Exodus als Lebensgeschichte

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Ich will euch das fruchtbarste Gebiet Ägyptens geben und ihr sollt das Beste essen, was es im Land gibt!

Gen 45:18

Geht es bei der Exodus-Erzählung um das Volk Israel? Natürlich, der Exodus ist identitätsstiftend für Israel.

Und doch ist die Erzählung noch heute ausserordentlich wichtig und prägend.

Denkt mal an die Sklaven in der USA: „Go down, Mose“ bis „Joshua fought the battle of Jericho“ half ihnen und gab ihnen Mut. Ein Gott, der die Hilfeschreie von Sklaven hört und auf ihrer Seite steht. Und er sandte einen Abraham Lincoln, einen Martin Luther King.

Bevor in der Reformation das Individuum erkannt wurde, waren Geschichten oft zweischichtig und beinhalteten gleichzeitig historische Gemeinschaftserlebnisse als auch individuell anwendbare Prinzipien.

Dies ist besonders der Fall in der Geschichte des Exodus.

Der Weg Israels in die Freiheit kann Dein Weg in die Freiheit sein.

Der Weg Israels war lang – 40 Jahre. Vielleicht ist Dein Weg der Identitätsfindung auch lang. Denn wir tendieren dazu, mehrere Male um den Berg herum zu ziehen.

15 Stationen sind es, auf die keiner verzichten kann – nur vorzeitig abbrechen. Die meisten Menschen werden über die ersten paar Stufen nie hinauskommen, sofern sie den Weg überhaupt beginnen. Normalerweise ist in Ägypten Schluss, auch wenn wir ständig davon reden, als Gemeinde jetzt ins verheissene Land zu gehen.

Zuflucht in Ägypten

Der Mensch sucht Zuflucht in Ägypten wegen einer Hungersnot. Wir suchen einen Ort, wo wir zu Hause sein können und versorgt werden.

Ich beginne hier mit dem Teil der Geschichte, weil Josef ein Bild für Jesus ist. Die Bekehrung hin zu Gott ist wunderbar dargestellt in den Begegnungen der Brüder mit Josef.

Was dies aber auch zeigt: die Gemeinde ist nicht das verheissene Land.

Und ja, die Bibel selbst verwendet Ägypten als das Land der Sünde, der Ort, aus dem wir befreit wurden. Für mich ist es ein sowohl, als auch, kein entweder, oder. Beide Bilder haben Bestand.

Beherrschende Macht

Unser Zufluchtsort wird aber über die Zeit hinweg eine beherrschende Macht, die unsere Entwicklung verhindern kann.

Aus dieser Abhängigkeit müssen wir raus, denn in der Fronarbeit leben wir die Vorgaben anderer. Pharao steht für alle, die uns aufhalten möchten. Unsere Wertsysteme sind übernommen, und wir sind abhängig.

Es geht um Gehorsam, Unterordnung, Hingabe, Fleiss.

Was Dir bis jetzt Halt gegeben hat, hält Dich auf.

Schrei nach Hilfe

Für Entwicklung braucht es aber den Leidensdruck.

Manchmal merken die Fronarbeiter, dass das Leben an ihnen vorbei geht. Man opfert die eigenen Wünsche dem Gehorsam, den Regeln der Gemeinde.

Man wird gelebt.

Der Dornbusch

Hier begegnen wir Gott. Nicht dem Gottesbild der Religion oder der Gemeinde, sondern ganz persönlich dem „Ich bin“. Ich bin für Dich da, wie der Name Gottes auch übersetzt werden kann.

Gott sagt uns: „Ich bin der Einzige, der von Dir Besitz ergreifen kann, ohne Dich zu gängeln. Ich bin kein Pharao.“

Also raus aus Ägypten in ein weites Land, nicht in die Enge. Gott befreit Dich.

Die Verhandlung

Jetzt treten wir in Verhandlung mit den Autoritäten, die uns bisher beherrscht hatten.

Die geben aber nicht nach. Da geschieht nicht viel.

Ihre Vorwürfe sind vielfältig. Glaubst Du nicht mehr, was wir glauben? Genügt Dir nicht mehr, was wir haben?

Die Plagen

Und Du wirst zur Plage. Du glaubst nicht mehr unbedingt, was Dir vorgesetzt wird. Zuviel erkennst Du als ziemlich leere Phrase, viel mehr aber als gedankenlos Übernommenes mit wenig Relevanz für die heutige Zeit.

Der Weggang

Du kannst Ägypten nicht verändern, nur verlassen. Und zwar nicht stolzen Ganges, sondern meist heimlich. Es ist eine Flucht.

Die ägyptische Bevölkerung versteht das nicht, denn in Ägypten haben wir ja alles. Denk nur an die Lauchtöpfe.

So sagt es Franz Kafka in der Parabel „Der Aufbruch“:

Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeutete. Er wusste nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: »Wohin reitet der Herr?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich, »nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.« »Du kennst also dein Ziel«, fragte er. »Ja«, antwortete ich, »ich sagte es doch: ›Weg-von-hier‹ – das ist mein Ziel.« »Du hast keinen Essvorrat mit«, sagte er. »Ich brauche keinen«, sagte ich, »die Reise ist so lang, daß ich verhungern muß, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Essvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.«

Die Verfolgung

Noch befindest Du Dich im Einflussbereich des Pharao.

Deine innere Polizei verfolgt Dich, denn Du wurdest über Jahre geprägt.

Es kommen Orientierungslosigkeit, Verlustängste, Gedanken des Abfalls. Bin ich noch auf dem richtigen Weg? Und warum bin ich so allein?

Das Wasser

Wasser ist der Grundstoff des Lebens: es verschlingt und gebiert.

Da muss Du durch. Denn ein Zurück gibt es nicht.

Mit eigener Kraft kannst Du das nicht, und darum hast Du nachher auch nicht das Gefühl, es selber geschafft zu haben.

Jetzt hast Du Dich abgenabelt.

Das Jubellied

Mirjam singt das Lied. Freiheit, das eigene Leben. Hier geht es nicht um Bekehrung, nicht um Taufe. Es geht darum, Oberflächliches loszuwerden, Abhängigkeiten abzuschütteln.

Aber jetzt geht es erst los.

Jetzt wird es schwierig, denn nun musst Du selber denken.

Die Wüste

Keine Orientierung, keine einzelnen Bibelverse, die Dir alles erklären. Die Interpretationen, die so oberflächlich sind, und oft so falsch.

Niemand sagt Dir mehr, was Du machen sollst.

Niemand lenkt Dich mehr ab. Kein schon für Dich gefüllter Kalender. Keine Predigten, die Dir alles vorkauen. Nur Du und Gott.

Mangel macht reif.

Die Amalekiter

Jetzt kommen die Menschen, gegen die wir uns verteidigen müssen. Jetzt heisst es, zu dem zu stehen, was Du in der Wüste gelernt hast.

Das ist keine Überheblichkeit, keine Rechtfertigung, keine Rebellion.

Du hast die Pflicht, den Raum einzunehmen, den Gott Dir zugedacht hat.

Die Gebote

Die Gebote als absolut einfache Vermeidungsmoral, welche nun reif angewendet werden können. Nicht als Gesetz, nicht als Massstab. Nicht einmal als Ethik. Als Minimalstandard.

Sie richten sich an reife Menschen.

„Du sollst“ wird zu „Du wirst“. Du wirst nicht töten, und Du wirst keine anderen Götter haben. Automatisch, weil Du auf dem Weg bist.

Der Stier

Der goldene Stier hat Kraft und ist unabhängig. Dies musst Du überwinden. Bis jetzt hast Du die anderen überschätzt, jetzt Dich selbst.

Schliesslich hast Du den Weg bis hier geschafft. Nur wenige können das.

Reif ist aber, wer sich nicht gängeln lässt, auch nicht von sich selbst.

Das verheissene Land

Jetzt kommt die Frage: Bin ich den gut genug? Bin ich würdig, habe ich alles, was es braucht, um meine Berufung auszuleben?

Darauf kommt es nicht an: Gott wird Dich tüchtig machen.

Nichts ist planbar, nichts ist gerade, nichts ist einfach. Aber nur so kommt man in die Reife.

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