Muss die Kirche sich verändern?

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Die Freikirche wird in der Schweiz immer mehr zu einem Anachronismus, zu einem Asyl für die Ewiggestrigen, wenigstens in der Aussenbetrachtung.

Und die Zahlen unterstützen dies:

  • Weniger als drei Prozent der Bevölkerung besuchen heute noch regelmässig einen Gottesdienst, und das umfasst neben den christlichen Kirchen auch Moscheen und andere Kultusstätten.
  • Laut der Sinus-Millieu-Studie für die reformierte Kirche Zürich sind es vor allem traditionell denkende, schlechter verdienende Menschen, die Gruppe der sogenannten genügsamen Traditionellen, die noch an Gottesdiensten teilnehmen, und das auch nur noch zu rund dreissig Prozent, bei einem Bevölkerungsanteil von neun Prozent.

Interessanterweise hat sich der Trend durch Corona nicht verändert. Während nach dem 11. September mehr Leute in die Gottesdienste strömten, wenn auch nur kurzfristig, so ist dieser Effekt in der Pandemie nicht sichtbar. Und der Teil, der sich Gottesdienste nun via Internet-Streaming anschaut, macht die Zahlenverluste bei den Besuchern bei Weitem nicht wett.

Ist die Gemeinde also ein Auslaufmodell und muss sie sich verändern, um gesellschaftlich wieder relevant zu werden? Oder ist dieser Zug abgefahren?

Das heutige Modell

Die Gemeinde glaubt daran, dass es ein Lebensmodell gibt, welches uns sowohl gesegnet durch dieses Leben, aber viel mehr noch in ein wunderbares ewiges Leben führt.

Ganz treu der traditionellen Denkart sehen sie Pflichterfüllung, Ordnung, Gehorsam und Unterordnung als wichtige Elemente dieses Lebensstils.

Und so ergibt sich aus der biblischen Vorlage ein Idealbild für einen Christen, dem sich jeder anzunähern hat. Dies kann er nun nicht allein, sondern er braucht die Hilfe Jesu und der Gemeinde dazu. Wir nennen das: wie Jesus werden.

Dies erinnert mich an die Geschichte von Herr Keunert von Berthold Brecht:

Wenn Herr K. einen Menschen liebte

„Was tun Sie,“ wurde Herr K. gefragt, „wenn Sie einen Menschen lieben?“ „Ich mache einen Entwurf von ihm“, sagte Herr K., „und sorge, dass er ihm ähnlich wird.“ „Wer? Der Entwurf?“ „Nein“, sagte Herr K., „Der Mensch.“

Ebenso glaubt die Gemeinde an die absolute Wahrheit, welche sich in Jesus manifestiert und in der Bibel fehlerfrei wiedergegeben wird.

Ist die Wahrheit aber absolut, gilt sie also für alle und für alle gleich, und nehmen wir dazu noch den Missionsbefehl, dann muss das Ziel sein, alle Menschen zu einem Lebensentwurf zu bewegen, der dieser Wahrheit entspricht. Wir nennen das Evangelisation.

Und weiter ergibt sich daraus natürlich die Aufgabe, dass der Staat die Menschen vor sich selber schützen soll, solange sie selbst dieser Wahrheit nicht verpflichtet sind, sich also nicht bekehrt haben.

Und so möchten wir, dass die Gesetze des Landes biblische Werte reflektieren.

Es gibt jetzt aber drei Probleme.

Ein Lebensmodell?

Wir Menschen haben in der Zwischenzeit erkannt, dass wir Individuen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten sind, und zwar von Geburt an. Wir sind nicht introvertiert, weil die Sünde uns dazu gebracht hat, sei es durch Übergriffe anderer oder eigene Verfehlungen.

Die Frage „Wer ist Schuld, der Blinde oder seine Eltern“ passt hier nicht. Introversion, Hochsensibilität, Neurodiversität, eine starke Intuition, überstimmulierbares Denken oder einfach ein hoher Intellekt, und eine wissbegierige, forschende, fragende Persönlichkeit sind keine Folgen der Sünde.

Ein Entwurf für alle greift viel zu kurz, ist manipulativ und manchmal sogar übergriffig. Das war noch nicht so, als wir noch kein Verständnis für das Individuum hatten und der Mensch sich noch als Teil einer Gemeinschaft und nur das verstand. Doch dies ist seit der Reformation für die meisten Menschen Geschichte.

Eine Wahrheit?

Wir haben ebenfalls erkannt, dass, selbst wenn eine absolute Wahrheit existiert, wir sie alle anders verstehen. Wir sind alle geprägt von unserer Vergangenheit, haben unterschiedliche Persönlichkeiten, verstehen Worte ganz leicht anders, ja können nicht einmal sagen, ob wir unter gewissen Dingen überhaupt dasselbe verstehen. Oder weisst Du, ob ein anderer die Farbe rot genau so sieht und empfindet wie Du?

Wenn wir also die Bibel lesen, ist unsere Interpretation subjektiv. Das war auch für die Übersetzer so, sonst gäbe es nicht so viele deutsche Bibelübersetzungen. Und das könnte bereits für die Schreiber und Kopierer der originalen Schriften so gewesen sein, sonst gäbe es kaum so viele abweichende griechische Texte. Sowohl die Textkritik als auch die Psychologie sagen uns also, dass unsere Wahrheit bestenfalls eine persönlich, kulturell und zeitgeschichtliche Auslegung und nicht das absolute Wort Gottes ist.

Eine Moral?

Drittens lehrt uns bereits die Bibel, dass Gesetze nicht funktionieren. Keiner wird gerettet durch Gesetze.

Ja, Gesetze sind da für die Gottlosen, und insofern dürfen wir gerne dafür sorgen, dass unser Land einen Gesetzeskorpus hat, der sich an den biblischen Werten orientiert.

Aber Gott lädt ein, er zwingt nicht. Wir können niemanden zwingen, die moralischen Standards der Bibel zu befolgen.

Ja, für Kinder

Wir können allerdings unsere Kinder erziehen.

Gott selber hat das Volk Israel im alten Testament mit Hilfe des Gesetzes erzogen. Aber als die Zeit gekommen war, sandte er seinen Sohn.

Die oben genannten Methoden entsprechen dem Denken eines Kindes. Ein Kind braucht ein Vorbild, einen Lebensentwurf, einen Rahmen, in den es sich hinein entwickeln kann.

Ein Kind braucht die Sicherheit einer eindeutigen Wahrheit.

Aber spätestens in der Pubertät braucht es etwas Neues: Unterstützung, um sich selbst zu finden. Erst in äusserer Schaffenskraft, dann in der Persönlichkeitsentwicklung.

Das Menschenbild der Gemeinde ist gut für ein Kind. Die Rechtfertigung, dieses auf Erwachsene zu übertragen, wird aus dem Vers genommen: „wenn ihr nicht werdet wie die Kinder …“.

Diese Überlegungen bringen mich dazu, die Gemeinde als geeignet zu sehen für Kinder und Kindgebliebene. Damit meine ich Menschen, die sich davor fürchten, den nächsten Schritt zu machen, Individuen zu werden, Menschen, die die Sicherheit einer absoluten Wahrheit, eines Gesetzes und eines vorgefertigten Lebensentwurfs brauchen, um zu überleben.

Und diese Menschen wird es immer geben. Für diese Menschen wird die Gemeinde immer da sein. Es werden immer weniger werden, denn die Kinder der Kirchenfernen, die Altersgruppe, die ein solches Modell brauchen könnten, finden Alternativen, denn sie kennen die Gemeinde nicht.

Entwicklung

Erst wenn Christen neue Gefässe der Gemeinschaft wie Arbeitsgruppen, Arbeitsgemeinschaften, Selbsthilfegruppen, Meditationszirkel, Coaching und Mentoring, Communities im Internet usw. anbieten, um Gott den Menschen und den Menschen Gott nahe zu bringen, werden diese ihren Nachwuchs wieder in solche traditionellen Gemeinden schicken.

Was sich an diesen Gemeinden ändern wird: sie werden ihre Mitglieder freudig loslassen, wenn diese sich weiter entwickeln.

Das ist die Veränderung, die die Gemeinde durchlaufen muss, mit all den Konsequenzen auf Lehrinhalt und Methoden, die dies haben wird.

Sind wir bereit dazu?

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