Existenzielle Hochbegabung

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Darf man das heute überhaupt noch sagen? Es gibt doch tatsächlich Menschen, die sind intellektuell hochbegabt.

Das geht so weit, dass diese Menschen nicht nur mehr und schneller denken als der Durchschnitt, sondern auf profunde Art anders.

Wie anders ist sehr schwer zu umschreiben, denn nicht alle Hochbegabten denken meines subjektiven Erlebens nach gleich.

Auch unter Hochbegabten gibt es diejenigen, die hauptsächlich mit der linken Hirnhälfte denken. Wie wir seit Iain McGilchrists Buch „The Master and his Emissary“ wissen, bedeutet das nicht, dass sie theoretischer und weniger kreativ denken:

Eine Art, den Unterschied zu betrachten, wäre zu sagen, dass die linke Hemisphäre die Aufgabe hat, die Dinge auf eine Gewissheit einzugrenzen, während die rechte Hemisphäre sie auf Möglichkeiten hin öffnet. Im Leben brauchen wir beides.

Eine andere Art, den Unterschied zwischen den Hemisphären zu betrachten, besteht darin, dass die Welt der linken Hemisphäre zur Festigkeit, während die Welt der rechten Hemisphäre zum Fluss tendiert.

Auch wenn man Hochbegabten nachsagt, dass sie alles hinterfragen, so ist es immer wieder interessant, auch die dahinterliegende Motivation zu erkennen.

Einige werden Dinge hinterfragen, um sie besser in ihrer Vorstellung der Welt integrieren zu können, und sie tun dies meisterhaft.

Andere hinterfragen, weil sie ahnen, dass da mehr ist. Sie möchten losgelöst von Konventionen oder ihrem eigenen Weltbild tiefer gehen.

Aber fangen wir von vorne an.

Ich glaube, dass kein Gebiet der Persönlichkeit so gut erforscht ist wie die kognitive allgemeine Intelligenz. Es gibt normierte Intelligenztests, die aufzeigen, dass die Menschheit sich aufgrund der Ergebnisse in solchen Tests auf einer Gauss’schen Glockenkurve bewegt. Das heisst, dass die meisten Menschen einen durchschnittlichen Intelligenzquotienten (IQ) aufweisen, und an beiden Enden immer weniger vertreten sind.

Man kann also davon ausgehen, dass etwas mehr als ⅔ der Menschen einen IQ zwischen 85 und 115 aufweisen, bei einem Durchschnitt von 100. 2.1% liegen über 130, 0.1% über 145.

Menschen mit einem IQ über 145 nennt man Hochbegabte.

Soweit einmal die grundlegendste Theorie.

Die Postmoderne mit ihrer Angst vor Hierarchien hat in letzter Zeit mehrere andere sogenannte Intelligenzen erfunden, um es einem Jeden zu ermöglichen, irgendwo begabt zu sein.

Die Problematik dabei ist weniger die Existenz solcher Begabungen, sondern die Verwässerung und Angleichung des Begriffs. Intelligenz ist ein wissenschaftlich relativ klar und umgangssprachlich klar umrissener Begriff. Warum nennt man die anderen sogenannten Intelligenzen nicht Kompetenzen, Begabungen oder Fähigkeiten?

Es geht hier um Dinge wie kreative, existenzielle, emotionelle, sensorische oder physische Kompetenz.

Mich interessiert hier hauptsächlich die existenzielle Intelligenz oder eben Kompetenz.

Die existenzielle Kompetenz hat eine hohe und komplexe Konzentration auf Sinn, Werte, Ethik, Moral, ökologische Zusammenhänge und die Natur der Realität.

Wir können hier auch das Verständnis für das Spirituelle ansiedeln.

Wie bei der intellektuellen Intelligenz gibt es Menschen, welche eine hohe existenzielle Kompetenz aufweisen. Hochbegabt sind ungefähr 2% der Menschen.

Entgegen der Art der intellektuellen Intelligenz ist die existenzielle Kompetenz darauf angewiesen, dass die rechte Hirnhälfte extensiv verwendet wird.

Es geht hier ja um das grosse Bild, um die Realität, und nicht um das Abbild.

Wir können es so sagen: Spiritualität und Gottesbeziehung sind Sache der rechten Hemisphäre, fundamentalistische Religiosität und wörtliche Bibelauslegung Sache der linken.

Fragen und Weisheit stehen hier Gewissheit und Wissen gegenüber.

Wir können also getrost davon ausgehen, dass die meisten Pastoren in der traditionellen Gemeinde keine Ausreisser oder Überflieger in existenzieller Kompetenz darstellen.

Das ist übrigens wichtig und richtig. Nehmen wir Politiker: sie stellen ihrerseits keine Ausreisser in intellektueller Intelligenz dar. Wären Politiker intellektuell mehr als durchschnittlich begabt, würde der grösste Teil der Bürger sie nicht verstehen und sie würden nicht gewählt.

Die Forschung geht dahin, dass Menschen andere nur verstehen, wenn sie nicht mehr als ein bis zwei Abweichung über ihnen liegen. Das sind ungefähr 15-30 Punkte beim IQ. Ebenso können wir nur befriedigende herausfordernde Gespräche mit Menschen führen, die höchstens ein bis zwei Abweichungen unter uns liegen. Um eine Mehrheit der Menschen ansprechen zu können, sollte ein Politiker also höchstens einen IQ von 115-120 aufweisen. Das ist ungefähr Universitätsniveau.

Genauso ist es mit Pastoren. Wären sie existenziell hochbegabt, würden ihre Gemeindemitglieder ihnen nicht mehr folgen können.

Und so werden die durchschnittlich Begabten Pastoren. Das beruhigt die Gemeinde. Sie haben ein Beispiel, dem sie nachfolgen können. Und sie erhalten heute meist die Sicherheit der linken Hemisphäre geboten: „Es steht geschrieben. Ihr müsst es nur glauben.“

Und natürlich wäre es auch schwierig, wenn ein Pastor intellektuell begabt wäre. Aber das führe ich jetzt nicht weiter aus und überlasse es dem Leser, das anhand des Beispiels für Politiker durchzudenken.

Dazu kommt die Linkslastigkeit der Gemeinde – natürlich nicht politisch, sondern in Bezug auf die Hemisphären.

Wir haben also im Allgemeinen durchschnittlich begabte Gemeindeleiter, die die Karte mit dem Territorium verwechseln, oder so ausgedrückt, wie sie es verstehen: die Bibel mit dem Wort Gottes, den Buchstaben mit dem Geist. Ohne es selbst zu merken, weil die linke Hemisphäre nicht weiss, was sie nicht weiss. Und sie würden es nie zugeben.

Einige dieser Pastoren haben eine hohe soziale Kompetenz, was ja auch mit dem Begriff des Hirten übereinstimmt. Allerdings sind immer mehr von dem amerikanischen Trend überzeugt, dass der Pastor sich nicht zu stark mit seinen Schäfchen einlassen sollte, damit er seine Salbung nicht verliert. Damit setzen sie die Kompetenz, die sie hätten, nicht mehr ein.

Die anderen Ämter aber werden gar nicht mehr besetzt. Vom Propheten mit der hohen existenziellen Kompetenz, dem Lehrer mit der hohen intellektuellen und existenziellen Kompetenz zum Beispiel wird verlangt, dass sie sozial kompetent seien, einfach im Ausdruck, und sich der Karte, der Doktrin unterstellen, ohne zu fragen.

Doch wäre es genau das Modell der geteilten Führung, die es erlauben würde, begabte Personen in die Mitverantwortung zu nehmen. Dann müsste nicht jeder Hirte sein, nicht jeder Menschen bei der Umsetzung anleiten können wie der Apostel, oder Menschen das Evangelium erklären können wie der Evangelist. Diese Funktionen brauchen soziale Kompetenz. Und natürlich gibt es auch Lehrer mit durchschnittlicher Intelligenz und stark linkslastiger Betrachtungsweise der Welt.

Die Bibel zeigt uns zum Beispiel mit Elia einen sozial inkompetenten, existenziell hochbegabten Propheten.

Ich habe eine romantische Vorstellung: Priscilla und Aquila wurden von Paulus zur Seite genommen, weil Aquila eine intellektuelle und existenzielle Hochbegabung hatte, aber bei den Leuten nicht ankam. Paulus lehrte die beiden soziale Kompetenz, und Priscilla lernte zu übersetzen, was Aquila den Menschen predigte. Das steht so nicht in der Bibel und ist wohl eher autobiographisch motiviert.

Aber Paulus war mit Sicherheit hochbegabt. Darum hat Petrus ihn schwer verständlich und kompliziert genannt. Wir sehen das heute noch in seinen griechischen Schachtelsätzen und seiner Fähigkeit, eine schlüssige Theologie zu erstellen.

Ich bin mit bewusst, dass die Gemeinde Leiter braucht, die sie versteht.

Heute allerdings weigern sich diese, mit Menschen mit Hochbegabung zusammenzuarbeiten. Beide Seiten würden davon profitieren.

Die Administratoren haben die Gemeinde übernommen. Sie haben die spirituellen Menschen hinaus gedrängt und entschieden, sie nicht mehr zu brauchen. Sie verwalten die Tradition und den Glauben. Sie nennen es nicht so. Sie nennen es bewahren.

Das war es nicht, was Jesus meinte, als er fragte, ob er noch Glauben finden würde, wenn er wiederkäme.

Glaube ist Zweifel, nicht Sicherheit. Glaube ist Vertrauen, nicht Wissen.

Um zu Glauben braucht es keine existenzielle oder intellektuelle Hochbegabung. Menschen mit Hochbegabung können aber den Pfad beschreiben. So hat Gott einem Jeden seine Begabung gegeben.

Ich wünsche mir, dass wir alle Begabungen achten. Ohne Angst und Minderwertigkeitsgefühle.

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