körperlichen Schutz, Krankheiten, und Unterstützung bei der Erziehung steht der Vielfalt des Genpools gegenüber. Auch der Mann hat einen evolutionären Vorteil in der Sicherheit, dass seine Gene weitergegeben werden.

    Zusätzlich führt die Monogamie dazu, dass mehr Männer eine Partnerin finden. Das hat wiederum zur Folge, dass weniger aggressives Potential vorhanden ist und in Kriegen ausgelebt wird. Monogamie führt zu friedlicheren Zeiten.

    Die Vorteile intakter Beziehungen ergeben sich hauptsächlich aus der Tatsache, dass ein menschliches Kind eigentlich zu früh geboren wird. Die Grösse des Kopfes macht eine frühe Geburt und die daraus folgende jahrelange Pflege des Kindes notwendig.

    Monogamie scheint auch moralisch-ethische Vorteile zu haben, und sie liegen in denselben Bereichen: die gegenseitige Unterstützung beim Erziehen der Nachkommen, die Treue.

    Natürlich wird es bei den moralisch-ethischen Gründen schon schwieriger, denn diese sind abhängig von der Weltanschauung der Partner und der Gesellschaft.

    Hier geht es um die Gestaltung der Wertehierarchie: wird persönliche Freiheit höher gewertet als Treue oder das Recht des anderen?

    Nach Auffassung der meisten hat der Staat die Aufgabe, das Leben seiner Bürger zu schützen. Er tut das militärisch gegen Angriffe von Aussen, durch medizinische Versorgung, soziale Aufgaben, Strafverfolgung und vieles mehr.

    Eine mögliche Aufgabe ist der Schutz der Schwächsten, und dazu zählen viele das ungeborene Kind.

    Jetzt kann man geteilter Auffassung sein, wann Leben beginnt. Ist eine befruchtete Zelle bereits Leben, oder nur das Potential dazu? Wie steht es mit einem Zellhaufen? Die katholische Kirche hat bereits Samen und Ei als potentielles Leben betrachtet und daher die Verhütung verboten. Das alte Testament der Bibel allerdings legt fest, dass das Leben im Blut liegt, welches erst nach Tagen gebildet wird. So die traditionelle Auslegung.

    Es sind einige Betrachtungsweisen möglich: der Moment der Zeugung, die 12. Woche, der Moment der Geburt. Allerdings könnte man durchaus auch sagen, dass ein Kind erst dann schützenswert ist, wenn es selbständig überleben kann. Das ist, je nach Betrachtungsweise, nach ein paar Monaten Schwangerschaft oder erst einige Zeit nach der Geburt möglich.

    Über eine Betrachtungsweise scheint im Allgemeinen eine einheitliche Meinung zu bestehen: ein Kind, welches geboren wurde, ist ein Mensch und daher schützenswert.

    Eine andere Frage ergibt sich aus der Aufgabenstellung des Staates: wenn es darum geht, Leben zu schützen, dann sollte dies vom Staat her ab dem Zeitpunkt geschehen, an dem Leben besteht. Dazu sollte ein bestmöglicher Konsens gefunden werden.

    Vorher allerdings sollte der Staat sich nicht einmischen. Allerdings liesse sich durchaus einwenden, dass eine nicht verbotene Abtreibung möglichst sicher sein sollte für die Mutter. Eine entsprechende medizinische Versorgung sollte zugänglich sein. Dies entfällt natürlich nicht, wenn Abtreibung verboten ist, denn nicht alle halten sich an die Gesetze, und es wird möglicherweise aus moralisch-etischen Gründen Situationen geben, in denen eine Abtreibung durchaus wünschenswert ist. Dann sollte diese sicher und zugänglich sein.

    Ist eine Versicherungslösung richtig? Private Versicherungen haben immer eine Maximierung des Gewinns vor Augen, und sie finden im Gesundheitswesen heute einen durchaus willigen Partner. Was also ist gewinnversprechender: Abtreibung oder Austragen des Kindes? Das kommt auf die Ausgestaltung der Kosten, die Betrachtung der Folgekosten, und den zeitlichen Betrachtungshorizont an.

    Leider sind Versicherungen, wie fast alle Unternehmen heute, durch ihre Ausrichtung auf die Shareholder zu kurzfristigem Denken verurteilt. Auch ist der Markt durchaus gross genug und durch die wachsende Lebenserwartung mit entsprechenden Krankheiten auch lukrativ genug, so dass ein Fötus nicht als potentieller lebenslanger Kunde betrachtet werden muss.

    Die Ausgestaltung der Kosten wird häufig teilweise staatlich gelenkt und nur teilweise vom Markt bestimmt. Hier hat die Gesellschaft durch die staatliche Lenkung einen Hebel, aber auch durch Angebot und Nachfrage.

    Leider entfällt heute häufig ein weiterer Hebel: dem Personal im Gesundheitswesen wird oft die persönliche Freiheit abgesprochen, sich gegen oder für die Teilnahme an Abtreibungen zu entscheiden.

    Staatliche Versicherung scheint auf den ersten Blick also besser, da nicht von Marktkräften gesteuert. Alternativ kann der Staat die Umstände beschreiben, unter welchen eine Abtreibung von den Versicherungen übernommen werden muss, so dass legal vorgenommene Abtreibungen unter bestmöglichen Umständen durchgeführt werden können.

    Wieder sind wir bei der Gestaltung der Wertehierarchie angelangt: was bestimmt die Legalität einer Abtreibung. Mögliche Kriterien sind Krankheit der Mutter oder des Fötus, Vergewaltigung, Lebensqualität, Bevölkerungsdichte, persönlicher Glauben.

    Der Staat oder der Markt können durchaus alternative Lösungen zur Abtreibung anbieten: private oder staatliche Adoption, Babyfenster, aber vielleicht wird es sogar einmal möglich sein, früh erkannte Schwangerschaften von anderen Müttern austragen zu lassen (anstelle von In-Vitro-Schwangerschaften), verbesserte Verhütungsmethoden, finanzielle Unterstützung, verbesserten Kündigungsschutz, Kindertagesstätten usw.

    Die Gesellschaft könnte einen Wertewandel erleben hin zu alternativen Lebensmodellen und Abbau von Tabus und Diskriminierung.

    Wir sehen, Abtreibung ist ein heikles, vielschichtiges Thema, und ich bin noch nicht einmal auf Vergewaltigung, Inzest und Überlebenssicherung der Mutter zum Beispiel bei Immunreaktionen eingegangen.

    Aber ich habe implizit eines aufgezeigt, das ich jetzt nicht explizit machen will: der Staat ist nicht per se eine religiöse Instanz, welche die göttlichen Gesetze, so sie dann eindeutig interpretiert werden können, durchzusetzen hat. Der Staat organisiert gewisse Teilbereiche des kommunalen Zusammenlebens.

    In einer Demokratie ist die ausschlaggebende Moral, die die Gesetze schreibt, die Moral der Mehrheit. Vom Fundamentalisten bis zum Egoisten haben alle das Recht auf ihre eigene Meinung und ihre Stimme.

    Eine Lösung kann nur im Dialog gefunden werden, welcher gegenseitiges Verständnis voraussetzt. Dialog heisst nicht von vornherein Kompromiss, aber auch nicht Sturheit. Im Dialog ist das Hören wichtiger als das Reden. Demonstrationen und Gegendemonstrationen sind kein Dialog.

    Abtreibung ist ein kontroverses Thema, das nur mit Liebe angegangen werden kann. Liebe zur Mutter, zum Kind, zum Mitmenschen, zum Leben, zum Andersdenkenden. Wie so Vieles im Leben.

    Unsere Gesellschaft ist weltanschaulich tief gespalten. Im Gegensatz zu den USA ist diese Spaltung weniger sichtbar, weniger gewaltbereit, weniger radikal, aber genauso vorhanden und bestimmend in unserem Zusammenleben.

    Wie zeigt sich diese Spaltung am Thema Abtreibung?

    Traditionell wird der Schutz des Lebens betont. Vor allem das ungeborene Kind, welches keine eigene Stimme hat, braucht diesen Schutz. Dazu kommt der Wille Gottes, dass jedes Leben schützenswert und jeder Mord verboten ist.

    Modern geht es um das individuelle Selbstbestimmungsrecht. Der Staat hat sich nicht einzumischen in meine persönlichen Angelegenheiten. Zusätzlich lässt sich mit Abtreibung doch Geld verdienen. Wie kann das schlecht sein?

    Postmodern geht es um die Gleichstellung von Minderheiten, insbesondere der Frau. Die durch das Patriarchat zur Gebärmaschine reduzierte Frau soll emanzipiert werden, auch durch das Recht, eigene Entscheidungen über ihren Körper fällen zu dürfen, ohne auf Spass verzichten zu müssen.

    Alle diese Gründe und Betrachtungsweisen haben ihre Berechtigung und ihre Auswüchse. Solange diese drei Weltanschauungen einander Berechtigung und Wert absprechen, werden wir immer eine oder zwei Bevölkerung links liegen lassen.

    Die Lösung eines paradoxen Problems mit sich widersprechenden Bedürfnissen kann nur integral gelöst werden. Und wieder landen wir bei der Liebe. Oder, für den modernen Menschen etwas weniger gefühlsduselig definiert, beim unbedingten gegenseitigen Verständnis.